VG Augsburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Augsburg, Beschluss vom 23.09.2015 - Au 3 E 15.1306 - asyl.net: M23206
https://www.asyl.net/rsdb/M23206
Leitsatz:

Lässt sich eine verlässliche Klärung des Alters nicht gleich herbeiführen, so hat das Jugendamt im Zweifel, also dann, wenn das Vorliegen von Minderjährigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII anzuordnen, bis das tatsächliche Alter des Betroffenen festgestellt ist.

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, minderjährig, Altersfeststellung, Inobhutnahme, Vormundschaft, örtliche Zuständigkeit, Bindungswirkung, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung,
Normen: SGB VIII § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, SGB VIII § 42 Abs. 3 Satz 4, BGB § 1774, BGB § 1775, BGB § 1779 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Gesetzgeber hat die (Erst-)Versorgung und Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII primär den Jugendämtern zugewiesen (vgl. BVerwG, U. v. 8.7.2004 - 5 C 63.03 – ZfJ 2005, 23 [25] BayVGH. B.v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131; Wiesner, SGB VIII, § 42 Rn. 17; Peter, JAmt 2006, 60 [61]). Er trägt damit der UN-Kinderrechtskonvention Rechnung, die eindeutig verlangt, dass unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bzw. Asylsuchenden der gleiche staatliche Schutz zu gewähren ist wie deutschen Kindern (vgl. insbes. Art. 3 Abs., Art. 20, 22 u. 32 ff.; BayVGH. B. v. 23.9.2014 a.a.O.).

Die Vorschrift des § 42 SGB VIII wird durch die Regelungen des Asylrechts nicht verdrängt (vgl. BVerwG, U.v 24.6.1999 - 5 24.98 - BVerwGE 109, 155; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. 2013, § 42 Rn. 16 f. m.w.N.). Die Verpflichtung des Jugendamtes, unbegleitete Minderjährige nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut zu nehmen, gilt unabhängig davon, ob die Betroffenen in Ausübung ihrer Handlungsfähigkeit bereits einen Asylantrag gestellt haben (vgl. BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131 m.w.N.). Nimmt das Jugendamt einen unbegleitet eingereisten, sechzehnjährigen Asylantragsteller in Obhut, so ist dieser verpflichtet, in einer Einrichtung der Jugendhilfe zu wohnen. Die zuvor mit der Asylantragstellung begründete Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einer Aufnahmeeinrichtung (vgl. § 47 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 u. 2 Nr. 3 AsylVfG) entfällt (vgl. § 48 Nr. 1 AsylVfG bzw. § 47 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Alt. 5 AsylVfG). Unbegleitet eingereiste Minderjährige unter 16 Jahren unterliegen demgegenüber aufgrund der Systematik des Asylverfahrensrechts von vornherein keiner Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einer Aufnahmeeinrichtung (vgl. § 47 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG). Eine "Kollision" zwischen Asylverfahrensrecht einerseits und Achtem Buch Sozialgesetzbuch andererseits besteht daher in Wahrheit nicht (vgl. Wiesner, SGB VIII, § 42 Rn. 17 f.). Vielmehr treten die Bestimmungen über die Wohnpflicht nach dem Asylverfahrensgesetz im Fall einer auf der Grundlage des Achten Buchs Sozialgesetzbuch verfügten Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung kraft gesetzlicher Anordnung zurück (vgl. § 48 Nr. 1 AsylVfG bzw. § 47 Abs. 1 i.V. m. § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Alt. 5 AsylVfG; zum Ganzen BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131 m.w.N.).

Durch die in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII getroffene Regelung hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass unbegleitet eingereiste Minderjährige nicht in asylrechtlichen Aufnahmeeinrichtungen (§ 44 AsylVfG) oder Gemeinschaftsunterkünften (§ 53 AsylVfG) untergebracht werden (vgl. Peter, JAmt 2008, 60). Dies allein entspricht zugleich den Anforderungen des Art. 20 UN-Kinderrechtskonvention; nach dieser Bestimmung haben Kinder, die das 18. Lebensjahr nach nicht vollendet haben (vgl. Art. 1 UN-Kinderrechtskonvention) und aus ihrer familiären Umgebung herausgelöst sind, Anspruch auf besonderen staatlichen Schutz und Beistand (vgl. BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131). Dieser ist durch eine kindgerechte Betreuung in einer Pflegefamilie oder in einer geeigneten Kindertreuungseinrichtung sicherzustellen. Eine solche ist in einer asylrechtlichen Aufnahmeeinrichtung regelmäßig nicht gewährleistet (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 a.a.O.; Peter, JAmt 2006, 60 [63 f.]; Löhr, ZAR 2010, 378 [381 f.]). Das Asylbewerberleistungsgetz enthält keine mit dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vergleichbare Leistungen (vgl. BVerwG, U .v. 24.6.1999 - 5 24.98 -, BVerwGE 109, 155).

Insoweit wird eine (latente) Gefahr für das Wohl unbegleiteter Minderjähriger (alleine in einem fremden Land, mangelnde Sprachkenntnisse) vom Gesetzgeber unterstellt (vgl. Trenczek. in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 42 Rn. 19; Kepert/Röchhing, in: Kunkel, SGB VIII, 42 Rn. 44; Peter, JAmt 2006, 60 [61; 62]). Der zum Teil (vgl. Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 42 Rn. 18) hinsichtlich dieses Personenkreises zusätzlich für erforderlich gehaltene "jugendhilferechtliche Bedarf" liegt bereits von Gesetzes wegen vor.

Das nach § 87 SGB VIII örtlich zuständige Jugendamt muss deshalb, ohne dass ihm ein Ermessen eingeräumt wäre, nicht nur Obhut gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gewähren, sondern darüber hinaus auch unverzüglich die Bestellung eines Vormunds veranlassen (§ 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII). Da eine Inobhutnahme Volljähriger rechtswidrig ist, hat das Jugendamt das Alter des Betroffenen festzustellen. ohne insoweit an die Feststellungen anderer Behörden gebunden zu sein (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131 m.w.N.). Eine Altersschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen keine ausreichende Grundlage dar. Dies gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (vgl. OVG Berlin-Bbg, B. v. 14.10.2009 - 6 33.09 -, JAmt 2010, 46). Eine zuverlässige Altersdiagnostik setzt vielmehr voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse einer körperlichen Untersuchung, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden (vgl. BayVGH, B. v. 23.9.2014 a.a.O.; OLG München, B. v. 15.3.2012 -26 UF 308/12 - juris, Rn. 9, s. auch Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 42 Rn. 22). Bestehen ernsthafte Zweifel hinsichtlich des Alters des Betroffenen, so hat das Jugendamt (§ 20 SGB X) von Amts wegen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, das Alter des Betroffenen festzustellen (vgl. BayVGH, B. v. 23.9.2014 a.a.O.; OLG München, B. v. 15.3.2012 a.a.O.; für das Kindschaftsrecht: OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 20.10.2011 - 6 S 51.11 u.a. - juris, Rn. 6; B.v. 4.3.2013 - 6 3.13 u.a. juris, Rn. 9). Erst wenn alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft sind, trifft den um Obhutnahme bittenden Minderjährigen die materielle Beweislast für das von ihm behauptete Alter als anspruchsbegründende Tatsache (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 20.10.2011 - 6 S 51.11 u. a. - juris, Rn. 6). Lässt sich eine verlässliche Klärung des Alters nicht sogleich herbeiführen, so hat das Jugendamt im Zweifel, also dann, wenn das Vorliegen von Minderjährigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, eine Inobhutnahme nach 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gleichwohl anzuordnen, bis das tatsächliche Alter des Betroffenen festgestellt ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.0.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131 m.w.N.),

bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die klärungsbedürftige Frage, ob der Antragsteller, wie er vorträgt, am 10. März 2000 geboren wurde, demnach minderjährig ist und dem Anwendungsbereich des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII unterfällt, derzeit als offen anzusehen. Die Ablehnungsentscheidung des Antragsgegners, die auf die Alterseinschätzung des Landratsamtes Berchtesgadener Land verweist, genügt nicht den vorgenannten Anforderungen. Zwar erfolgte diese wohl durch Mitarbeiter des dortigen Jugendamtes, jedoch stellt diese ausweislich der Begründung dieses Bescheids allein auf bestimmte äußerliche körperliche Merkmale ab. Auch das in den Akten enthaltene Lichtbild des Antragstellers lässt eine rechtlich und tatsächlich tragfähige Beurteilung nicht zu (s. Bl. 3 der Behördenakte).

Es ist daher mit Blick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 16 Abs. 4 Grundgesetz - GG) im Wege einer (reinen) Folgenabwägung über den Erlass der einstweiligen Anordnung zu entscheiden (vgl. BVerfG, B. v. 25.7.1996 - 1 BvR 638/96 - NVwZ 1907, 479; 113,v, 29,11.2007 - 1 BvR 2496/07 - NVwZ 2008, 880; B. v. 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 - NVwZ 2009, 715; BVerwG, B. v. 13.10.1994 - 7 VR 10.94 - NVwZ 1995, 379; Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 123 Rn. 100 f.), die die Wertung des Gesetzgebers, die Unterbringung und Erstversorgung asylbegehrender unbegleiteter Minderjähriger der Primärzuständigkeit des Jugendamts zu überantworten (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII), und den von Verfassungs wegen gebotenen Schutz Minderjähriger (Art. 6 Abs. 1 GG) gleichermaßen entscheidungserheblich berücksichtigt (vgl. BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131).

Vorliegend überwiegen insoweit die persönlichen Interessen des Antragstellers gegenüber möglicherweise entgegenstehenden öffentlichen Belangen. Sollte sich im Rahmen des Verwaltungsverfahrens herausstellen, dass der Antragsteller - wie von ihm behauptet - tatsächlich minderjährig ist, ginge er, ohne die einstweilige Anordnung, des durch § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII vermittelten Rechtsanspruchs auf Inobhutnahme und Unterbringung in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlustig. Gleichzeitig bliebe er weiterhin den möglichen Gefahren einer unbegleiteten Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft (für Erwachsene) ausgesetzt, denen der Gesetzgeber mit der vorgenannten Regelung gerade begegnen wollte. Demgegenüber wiegen die finanziellen Nachteile, die der Antragsgegner möglicherweise dadurch erleiden könnte, dass sich im Rahmen des laufenden Feststellungsverfahrens die Volljährigkeit des Antragstellers ergibt und die diesem bis zur Klärung des Alters zuteil gewordene Inobhutnahme sich im Nachhinein als überflüssig erweist, deutlich geringer.

cc) Der Antragsteller hat demnach sowohl den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsanspruch als auch den hierfür nötigen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 u. 3 VwGO i.V.m. § 920 ZPO).

Der Antragsteller kann nicht darauf verwiesen werden, bis zur endgültigen Klärung seines Alters einstweilen in der Gemeinschaftsunterkunft zu verbleiben, da eine Unterbringung dort und eine solche in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Pflegefamilie (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 2 1. Halbs. SGB VIII) nicht annähernd gleichwertig sind (vgl. BVerwG, U.v. 24.6.1999 - 5 24.98 - BVerwGE 109, 155).

Die begehrte einstweilige Anordnung ist daher in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang - bis zur endgültigen Klärung bzw. Feststellung des Alters des Antragstellers im Verwaltungsverfahren - zu erlassen. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners liegt insoweit keine (unzulässige) Vorwegnahme der Hauptsache vor, da die einstweilige Anordnung zeitlich befristet - bis zur endgültigen Klärung des Alters - und damit lediglich vorläufig erfolgt, die Maßnahme der Existenzsicherung dient und dem Antragsteller ein Abwarten bis zur Entscheidung im Verwaltungsverfahren bzw. ggf. im familiengerichtlichen Verfahren aufgrund des damit (möglicherweise) verbundenen Rechtsverlustes nicht zumutbar ist (vgl. BVerwG, B. v. 21.1.1999 - 11 VR 8.98 - NVwZ 1999, 650; BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2016, 131; Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, § 123 Rn. 14; Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO § 123 Rn. 104 f.) [...]