VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 06.10.2015 - 4 K 1658/14.DA.A - asyl.net: M23219
https://www.asyl.net/rsdb/M23219
Leitsatz:

Maßnahmen der eritreischen Sicherheitsbehörden, durch die die Mutter eines Deserteurs in Mithaftung genommen wird, sind nicht als politikfreie Strafverfolgung einzuschätzen, sondern als politische Verfolgung.

Schlagwörter: Eritrea, politische Verfolgung, Desertion, Sippenhaft, Militärdienst, Nationaler Dienst, Politmalus, Familienangehörige, Deserteur,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung des Inhalts der Akten der Beklagten und des Vorbringens der Klägerin im gerichtlichen Verfahren geht das Gericht davon aus, dass die glaubhaft vorgetragenen Verfolgungshandlungen eritreischer staatlicher Stellen gegenüber der Klägerin nicht, wie dies die Beklagte im angefochtenen Bescheid meint, rein dem legitimen Kriminal-Strafverfolgungsinteresse des Staates entsprechen, sondern politisch motiviert sind, einen Politmalus aufweisen. Nachdem der Zeitpunkt der Desertation schon mehrere Jahre lang zurücklag, kamen immer wieder Sicherheitskräfte und verhafteten die Klägerin kurzzeitig und bedrohten und bedrängten sie. Schließlich forderten sie von ihr auch die - für eritreische Verhältnisse und die Situation einer kleinen Lebensmittelhändlerin wie der Klägerin enorme - Summe von 50.000 Nakfa, damit sie den Aufenthaltsort ihres desertierten Sohnes preisgab bzw. diesen dazu brachte, sich den Militärbehörden zu stellen.

Kennzeichnend für die Einstufung dieser Handlung als politische Verfolgung ist insgesamt der übermäßig große Stellenwert, den der eritreische Staat und ihm insoweit folgend auch ein Großteil der Bevölkerung dem Militärdienst und allem Militärischen beimessen. Alle Gruppen der Gesellschaft (auch Frauen) müssen ihren Militärdienst ableisten und werden insoweit gleich behandelt wie Männer. Sowohl Wehrdienstverweigerung als auch Fahnenflucht sind - wie in vielen anderen Staaten dieser Welt auch - strafrechtlich sanktioniert (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15. Oktober 2014). Die auch nach dem Ende des Grenzkrieges zwischen Äthiopien und Eritrea fortbestehende allgemeine Mobilmachung dauert an und selbst ab Juli 2005, also noch mehrere Jahre nach Friedensschluss, führte die eritreische Regierung großangelegte Militärrazzien durch, um männliche und weibliche Jugendliche festzunehmen und zwangsweise zum Militärdienst einzuziehen (amnesty international, Gutachten vom 31. August 2005, zitiert nach Länderanalyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 20. April 2006). So erhielten auch ab 2003 alle Schüler ... dann ihr Oberstufen-Abschlusszeugnis, wenn sie in der 12. Klasse ihre Wehrpflicht in zentralen Ausbildungslager in Sawa abgeleistet hatten (vgl. ebenda und Lagebericht vom 15. Oktober 2015). Schließlich ist die eritreische Regierung sogar dazu übergangen, Verwandte von Jugendlichen in Haft zu nehmen, die sich ihrer Wehrpflicht durch Flucht entziehen (vgl. ders. Lagebericht).

Vor diesem Hintergrund der militärspezifischen Situation in Eritrea ist die Gefährdungslage der Klägerin im Fall ihrer Rückkehr in ihr Heimatland zu bewerten. Durch das eigenmächtige Verlassen seiner militärischen Einheit hat ihr Sohn den Straftatbestand der Fahnenflucht verwirklicht und sich aus Sicht der eritreischen Regierung nicht nur als Straftäter, sondern auch darüber hinaus als jemand zu erkennen gegeben, der sich gegen das gegenwärtige Regime stellt, sich quasi als Systemgegner gezeigt. Von dieser negativen Einschätzung ist auch die Klägerin als seine Mutter erfasst und solange sie den Behörden nicht Auskunft über den Verbleib des Sohnes gibt oder - noch besser - ihn herbeischafft, erscheint sie ebenfalls als Systemgegnerin. Durch ihr Verhalten zeigt sie deutlich, dass sie nicht loyal zum Staat und dem Militärwesen in Eritrea steht, sondern dieses quasi ebenfalls bekämpft, indem sie ihren Sohn vor dem Zugriff der Sicherheitsbehörden schützt, sei es indem sie seinen Aufenthaltsort nicht preisgibt, sei es dass sie ihn nicht herbeischafft.

Die immense Bedeutung, die die eritreischen Sicherheitsbehörden diesem im Grunde genommen schon vor einigen Jahren abgeschlossenen Vorfall der Desertionen des Sohnes der Klägerin beimessen, wird deutlich an den wiederholten kurzzeitigen Verhaftungen und vor allem der enormen und von der Klägerin nicht aufzubringenden Geldsumme von 50.000 Nakfa, mit der sie sich offenbar freikaufen kann. Mit politikfreier Verfolgung von Kriminalstrafrecht wegen der Fahnenflucht des Sohnes der Klägerin hat dieses Verhalten der eritreischen Sicherheitsbehörden, die die Mutter des Straftäters in Mithaftung nehmen, nichts zu tun.

Hinzu kommt, dass die eritreischen Behörden ihren politischen Druck auf die Klägerin zuletzt noch verstärkt hatten, als sie ihr die Rations-/Lebensmittelkarte entzogen. Damit hatten die politisch motivierten Pressionen eritreischer Stellen gegen die Klägerin ein Ausmaß erreicht, bei dem die Klägerin keinen Ausweg mehr als die Flucht über die Grenze sah.

Dadurch verstärkte die Klägerin dann noch ihren Eindruck als Systemgegnerin. Die eritreischen Behörden werten die Ausreise ohne ein hierzu berechtigendes Visum als Republikflucht, was ebenfalls die Gegnerschaft zum dort herrschenden System belegt. Nach allem war unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheids auszusprechen, dass der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. [...]