VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Beschluss vom 20.08.2015 - 1 L 270/15.A - asyl.net: M23127
https://www.asyl.net/rsdb/M23127
Leitsatz:

Das Bundesamt kann nicht darauf vertrauen, dass Bulgarien diejenigen Personen wieder aufnimmt, denen ein Schutzstatus zuerkannt wurde, da es nur eine geringe Zahl von Überstellungen dieser Personengruppe nach Bulgarien gibt. Dementsprechend ist eine Abschiebungsanordnung rechtswidrig.

Schlagwörter: Bulgarien, sichere Drittstaaten, Überstellung, Übernahmebereitschaft, deutsch-bulgarisches Rückübernahmeabkommen, anerkannter Flüchtling, Flüchtlingsanerkennung, internationaler Schutz, Abschiebungsanordnung, Aufnahmebedingungen,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

2. Dem Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist darüber hinaus zu entsprechen, weil die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AsylVfG rechtswidrig sein dürfte. Nach dieser Bestimmung ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den sicheren Drittstaat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Im Rahmen dieser Vorschrift - und anders als bei der Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylVfG - hat das Bundesamt neben zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen auch zu prüfen, ob die Abschiebung aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich und tatsächlich möglich ist, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegenden, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindemissen und Duldungsgründen; gegebenenfalls hat das Bundesamt die Abschiebungsanordnung aufzuheben oder die Ausländerbehörde anzuweisen, von deren Vollziehung abzusehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14 - juris Rn. 9; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 - juris Rn. 9; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 03. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 - juris Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 - juris Rn. 4; OVG f. d. Ld. Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11 - juris Rn. 2 ff; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 01. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 - juris Rn. 4 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 - juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschl. v. 25. April 2014 - 2 B 215/14 - juris Rn. 7 [einschließlich sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebender Ansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels"]).

Das Gericht ist in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass das Bundesamt in den Fällen der beabsichtigten Abschiebung des Schutzsuchenden in einem Staat der Europäischen Union als "sicheren Drittstaat" (Gegenstand waren im Wesentlichen Abschiebungsanordnungen mit dem Zielstaat Bulgarien) in dem jeweiligen Einzelfall nicht verpflichtet sei, die Übernahmebereitschaft dieses Staates oder gar die konkreten Rücküberstellungsmodalitäten, so etwa auch die Voraussetzungen etwaiger bilateraler Rückübemahmeabkommen, zu prüfen und ein entsprechendes Ersuchen an die Behörden des anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union zu stellen. Nach § 71 Abs. 3 Nr. 1d AufenthG sei es vielmehr Sache der mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden - der Bundespolizei - die Rückführung von Ausländern aus anderen und in andere Staaten zu organisieren und das Bundesamt dürfe im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems zudem darauf vertrauen, dass derjenige Mitgliedsstaat, der einem Schutzsuchenden einen entsprechenden Status und darauf aufbauend einen Aufenthaltstitel zuerkannt und Reisedokumente ausgestellt hat, vgl. Art. 24 Abs. 2 und Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU, diese Drittstaatsangehörigen wieder aufnehmen werde. Sollte sich dieses Vertrauen im Einzelfall wider Erwarten endgültig nicht bestätigen, weil der andere Mitgliedsstaat die Übernahme des Drittstaatsangehörigen ablehne, werde das Bundesamt die Abschiebungsanordnung aufzuheben haben (etwa Beschl. v. 03. Februar 2015 - VG 1 L 426/14.A; im Ergebnis ebenso: VG Potsdam, Beschl. v. 18. Dezember 2014 - VG 6 L 1147/14.A; Urt. v. 12. März 2015 - 6 K 2810/14.A - juris; vgl. auch Funke-Kaiser in GKAsylVfG, Juni 2014, § 34a Rn. 20, der auf eine "gesicherte Verwaltungsübung" verweist; a. A.: OVG f. d. Ld. Nordrhein Westfalen, Beschl. v. 28. April 2015 - 14 B 502/15.A - juris; VG Augsburg, Urt. v. 13. November 2014 - Au 2 K 14.30421 - juris Rn. 16; VG Braunschweig, Beschl. v. 11. Dezember 2014 - 4 B 249/14 - BA S. 4 unter Bezugnahme auf VG Oldenburg, Beschl. v. 08. September 2014 - 4 B 2512/14).

An dieser Rechtsprechung hält das Gericht nicht mehr fest, sofern die Abschiebung des Rechtsschutzsuchenden nach Bulgarien erfolgen soll. Die tragende Begründung dieser Auffassung, das Bundesamt dürfe darauf vertrauen, dass Bulgarien diejenigen Personen wieder aufnehmen werde, denen es einen Schutzstatus zuerkannt habe (und denen es daher einen Aufenthaltstitel erteilen müsse), wird durch die geringe Anzahl an Überstellungen von Deutschland nach Bulgarien (so im Jahr 2013 [wohl auf der Grundlage des Dublin-Systems] lediglich 14 Personen, im 1. Quartal 2014 keine, vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage zur Lage des Asylsystems in Bulgarien, Drs. 18/1446, S. 6) und vor allem den Umstand erschüttert, dass das Bundesamt nunmehr in einer Reihe von Verfahren (so etwa VG 1 K 541/15.A, VG 1 K 653/15.A, VG 1 K 1047/15.A und VG 1 K 1086/15.A) mit vergleichbaren Fallkonstellationen mit der alleinigen Begründung, es handele sich um das "mildere Mittel" gegenüber einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG, die Abschiebung nach Bulgarien mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen, § 38 Abs. 1 AsylVfG, lediglich angedroht hatte mit der Folge, dass der Klage aufschiebende Wirkung zukommt, § 75 Abs. 1 AsylVfG.

Eine Übernahmebereitschaft Bulgariens auf der Grundlage des am 01. Mai 2006 in Kraft getretenen deutsch-bulgarischen Rückübernahmeabkommens vom 01. Februar 2006 (BGBl. II, 59 ff., 547) kann derzeit jedoch nicht festgestellt werden. [...]