VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 06.08.2015 - 29 K 73.15 V (= ASYLMAGAZIN 1-2/2016, S. 51 f.) - asyl.net: M23300
https://www.asyl.net/rsdb/M23300
Leitsatz:

Eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung, die keine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt, darf nur erteilt werden wenn dies durch zwischenstaatliche Vereinbarung bestimmt ist oder wenn aufgrund einer Rechtsverordnung die Erteilung der Zustimmung zu einer Aufenthaltserlaubnis für diese Beschäftigung zulässig ist.

Die zuständige Behörde verfügt bei der Prüfung der Visa-Anträge über einen weiten Beurteilungsspielraum, da sie die erforderlichen Landeskenntnisse besitzt und sich vor Ort über die eingereichten Unterlagen und Angaben der Visumantragstellerin einen sachkundigen Eindruck verschaffen kann.

Schlagwörter: nationales Visum, Freiwilligendienst, Sicherung des Lebensunterhalts, Bundesfreiwilligendienst, Bundesfreiwllligendienstgesetz, Rückkehrbereitschaft, zustimmungsfreie Beschäftigung,
Normen: BeschV § 14 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 18 Abs. 3, AufenthG § 18 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist teilweise begründet. Die Ablehnung des Visumantrages ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. §§ 113 Abs. 5 VwGO). Sie hat einen Anspruch Neubescheidung ihres Antrags vom 26. Januar 2015 auf Erteilung des begehrten Besuchsvisums zur Durchführung eines Freiwilligendienstes (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Denn die Klägerin hat keinen bindenden Anspruch auf Erteilung des Visums, so dass die Beklagte nicht nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu der Vornahme dieser Amtshandlung zu verpflichten ist.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anspruchs der Klägerin auf Erteilung eines Visums ist der Tag der Entscheidung durch das Gericht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 20. Auflage, 2014, § 113 Rn. 217 ff.). Rechtsgrundlage für die Erteilung des begehrten Visums ist § 18 Abs. 3 und 2 AufenthG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Nr. 1 BeschV. Nach § 18 Abs. 3 AufenthG darf eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung nach Abs. 2, die keine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt, nur erteilt werden wenn dies durch zwischenstaatliche Vereinbarung bestimmt ist oder wenn aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 42 die Erteilung der Zustimmung zu einer Aufenthaltserlaubnis für diese Beschäftigung zulässig ist. Die Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage sind gegeben (vgl. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage, 2014, S.131 f.). Ein konkretes Arbeitsplatzangebot der Bundesrepublik Deutschland für einen Freiwilligendienst nach dem BFDG liegt hier vor. Es handelt sich um eine unselbstständige Beschäftigung. Eine qualifizierte Berufsausbildung ist für die Freiwilligendienst nicht notwendig. Es handelt sich um eine zustimmungsfreie Beschäftigung nach den Vorschriften des § 18 Abs. 2 Var. 3 AufenthG i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 BeschV.

Zu den speziellen Voraussetzungen der genannten Rechtsgrundlage müssen jedoch auch die allgemeinen Voraussetzungen des §§ 5 Abs. 1, 2 AufenthG gegeben sein (vgl. VG Bayreuth, Urteil vom 18. März 2015 – B 4 K 14.869 – Rn. 16 ff., juris; VG Bayreuth, Beschluss vom 29. Januar 2015 – B 4 S 14.868 – Rn. 27 ff., juris). Insbesondere ist der Lebensunterhalt der Klägerin nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesichert. Denn eine Unterkunft wird der Klägerin kostenlos bereitgestellt bzw. von der Bundesrepublik Deutschland bezahlt. Der Betrag von insgesamt 424 €, den sie zusätzlich als Taschengeld und für Verpflegung erhält, liegt über dem Regelsatz für Alleinstehende nach § 20 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – SGB II i. V. m. der Tabelle nach § 20 Abs. 5 Satz 3 SGB II in Höhe von 399 €.

Zu den allgemeinen Voraussetzungen gehört jedoch auch § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, wonach ein Aufenthaltstitel in der Regel voraussetzt, dass soweit kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht – was hier der Fall ist, da § 18 Abs. 3 und 2 AufenthG in der Rechtsfolge Ermessen vorsehen – der Aufenthalt der Ausländerin nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet. Voraussetzung hierfür ist bei einem vorübergehenden Aufenthalt, dass die Klägerin eine Rückkehrbereitschaft hat (vgl. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage, 2014, S. 94; Dienelt, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage, 2013, § 5 Rn. 67).

Ob eine Rückkehrbereitschaft vorliegt, ist hier offen und von dem Beklagten unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen neu zu beurteilen. Verlangt wird von der zuständigen Behörde nicht, Gewissheit zu erlangen, dass die Antragstellerin beabsichtigt, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. Sie hat vielmehr festzustellen, ob begründete Zweifel an dieser Absicht bestehen. Zu diesem Zweck muss sie eine individuelle Prüfung des Antrags vornehmen, in der sie zum einen die allgemeinen Verhältnisse im Wohnsitzstaat der Klägerin und zum anderen ihre persönlichen Umstände, insbesondere ihre familiäre, soziale und wirtschaftliche Situation, etwaige frühere rechtmäßige oder rechtswidrige Aufenthalte in einem Mitgliedstaat sowie ihre Bindungen im Wohnsitzstaat und in den Mitgliedstaaten berücksichtigt. Es obliegt dabei der Klägerin, Unterlagen vorzulegen, anhand derer ihre Rückkehrabsicht beurteilt und etwaige Zweifel entkräftet werden können, die u.a. durch die allgemeinen Verhältnisse in ihrem Wohnsitzstaat oder allgemein bekannte Migrationsbewegungen zwischen diesem Staat und den Mitgliedstaaten ausgelöst werden können (vgl. zu alledem: EuGH, Urteil v. 19.12.2013 – Rs. C-84/12, NVwZ 2014, 289 [292]; ferner OVG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 20.06.2014 – OVG 11 B 13.14, juris).

Die zuständige Behörde verfügt bei der Prüfung der Visa-Anträge über einen weiten Beurteilungsspielraum, da sie die erforderlichen Landeskenntnisse besitzt und sich vor Ort über die eingereichten Unterlagen und Angaben der Visumantragstellerin einen sachkundigen Eindruck verschaffen kann. Dieser bezieht sich sowohl auf die Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschriften als auch auf die Würdigung der Tatsachen, die für die Feststellung maßgeblich sind, ob der Klägerin ein solcher Verweigerungsgrund entgegengehalten werden kann (vgl. EuGH, a.a.O.). Der Beurteilungsspielraum der Behörde, den der Europäische Gerichtshof konstatiert hat, bedeutet eine Einschränkung der Kontrolle durch das nationale Gericht. Soweit die behördliche Entscheidung danach auf wertenden Betrachtungen beruht, ist die gerichtliche Kontrolle beschränkt auf die Prüfung, ob die Behörde von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist, den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).

Gemessen daran hat die Beklagte das begehrte Visum hier zu Unrecht versagt, weil sie ihrer Beurteilung einen unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Die Beklagte hat die persönlichen Umstände der Klägerin nicht vollständig berücksichtigt. Sie ist in keiner Weise darauf eingegangen, dass die Klägerin in Kenia mit ihrem Vater zusammenlebt und vorträgt, diesen bei fortschreitendem Alter und fortschreitender Krankheit pflegen zu wollen. Diese Tatsache hätte bei der Beurteilung der familiären Verwurzelung der Klägerin in ihrem Heimatland zwingend berücksichtigt werden müssen. Des Weiteren hat die Beklagte völlig unberücksichtigt gelassen, dass die Klägerin ihre Großmutter über mehrere Jahre gepflegt hat. Dieser Umstand ist für die Beurteilung der Motivation der Klägerin von erheblicher Relevanz. Entgegen der Auffassung der Beklagten spielt es keine Rolle, dass diese Tatsache erst im Klageverfahren vorgetragen wurde, denn – wie oben dargelegt – ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anspruchs der Klägerin auf Erteilung eines Visums die Entscheidung durch das Gericht. Daraus folgt, dass die Beklagte ihren Vortrag auch bei von der Klägerin erst im Klageverfahren angeführten relevanten Tatsachen zu aktualisieren und zu ergänzen hat. Schließlich hat die Beklagte fehlerhaft nicht in ihre Beurteilung eingestellt, dass die Klägerin vorträgt, nach ihrer Rückkehr eine Tätigkeit als Hilfsschwester Pflegebereich aufnehmen zu wollen. Auch dieser Umstand ist für die Beurteilung der Rückkehrabsicht von Relevanz. Darüber hinaus lässt die Beurteilung der Beklagten jegliche Ausführungen zu den allgemeinen Verhältnissen im Wohnsitzstaat der Klägerin vermissen. Die Beklagte setzt sich lediglich mit der Krankenschwesterausbildung in Nairobi auseinander; sie ist auch damit den oben genannten Anforderungen nicht gerecht geworden.

Der Beklagte hat unter Einbeziehung aller relevanten Umstände des Einzelfalls und insbesondere unter Einbeziehung der o.g. nicht berücksichtigten Tatsachen erneut über die Zuerkennung eines Visums zur Ableistung des Freiwilligendienstes zu bescheiden. Es sprechen gute Gründe für die Erteilung eines Visums gegenüber der Klägerin.

Allerdings ergibt sich kein zwingender Anspruch der Klägerin auf die Erteilung des entsprechenden Visums, da eine Beurteilungsreduktion auf Null hier nicht ersichtlich ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 20. Auflage, 2014, § 113 Rn. 207); die von der Beklagten nicht berücksichtigten Tatsachen führen nicht zwingend zur Erteilung eines Visums. [...]