VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 09.09.2015 - 4 B 153/15 - asyl.net: M23199
https://www.asyl.net/rsdb/M23199
Leitsatz:

Nach den vorliegenden Erkenntnissen bestehen derzeit erhebliche Bedenken, ob die ungarischen Behörden eine gewissenhafte Prüfung von Asylanträgen gewährleisten, in Ungarn eine für Füchtlinge zumindest existenzielle Versorgung sichergestellt wird und Asylsuchende keiner erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind.

Schlagwörter: Ungarn, systemische Mängel, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylVfG § 27a, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach den hier vorliegenden Erkenntnissen über die derzeitige Situation von Flüchtlingen in Ungarn hat die Einzelrichterin erhebliche Bedenken, ob die ungarischen Behörden eine gewissenhafte Prüfung von Asylanträgen gewährleisten, in Ungarn für Flüchtlinge eine zumindest existenzielle Versorgung sicherstellen und Asylsuchende keiner erniedrigenden Behandlung aussetzen. Zum Bestehen derartiger systemischer Schwachstellen in Ungarn hat die 6. Kammer des erkennenden Gerichtes mit Beschluss vom 14. August 2015 im Verfahren mit dem Aktenzeichen 6 B 87/15 ausgeführt:

"Nicht wesentlich maßgeblich für die Annahme dieser erheblichen Wahrscheinlichkeit des Bestehens systemischer Schwachstellen ist die Aussage des ungarischen Ministerpräsidenten Orban vom 23. Juni 2015, nach der die Aufnahme von Asylbewerbern, für die Bearbeitung deren Asylanträge gemäß der Dublin III-VO Ungarn zuständig ist, ausgesetzt werde. In diesem Zusammenhang wies die ungarische Regierung zwar darauf hin, dass "das Boot voll" und die ihr "zur Verfügung stehenden Ressourcen erschöpft" seien (vgl. Bericht "The boat is full": Hungary suspends EU asylum rule, blaming influx of migrants" vom 24.6.2015, abrufbar unter www.theguardian.com). Zum einen kann jedoch aus dem Hinweis eines an die Dublin-III-VO gebundenen Staates auf die eigene Überforderung nicht ohne Weiteres das Vorliegen systemischer Schwachstellen abgeleitet werden, da anderenfalls die Dublin-Vertragsstaaten die Möglichkeit hätten, sich allein durch die Abgabe entsprechender Erklärungen ihrer Verpflichtungen nach der Dublin-III-VO zu entledigen. Zum anderen hat der ungarische Außenminister bereits am Folgetag klargestellt, dass die Aufnahmen nicht ausgesetzt seien, sondern man lediglich um eine Nachsichtsfrist bitte, damit Ungarn die mit dem Eintreffen der Vielzahl von Asylbewerbern einhergehenden Herausforderungen bewältigen könne (Bericht "Hungary reverses suspension of Dublin regulation" vom 26. Juni 2015, abrufbar unter www.ecre.org).

Die Abgaben derart inkonsistenter Erklärungen durch höchste Regierungsstellen innerhalb eines derart kurzen Zeitraumes deuten jedoch darauf hin, dass Ungarn durch die Herausforderungen, die die Vielzahl der in das Land drängenden Asylbewerber mit sich bringt, derzeit mindestens an die Grenzen seiner Belastbarkeit oder zumindest seiner Belastungsbereitschaft gerät. Gestützt wird diese Annahme durch Mitteilungen der Dublin-Unit Ungarns an die Antragsgegnerin, nach denen Überstellungen zeitlich vorübergehend nicht oder nur stark eingeschränkt möglich sind.

Zwar hat der UNHCR (bisher) keine Empfehlung ausgesprochen, von Überstellungen nach Ungarn abzusehen. Auch der letzte Bericht des UNHCR aus dem April 2012 attestierte dem ungarischen Asyl- und Aufnahmesystem keine systemischen Schwachstellen. Er zeigte gleichwohl einige Mängel unter anderem hinsichtlich des Zugangs zum Hoheitsgebiet Ungarns (S. 8 f.) und der Unterbringung (S. 14 f.) auf und kritisierte die Art und Umstände der Inhaftierung von Asylbewerbern (S. 16 ff.). Es ist zu befürchten, dass die Umstände, die den UNHCR in seinem Bericht aus dem Jahr 2012 zu der genannten Kritik an der Unterbringung veranlasst haben, sich insbesondere in der ersten Hälfte dieses Jahres dramatisch verschlechtert haben könnten. Grund für diese Annahme ist die stark angestiegene Zahl der nach Ungarn eingereisten Asylbewerber: Während im Jahr 2012 lediglich 2.157 Asylanträge in Ungarn gestellt wurden, erhöhte sich die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 und stieg im Jahr 2014 auf 42.777 - mehr als das Doppelte des Vorjahres und etwa das Zwanzigfache des vorletzten Jahres - an. In der Zeit vom 1. Januar bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits 28.535 Asylbewerber (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Media information note vom 4. März 2015, abrufbar unter www.helsinki.hu). Bis Anfang Juli 2015 sollen etwa 72.000 Asylbewerber nach Ungarn eingereist sein (Bericht "Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen" vom 6.7.2015, abrufbar unter www.spiegel.de). Berücksichtigt man, dass es im Mai 2015 nur etwa 2.000 Plätze in Aufnahmeeinrichtungen gab, deren Anzahl sich auf maximal 2.500 hätte aufstocken lassen (European Asyl Support Office, Description of the Hungarian asylum system, 18. Mai 2015, S. 7 f.), kann nicht ernsthaft davon ausgegangen werden, dass in der kurzen Zwischenzeit für die überproportional angestiegene Anzahl an Asylbewerbern auch nur annähernd ausreichend Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden konnten.

Auch bezüglich der vom UNHCR im Jahr 2012 kritisierten Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeiten des Zugangs zum Hoheitsgebiet Ungarns muss befürchtet werden, dass sich die Situation nochmals erheblich verschlechtert hat. Denn die ungarische Regierung errichtet derzeit einen 175 km langen Grenzzaun an Ungarns Grenze zu Serbien, aus dem aber der Großteil der Asylbewerber bisher illegal nach Ungarn eingereist ist (Bericht "Hungary to start building Serbian border fence within weeks" vom 2.7.2015, abrufbar unter www.reuters.com).

Gleiches gilt mit Blick auf die Inhaftierung von Asylbewerbern. Durch vom ungarischen Parlament am 6. Juli 2015 beschlossene und am 1. August 2015 in Kraft getretene Änderungen des Asylrechts besteht die Möglichkeit, die Dauer der Inhaftierung von Asylbewerbern nochmals auszudehnen (Bericht "Hungary passes legislation severely limiting access to asylum" vom 10. Juli 2015, abrufbar unter www.ecre.com). Ferner bringen die Gesetzesänderungen Verschlechterungen bezüglich des Zugangs zum Asylverfahren mit sich. So gelten Asylanträge seit dem 1. August 2015 als zurückgenommen, wenn der Antragsteller den Ort seiner Unterbringung länger als 48 Stunden verlässt. Weiter wurde unter anderem Serbien in eine Liste sicherer Drittstaaten aufgenommen, was zur Folge hat, dass Asylanträge von Personen, die über Serbien eingereist sind, unabhängig von Herkunft und Verfolgungsschicksal des jeweiligen Antragstellers und ohne weitere Prüfung als unzulässig abgelehnt werden können (Bericht: "Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk" vom 30. Juli 2015, abrufbar unter www.amnesty.org).

Sollten aber hinsichtlich der vorgenannten, im Jahr 2012 vom UNHCR bereits bemängelten Aspekte nunmehr tatsächlich deutliche Verschlechterungen eingetreten sein, was im Rahmen der hier nur durchzuführenden summarischen Prüfung - nicht zuletzt aufgrund des kurzen Zeitraums, der seit dem Inkrafttreten der erwähnten Gesetzesänderungen verstrichen ist - nicht abschließend aufklärbar ist, läge die Annahme des Bestehens systemischer Schwachstellen im ungarischen Asyl- und Aufnahmesystem nahe.

Dass auch der UNHCR - mag er auch die Empfehlung, von Überstellungen nach Ungarn abzusehen, (bisher) nicht ausgesprochen haben - die Entwicklung in Ungarn kritisch sieht, zeigen verschiedene Äußerungen seiner Vertreter. So hat Kitty McKinsey, Sprecherin des UNHCR, erklärt, der UNHCR führe ab dem 1. Juli 2015 eine Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit in Ungarn durch. Dabei hat sie unter Verweis auf die Verschärfung der Asylgesetzgebung dargelegt, dass die Situation in Ungarn eine ungewöhnliche sei, weil Fremdenhass üblicherweise von Minderheitsparteien, rechtslastigen Parteien oder Randgruppen geschürt werde, in Ungarn hierfür aber die Regierung verantwortlich sei (Bericht "UNHCR starts poster campaign in Hungary to counter government anti-migrant initiative" vom 17.6.2015, abrufbar unter www.euronews.com). Ferner hat der Vertreter des UNHCR für Zentraleuropa die Abgeordneten des ungarischen Parlaments im Vorfeld zu den Abstimmungen über die dargestellten Änderungen des ungarischen Asylgesetzes dazu aufgerufen, gegen die Änderungen zu stimmen. Dabei hat er eindringlich darauf hingewiesen, dass eine Verabschiedung des Änderungsgesetzes den Zugang zum ungarischen Hoheitsgebiet beschränken, das Recht auf ein faires Asylverfahren aushöhlen und zu einer Verweigerung internationalen Schutzes für diejenigen, die auf ihn angewiesen sind, führen würde. Das Leben und die Sicherheit von aus Kriegsgebieten eintreffenden Asylsuchenden würden so in Frage gestellt. Ferner sei es bedenklich, dass die Möglichkeit aufrechterhalten werde, Asylbewerber langfristig in Haft zu nehmen und auch Familien zu inhaftieren (Open letter to the Members of the Hungarian Parliament vom 3. Juli 2015, abrufbar unter www.unhcr-centraleurope.org). Diesen Äußerungen des UNHCR kommt im Hinblick auf die ihm durch die Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention sowie durch Art. 21 der Richtlinie 2005/85/EG zugedachte Rolle besonderes Gewicht zu (vgl. auch EuGH, Urt. v. 30.5.2013 - C-528/11 -, juris, Rn. 44)."

Die obigen Ausführungen werden von der erkennenden Kammer geteilt (vgl. Beschl. v. 14.08.2015 - 4 8 129/15 -, v. 01.09.2015 - 4 B 128/15 - und v. 02.09.2015 - 4 B 145/15 -; jew. n.v.). Angesichts der aktuellen chaotischen Zustände in Ungarn besteht die ernste Befürchtung, dass die ungarischen Behörden nicht den Willen haben und auch nicht in der Lage sind, weitere Asylbewerber aufzunehmen und ihre Anträge ernsthaft zu prüfen. Es handelt sich nicht nur um bloße vorübergehende verwaltungstechnische Unzulänglichkeiten, mit deren Abhilfe gerechnet werden kann. Erst Recht ist nicht erkennbar, dass bei den ungarischen Behörden die Bereitschaft vorhanden ist und die organisatorischen Möglichkeiten bestehen, auch noch solche Asylbewerber zurückzunehmen, zu betreuen und deren Asylanträge zu prüfen, die Ungarn lediglich als Transitland benutzt haben und Aufnahme allein in Deutschland oder in anderen westeuropäischen Staaten anstreben. Erschwerend kommt hinzu, dass die ungarische Regierung eine Zuständigkeit für solche Asylbewerber verneint, die - wie der Antragsteller - u.a. über Griechenland nach Ungarn gelangt sind (vgl. hierzu VG Lüneburg, Beschl. v. 06.07.2015 - 6 B 67/15 -, n. v.). Nach den aktuellen übereinstimmenden Medienberichten ist die ungarische Regierung allein darum bemüht, den Zuzug von Asylbewerbern zu erschweren (Grenzzaun, Verschärfung des Asylrechts, Inhaftierung etc.). Die in Ungarn befindlichen Asylbewerber bleiben weitestgehend auf sich gestellt und sind ohne staatliche Versorgung.

Der dramatische Anstieg der Asylbewerberzahlen und die damit einhergehenden Änderungen in der ungarischen Asylpraxis haben im Übrigen auch Niederschlag in der aktuellen erstinstanzlichen Rechtsprechung gefunden (vgl. u.a. VG Saarland, Beschl. v. 12.08.2015 - 3 L 816/15 -; VG Köln, Urt. v. 15.07.2015 - 3 K 2005/15.A -; VG Münster, Beschl. v. 07.07.2015 - 2 L 858/15A -, VG Kassel, Beschl. v. 07.08.2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, jew. zit. nach juris; VG Hannover, Beschl. v. 19.03.2015 - 12 A 1152/14 -; VG Braunschweig, Beschl. v. 16.07.2015 - 4 B 270/15 -; VG Oldenburg, Beschl. v. 19.08.2015 - 12 B 2819/15 -, jew. n.v.). Der 8. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat mit Beschluss vom 15. Mai 2015 (Az.: 8 LA 85/15) die Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 19. März 2015 (Az.: 12 A 1152/14), in welchem die erkennende Einzelrichterin das Vorliegen systemischer Mängel im ungarischen Asylsystem festgestellt hat, aufgrund grundsätzlicher Bedeutung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zugelassen. Eine Entscheidung über die Berufung (Az.: 8 LB 92/15) ist noch nicht ergangen. [...]