VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 02.09.2015 - 7 A 68/15 - asyl.net: M23191
https://www.asyl.net/rsdb/M23191
Leitsatz:

Homosexuelle, deren Veranlagung öffentlich bekannt wird, müssen in Nigeria damit rechnen, dass gegen sie eine Freiheitsstrafe verhängt wird.

Schlagwörter: Nigeria, homosexuell, Homosexualität, Strafbarkeit, Freiheitsstrafe, sexuelle Orientierung,
Normen: AsylVfG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d,
Auszüge:

[...]

Auf Grund des in der mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks von der Klägerin ist das Gericht von ihrer Homosexualität überzeugt. Nachfragen des Gerichts hat sie so plausibel beantwortet, dass weder Zweifel an der Richtigkeit ihrer Aussage aufkamen, noch der Eindruck entstanden ist, es handele sich um einen einstudierten Vortrag. Sie hat nachvollziehbar geschildert, warum sie Beziehungen zu Männern ablehnt und dass ihre innerer Einstellung insbesondere durch die Unterdrückung ihrer Mutter geprägt worden ist. Anschaulich hat die Klägerin auch geschildert, wie sich die Freundschaft zwischen ihr und ... gefestigt hat. Dabei hat sie plausibel erläutert, wie sich die beiden aufgrund übereinstimmender Erfahrungen in ihren Elternhäusern weiter angenähert haben. Zudem hat sich das Gericht davon überzeugt, dass es der Klägerin aufgrund der bestehenden Verbote und Anschauungen in ihrem Heimatland sowie dem Einfluss ihres Trainers schwer fiel, von ihrer Homosexualität zu berichten. Plausibel ist insbesondere, dass sie ihre weiterhin in Nigeria lebende Freundin nicht durch ein Outing in Gefahr bringen wollte. Dennoch hat sie in der mündlichen Verhandlung sowie den vorbereitenden Schriftsätzen die von der Beklagten und dem Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren aufgeworfenen Widersprüche im Wesentlichen aufgelöst. Für die Glaubhaftigkeit ihrer Schilderung zu ihrem Erkenntnisprozess sprechen auch Mimik und Gestik, die weder aufgesetzt noch übertreiben gewirkt haben, die aber gleichzeitig ihre innere Zerrissenheit widergespiegelt haben. Darüber hinaus konnten die Zeuginnen - unabhängig von der Frage ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte - zur Überzeugung des Gerichts übereinstimmend bekundet, dass es eine enge Freundschaft zwischen der Klägerin und ... gegeben hat. Dass die Zeuginnen darüber hinaus keine (übertriebenen) Details zu der Verbindung zwischen den Beiden benennen konnten, erhöht die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen, weil das Gericht aufgrund der bestehenden Verbote davon ausgeht, dass die Beziehung heimlich geführt worden ist.

Homosexuelle bilden in Nigeria auch eine soziale Gruppe i.S. des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemeinsam haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen auch dem europäischen Recht, wie es Niederschlag in Art. 10 Abs. 1 lit. d der Qualifikationsrichtlinie gefunden hat.

Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 07.11.2013 - C-199/12 -. juris) ist Art. 10 Abs. 1 lit. d der Gualifikationsrichtlinie a.F. (RL 2004/83/EG) dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Zwar stelle allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung i.S.d. Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 lit. c der Qualifikationsrichtlinie a.F. dar. Seien hingegen homosexuelle Handlungen mit Freiheitsstrafen bedroht und werden sie im Herkunftsland, das eine entsprechende strafrechtliche Regelung erlassen hat, auch tatsächlich verhängt, so ist dies als unverhältnismäßige diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar. Nicht beanstandet hat der EuGH die Regelung, dass vom Geltungsbereich der Richtlinie die homosexuellen Handlungen ausgeschlossen sind, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten strafbar sind. Andererseits können bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden nicht erwarten, dass der Schutzsuchende seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.

Ausgehend davon, dass die Homosexualität [als] ein[e] für die Identität einer Person so bedeutsames Merkmal darstellt, dass sie nicht zu einem Verzicht darauf gezwungen werden sollte, erlaubt das Bestehen strafrechtlicher Bestimmung in Nigeria, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung, dass diese Personen eine deutlich abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind homosexuelle Handlungen jeglicher Art in Nigeria sowohl nach säkularem Recht (mit zeitiger Freiheitsstrafe - bei vollzogenem Verkehr mit einer Freiheitsstrafe bis zu 14 Jahren) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Im Jahr 2014 hat der damals amtierende Präsident Nigerias - Goodluck Jonathan - ein weiteres Gesetz mit dem Namen "Same Sex Marriage (Prohibition) Bill' unterzeichnet. Bis zu vierzehn Jahren Haft droht Homosexuellen, wenn sie einen (verbotenen) Ehevertrag oder eine (verbotene) zivilrechtlich eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingehen. Personen, die an einer solchen Zeremonie teilnehmen oder sie unterstützen, drohen zehn Jahre Haft. Wer öffentlich die Liebesbeziehung zu einem Menschen gleichen Geschlechts "direkt oder indirekt" zeigt, muss für bis zu zehn Jahre ins Gefängnis (vgl. z.B. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2014, S. 5 f., 14 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nigeria: Homosexualität, 24.10.2012; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Informationen zum Verbot homosexueller Handlungen: Informationen zum Gesetz zum Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen, [Teilfrage entfernt); Informationen zu Organisationen, die sich für Homosexuelle einsetzen und zur Homosexuellenszene, 01.04.2015; UK Home Office, Country Information and Guidance Nigeria, Sexual orientation and gender identity, März 2015).

Auch wenn derzeit noch keine eingehenden Erkenntnisse über die Anwendung dieses Gesetzes in Nigeria vorliegen, so wurde doch seit den nigerianischen Presseberichten über das Inkrafttreten des Gesetzes bereits über Verhaftungen und Bestrafungen berichtet (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Informationen zum Verbot homosexueller Handlungen; Informationen zum Gesetz zum Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen; [Teilfrage entfernt]; Informationen zu Organisationen, die sich für Homosexuelle einsetzen und zur Homosexuellenszene, 01.04.2015 m.w.N.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2014, S. 14).

Bereits nach der bisherigen Erkenntnislage mussten Homosexuelle, deren Veranlagung öffentlich bemerkt wurde, in Nigeria damit rechnen, dass die Freiheitsstrafen im Einzelfall verhängt werden. Zwar versuchen Homosexuelle aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und der weit verbreiteten Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. Deshalb werden strafrechtliche Verfolgungen einvernehmlicher homosexueller Handlungen selten bekannt. Gleichwohl werden solche Strafen verhängt (vgl. VG Aachen, Urt. v. 12.12.2014 - 2 K 1477/13.A -, juris; Urt. v. 18.03.2014 - 2 K 1589/10.A -, juris: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris).

Hinzu kommt nunmehr, dass nach der Verschärfung der Gesetzeslage auch das Zusammenleben homosexueller Paare unter Strafe steht und Personen, die davon erfahren, dass Homosexuelle zusammenleben und dies nicht den Behörden mitteilen, künftig ebenfalls mit einer bis zu fünfjährigen Haftstrafe rechnen müssen. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass das Zusammenleben homosexueller Paare den Behörden vermehrt angezeigt wird, um nicht selbst bestraft zu werden. Bei diesem gesetzlichen Rahmen und der bereits bisherigen gerichtlichen Praxis handelt es sich bei der Verfolgung einer homosexuellen Ausrichtung um eine unverhältnismäßige, diskriminierende Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG (vgl. auch: VG Aachen, Urt. v. 12.12.2014 - 2 K 1477/13.A -, juris).

Hiervon ausgehend droht der Klägerin von staatlicher Seite mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafgerfolgung oder Bestrafung i.S. von § 3a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG. Denn bereits das bloße Zusammenleben, das gemeinsame öffentliche Erscheinen als gleichgeschlechtliches Paar und die Zusammenarbeit mit seinem Partner stehen danach unter Strafe. Insoweit ist ferner zu berücksichtigen, dass nach der oben genannten Entscheidung des EuGH nicht von dem Asylbewerber erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung ausübt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (so auch: VG Aachen, Urt. v. 12.12.2014 - 2 K 1477/13.A -, juris; Urt. v. 18.03.2014 - 2 K 1589/10.A -, juris; VG Regensburg, Urt. v. 19.11.2013 - RN 5 K 13.30226 -, juris).

Zu einer anderen Bewertung führt auch nicht die Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -. juris), wonach ein Schutzanspruch nur dann besteht, wenn der Schutzsuchende seine sexuelle Ausrichtung zur Vermeidung drohender Sanktionen verheimlicht, er also nicht aus persönlichen Motiven auf eine öffentliche Verhaltensweise verzichtet. Denn die Klägerin hat mit ihren Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung der erkennenden Einzelrichterin zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre sexuelle Orientierung aus Angst vor Sanktionen vor der Familie und im Camp verheimlicht hat.

Die Klägerin kann angesichts der dargestellten Verhältnisse auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden, da ein gefahrloses Leben auch in der Stadt nur diskret gelebt werden kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris m.w.N.). [...]