OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 15.06.2015 - 1 Bf 163/14 (= ASYLMGAZIN 9/2015, S. 304 ff.) - asyl.net: M23064
https://www.asyl.net/rsdb/M23064
Leitsatz:

1. Beanstandet ein Verfahrensbeteiligter im Rechtsstreit um eine Ausweisung die Richtigkeit der in einem vorangegangenen strafgerichtlichen Urteil festgestellten Tatsachen, muss der Tatrichter im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, in welchem es auf die Richtigkeit dieser Tatsachen ankommt, prüfen, ob diese Beanstandung nach seiner Auffassung geeignet sind, die dort gezogenen Schlüsse zu erschüttern.

2. Zur fehlenden generalpräventiven Wirkung einer Ausweisung bei einer sog. Leidenschafts- bzw. Beziehungstat, deren Begehung von einer rationalen Steuerung weit entfernt ist (elementar-eruptive Gewalttat).

3. Nicht jede Berührung der durch Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK geschützten Belange eines Ausländers erfordert in Fällen einer zur Regelausweisung herabgestuften Ist-Ausweisung zwingend die Ausübung behördlichen Ermessens (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, 1 C 10.07, BVerwGE 129, 367, juris Rn. 24 f.) Erforderlich ist vielmehr, dass die genannten Belange des Ausländers einen besonderes hohen Grad an Schutzwürdigkeit erreichen (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 14.1.2009, 9 A 1622/08.Z. EZAR-NF 44 Nr. 10, juris 20 ff.).

4. Der Klageantrag auf die Befristung der Wirkungen einer Ausweisung nach § 11 AufenthG ist nur dann hinreichend bestimmt, wenn der Kläger verdeutlicht, welche Frist er für angemessen hält (Anschluss an OVG Münster, Beschl. v. 24.1.2013, 18 A 139/12, juris Rn. 33, 35).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Straftat, Strafurteil, strafgerichtliches Urteil, Generalpräventiver Zweck, generalpräventive Wirkung, Leidenschafts- und Beziehungstat, Regelausweisung, Ermessen, zwingende Ausweisung, Bestimmtheit, Bestimmheitsgebot, Wirkung der Ausweisung, Befristung, Ausweisungsgrund, besonderer Ausweisungsschutz, Freiheitsstrafe, deutsche Familienangehörige, deutsches Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Verhältnismäßigkeit, Mord, versuchter Mord, Körperverletzung, faktischer Inländer,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 53, AufenthG § 56 Abs. 1, VwGO § 82 Abs. 1 S. 2, EMRK Art. 8, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Nach dem für den Senat maßgeblichen Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, 1 C 45/06, BVerwGE 130, 20, juris Rn. 12) ist die angefochtene Ausweisung in der Verfügung der Beklagten vom 1. Dezember 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. März 2012 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Rechtsgrundlage der Ausweisung ist §§ 53 Nr. 1 i.V.m. 56 Abs. 1 AufenthG (hierzu unter 1.). Es liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vor (hierzu unter 2.). Eine Ausnahme von der nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorzunehmenden Regelausweisung ist nicht gegeben (hierzu unter 3.). Die Ausweisung verstößt nicht gegen höherrangiges Recht (hierzu unter 4.).

1. Der Kläger hat, indem er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, den zwingenden Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Der Kläger genießt gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz, weil er bei Erlass der Ausweisungsverfügung vom 1. Dezember 2011 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war und sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hatte.

Dem Kläger steht kein besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG zu. Danach genießt ein Ausländer besonderen Ausweisungsschutz, der mit einem deutschen Familienangehörigen - hiervon umfasst ist die aus den Eltern und deren Kindern bestehende Kleinfamilie (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 22.11.2012, 3 So 71/12, InfAuslR 2013, 89, juris Rn. 8 m.w.N.) - in einer familiären Lebensgemeinschaft lebt. Der im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht allein bestehende telefonische Kontakt zu seinem Sohn S. begründet keine familiäre Lebensgemeinschaft.

2. Aufgrund des besonderen Ausweisungsschutzes darf der Kläger nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden, § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Solche liegen in der Regel vor, wenn der Ausweisungsgrund des § 53 Nr. 1 AufenthG erfüllt ist (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) und sind vorliegend im Hinblick auf die durch die Ausweisung bezweckten generalpräventiven Ziele gegeben (vgl. zur Systematik der Ausweisungstatbestände: BVerwG, Beschl. v. 1.9.2014, 1 B 13/14, InfAuslR 2014, 420, juris Rn. 11 f.).

2.1. Das Verwaltungsgericht hat zwar mit zutreffenden Erwägungen (Urteil Seite 8 - 14 unter I.1.) ausgeführt, dass insbesondere im Hinblick auf die gutachterlichen Stellungnahmen der Diplom-Psychologen W. und J. vom 6. September 2011, 11. Oktober 2011 und 9. Dezember 2012 sowie das Verhalten des Klägers nach seiner Haftentlassung keine hinreichend wahrscheinliche Gefahr der Wiederholung gleichartiger Straftaten besteht. Die Ausführungen des Verwaltungsgericht macht sich das Berufungsgericht zu Eigen und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, § 130b Satz 2 VwGO.

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen jedoch im Hinblick auf die durch die Ausweisung bezweckten generalpräventiven Ziele vor; insoweit ist keine Ausnahme vom Regelfall gegeben. Eine Ausweisung allein aus generalpräventiven Gründen ist bei Ausländern, die besonderen Ausweisungsschutz genießen, im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Straftat besonderes Gewicht zukommt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Dieses kann sich bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit ergeben. Insoweit werden an die Ausweisung allein aus generalpräventiven Gründen sehr hohe Anforderungen hinsichtlich der Annahme schwerwiegender Gründe im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gestellt. Dabei kommt es stets auf die besondere Schwere der Straftat im Einzelfall an. Dies setzt voraus, dass die konkreten Umstände der begangenen Straftat oder Straftaten, wie sie sich aus dem Strafurteil und dem vorangegangenen Strafverfahren ergeben, ermittelt und individuell gewürdigt werden. Die besondere Schwere der Straftat im Hinblick auf die verhaltenssteuernde Wirkung der Ausweisung auf andere Ausländer erfordert, dass von einer derartigen Straftat eine besonders hohe Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft ausgeht (vgl. insgesamt: BVerwG, Urt. v. 14.2.2012, 1 C 7/11, BVerwGE 142, 29, juris Rn. 17 ff., 24).

Da der Gesetzgeber selbst grundsätzlich generalpräventive Motive im Ausweisungsrecht anerkennt und gerade bei strafrechtlichen Verurteilungen auch als alleinigen Grund für eine Ausweisung billigt, können die Gerichte und Behörden bei der Anwendung der einschlägigen Vorschriften dies nicht wegen eines fehlenden empirischen Nachweises der Abschreckungswirkung für andere Ausländer oder wegen des zunehmenden Anteils nur spezialpräventiv auszuweisender Ausländer in Frage stellen. Insoweit ist vielmehr die Einschätzung des Gesetzgebers, die im Rahmen des ihm zustehenden weiten gesetzgeberischen Ermessens liegt und nicht erkennbar willkürlich ist, zu respektieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.2.2012, 1 C 7/11, juris Rn. 19).

Das Unionsrecht gebietet keine weiteren Einschränkungen der Ausweisung des Klägers; sie darf insbesondere nicht nur aus spezialpräventiven Gründen vorgenommen werden. Die Richtlinie RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. Nr. L 158 S. 77; Unionsbürgerrichtlinie), die in Art. 27 Abs. 2 bzw. in deren Umsetzung nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU eine nur auf generalpräventive Gründe gestützte Ausweisung von Unionsbürgern verbietet, findet vorliegend keine Anwendung. Sie gilt gemäß § 1 FreizügG/EU nur für Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und deren Familienangehörige, die sich im Bundesgebiet aufhalten (vgl. zum Anwendungsbereich: Bauer in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, vor §§ 53-56 AufenthG, Rn. 36 ff.).

Ebenso kann der Kläger aus der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. Nr. L 251 S. 12; Familienzusammenführungsrichtlinie), sowie der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. Nr. L 16, S. 44; Daueraufenthaltsrichtlinie) keine für ihn günstigere Rechtsstellung herleiten. Die Familienzusammenführungsrichtlinie gilt nach deren Art. 3 Abs. 3 nicht für Familienangehörige eines Unionsbürgers. Der Aufenthalt des Klägers dient nicht i.S.v. Art. 2 Buchstabe d RL 2003/86/EG der Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft mit einem ausländischen Familienangehörigen, zu denen nach Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG der Ehegatte sowie die minderjährigen Kinder zählen. Im Übrigen spricht Überwiegendes dafür, dass Art. 6 Abs. 2 RL 2003/86/EG dahingehend auszulegen ist, dass eine Ausweisung auch ausschließlich auf generalpräventive Gründe gestützt werden kann (vgl. Bauer in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, vor §§ 53-56 AufenthG, Rn. 68 ff.). Die Anforderungen, die die durch § 9a AufenthG in die bundesdeutsche Rechtsordnung umgesetzte Daueraufenthaltsrichtlinie (RL 2003/209/EG) stellt, erfüllt der Kläger nicht (vgl. allgemein zur Daueraufenthaltsrichtlinie: Bauer in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, vor §§ 53-56 AufenthG, Rn. 81 ff.). Er war nicht im Besitz einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU; hierfür fehlt es schon an ausreichenden Kenntnissen der deutschen Sprache (vgl. §§ 9a Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. 2 Abs. 11 AufenthG).

Generalpräventive Gründe rechtfertigen für sich die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet. Im Einzelnen:

2.2. Das Berufungsgericht folgt den Feststellungen des Landgerichts im Urteil vom 27. Oktober 2008 insbesondere zur Vorgeschichte der Tat, zum Tathergang, zur Motivation des Klägers - auch hinsichtlich des Vorsatzes sowie des Ablassens von der weiteren Tatbegehung, nachdem seine Tochter Y. das Badezimmer betreten hat - sowie zu der vom Landgericht angenommenen vollen Schuldfähigkeit des Klägers.

2.2.1. (...)

Die vom Kläger angeführte Aussage der Ehefrau in der Vernehmung vom 14. Mai 2008, sie habe nicht geglaubt, was passiert sei, weil ihr Ehemann sie über alles geliebt habe und sie sich vorstellen könne, dass er sie nicht habe töten, sondern nur verletzen wollen, erschüttert nicht die Feststellungen des Landgerichts im Urteil vom 27. Oktober 2008. Den Tötungsvorsatz hat das Landgericht überzeugend aus den ihm zur Verfügung stehenden Beweismitteln, insbesondere auch der Aussage des Klägers selbst, "er habe sie töten wollen, weil sie sich habe scheiden lassen wollen", abgeleitet (S. 22 Urteil LG Hamburg).

Insgesamt hat das Landgericht die Einlassungen des Klägers - auch jene in der Vernehmung vom 1. Mai 2008 - sowie der Zeugen umfangreich gewürdigt (vgl. S. 21 - 32 Urteil LG Hamburg) und nachvollziehbar sowie für das Berufungsgericht überzeugend in seine Überzeugungsbildung einbezogen.

2.2.2. Das Landgericht ist ferner für das Berufungsgericht überzeugend davon ausgegangen, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Klägers zur Tatzeit nicht erheblich vermindert oder sogar aufgehoben war. Die Ausführungen des Landgerichts hierzu (vgl. S. 36 f. Urteil LG Hamburg) sind nachvollziehbar. Aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. Mai 2009 (5 StR 156/09), mit dem dieser die Revision des Klägers als unbegründet verworfen hat, ergibt sich nichts anders. Zwar hält der Bundesgerichtshof die Hinzuziehung eines Sachverständigen für vorzugswürdig. Er hat die Ablehnung des klägerischen Beweisantrags zum Vorliegen einer verminderten Schuldfähigkeit jedoch für das Berufungsgericht überzeugend gleichberechtigt ("einerseits" - "andererseits") auch deshalb für vertretbar gehalten, weil das Landgericht seine eigene Sachkunde durch die überaus sorgfältige Würdigung der Anknüpfungstatsachen und Erörterung derselben hinreichend belegt hat.

2.3. Die vom Kläger begangene Straftat wiegt besonders schwer. Es besteht ein dringendes Bedürfnis daran, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.

Die Schwere der Straftat drückt sich indiziell in der Höhe der verhängten Strafe aus, die mit sieben Jahren und sechs Monaten deutlich die in § 53 Nr. 1 AufenthG normierte Mindeststrafhöhe von drei Jahren übersteigt. Unter den Strafvorschriften zum Schutz des Lebens ist Mord wegen der besonderen in § 211 Abs. 2 StGB aufgeführten Begehungsmomente die schwerste Straftat. Der Schutz des Lebens anderer ist essentielle Voraussetzung eines geordneten gesellschaftlichen Zusammenlebens im Bundesgebiet; das menschliche Leben gehört zu den höchsten zu schützenden Rechtsgütern des bundesdeutschen Rechtssystems. Dem Anliegen der Ausweisung, anderen Ausländern zu verdeutlichen, dass ein Aufenthalt im Bundesgebiet die Achtung des Lebens anderer voraussetzt, kommt daher für das Zusammenleben im Bundesgebiet grundlegende Bedeutung zu. Diese Bedeutung wird nicht dadurch abgeschwächt, dass der vom Kläger begangene versuchte Mord sowie die schwere Körperverletzung als Beziehungstat in seinem familiären Umfeld erfolgten und der Mord aufgrund des beherzten Eingreifens seiner damals 13-jährige Tochter Y. nicht vollendet wurde. In der bundesdeutschen Rechtsordnung, in welcher insoweit ein gesellschaftlicher Konsens zum Ausdruck kommt, ist zudem der Wunsch einer Ehefrau, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen, zu respektieren. Im Hinblick darauf besteht ein dringendes Bedürfnis, den Kläger über die strafrechtliche Sanktion hinaus aus dem Bundesgebiet auszuweisen, d.h. ihm einen weiteren rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet und damit eine Verfestigung seines Aufenthaltsrechts zu verwehren, ihm einen Aufenthalt im Bundesgebiet bis zum Ablauf des Befristungszeitraums zu verwehren und dies ggf. auch zwangsweise durchzusetzen, um andere Ausländer in ähnlichen Situationen von entsprechenden Straftaten abzuhalten.

2.4. Auf der Grundlage der überzeugenden Feststellungen des Landgerichts Hamburg kann die Ausweisung wegen des abgeurteilten Tatgeschehens am 30. April 2008 auch auf andere Ausländer in einer ähnlichen Situation eine abschreckende, generalpräventive Wirkung entfalten.

Allerdings setzt die Eignung zur Generalprävention im Einzelfall voraus, dass es im Bundesgebiet überhaupt Ausländer gibt, die sich in einer mit dem Betroffenen vergleichbaren Situation befinden, ohne dass es auf deren Zahl im Einzelnen ankommt. Im Hinblick darauf können einzigartige Verfehlungen singulären Charakters eine Ausweisung nicht begründen, weil nicht die Gefahr besteht, dass auch ein anderer Ausländer eine vergleichbare Verfehlung begehen wird (Discher in GK, AufenthG, Stand Juni 2009, II - Vor §§ 53 ff., Rn. 447f.). Auch wenn die vorliegende Straftat in einem spezifischen menschlichen Beziehungsgeflecht wurzelt, handelt es sich doch um ein Verhaltensmuster, das nicht einzigartig ist. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Ehemann - vorliegend vor einem muslimisch afghanisch geprägten Sozialisations- und Fluchthintergrund - den Wunsch seiner Ehefrau nach Scheidung der Ehe nicht akzeptieren will. Auch der weitere Hintergrund der Tat, wie der nicht verarbeitete Tod des Sohnes Y., die schwierige eheliche Situation nach dem Tod des Sohnes sowie das Bemühen des Klägers, dennoch die Ehe weiterzuführen, machen die Tat nicht zu einer einzigartigen. Denn das Ringen um die Fortführung der Ehe sowie weitere persönliche Umstände aus der (gemeinsamen) Lebensgeschichte sind keine außergewöhnlichen Begleiterscheinungen einer (hier ehelichen) Beziehungstat.

Die Ausweisung ist auch nicht deshalb zur Generalprävention ausnahmsweise ungeeignet, weil die der Maßnahme zugrundeliegende Gewalttat eine Leidenschafts- bzw. Situationstat ist, deren Begehung von einer rationalen Steuerung weit entfernt ist bzw. der eine rationale Steuerung nicht zugrunde liegt. Insoweit ist zwar anerkannt, dass in Bezug auf elementar eruptive Gewalttaten auch die strengstmögliche Sanktion potentielle Täter mit ähnlicher Veranlagung in vergleichbaren Situationen kaum von der Begehung einer ähnlichen Tat wird abhalten können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.12.1984, 1 B 148/84, InfAuslR 1985, 101, juris Rn. 7; Urt. v. 26.2.1980, 1 C 90/76, BVerwGE 60, 75; juris Rn. 11); insoweit kann es ggf. aber hinreichend sein, dass Ausländer durch die Ausweisung davon abgehalten werden, die Bedingungen herbeizuführen, unter denen sie dann im Zustand verminderter oder gar fehlender Schuldfähigkeit Straftaten begehen (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 25.6.1998, 13 UE 1304/95, AuAS 1998, 232, juris Rn. 23), oder davon abgehalten werden, Messer, Waffen bzw. ähnliche gefährliche Werkzeuge bereit zu halten (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.5.1973, I C 33/72, BVerwGE 42, 133, juris Rn. 35).

Auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts Hamburg hat der Kläger keine elementar eruptive Gewalttat begangen, die von einer rationalen Steuerung weit entfernt liegt. Zwar war der Kläger bei Begehung der Tat affektiv durch Wut, Verzweiflung und Verlustängste erregt. Seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit war zur Tatzeit jedoch nicht erheblich vermindert. Die rationale Steuerung zeigt sich - unabhängig von der strafrechtlichen Würdigung - auch im bereits geschilderten Tathergang: Der Kläger hat bereits Stunden vor der Tatbegehung im Hinblick auf die von ihm jedenfalls in Betracht gezogene Tötung seiner Ehefrau das Messer von seiner Arbeit mit nach Hause genommen. Er hat dieses, nachdem sich die häusliche Situation zunächst beruhigt hatte und er bemerkt hate, dass seine Tochter S. und deren Ehemann die Wohnung verlassen hatten, aus seiner im Flur hängenden Jacke herausgenommen und unter sein Kopfkissen gelegt. Erst nachdem er gehört hatte, dass seine Ehefrau sich im räumlich beengten Badezimmer befand und nicht mehr in ihrem abgeschlossenen und damit sicheren Schlafzimmer, hat er das Messer genommen, ist ins Badezimmer gegangen und hat unvermittelt auf seine Ehefrau eingestochen.

Selbst wenn der Kläger bei der versuchten Tötungshandlung - wie von ihm vorgetragen - vermindert schuldfähig gewesen sein sollte, wäre seine Ausweisung geeignet, andere Ausländer davon abzuhalten, Vorbereitungen für eine Tötung vorzunehmen, z.B. durch die Mitnahme eines Messers.

3. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn die Voraussetzungen des § 53 AufenthG vorliegen. So liegt es hier. Ein durch eine atypische Situation gekennzeichneter Ausnahmefall mit der Folge, dass die Ausweisung im Ermessen der Beklagten steht, liegt nicht vor. Bei dieser Prüfung sind alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung sowie die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen, die in § 55 Abs. 3 AufenthG nicht abschließend (BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, 1 C 6/95, BVerwGE 102, 249) genannt werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 1.9.2014, 1 B 13/14, juris Rn. 12 m.w.N.). Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - liegt dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 23.10.2007, 1 C 10/07, BVerwGE 129, 367, juris Rn. 24 f.) bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. Hierdurch ist die Ermessensentscheidung jedoch nicht dahingehend vorgeprägt, dass zwingend von der Ausweisung abzusehen wäre. Insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer bedarf es bei der Entscheidung über eine Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt ist und dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles einer Ausweisung entgegensteht. Aber auch in anderen Fällen erweist sich der schematische Blick der Verwaltung auf die Ist- und Regelausweisung als wenig hilfreich, um das gesamte Spektrum betroffener Belange in den Blick nehmen zu können. Allerdings erfordert nicht jede Berührung der durch Art. 6 GG bzw. Art 8 EMRK geschützten Belange eines Ausländers in Fällen einer zur Regelausweisung herabgestuften Ist-Ausweisung zwingend die Ausübung behördlichen Ermessens. Erforderlich ist vielmehr, dass die genannten Belange des Ausländers unter wertender Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles einen - der Situation sog. faktischer Inländer vergleichbaren - besonders hohen Grad an Schutzwürdigkeit erreichen bzw. es im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen geboten erscheint, die Entscheidung über die Ausweisung in das Ermessen der Beklagten zu stellen, um das gesamte Spektrum betroffener Belange angemessen in den Blick nehmen zu können (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 14.1.2009, 9 A 1622/08.Z, EZAR-NF 44 Nr. 10, juris 20 ff.).

Gemessen an diesem Maßstab liegt ein Ausnahmefall nicht vor. Der Kläger ist nicht ebenso wie ein faktischer Inländer in besonders hohem Maße schutzwürdig; es ist nicht geboten, die Entscheidung über seine Ausweisung in das Ermessen der Beklagten zu stellen, um das gesamte Spektrum betroffener Belange angemessen in den Blick nehmen zu können. Im Einzelnen:

Die Straftat - versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung - ist von ganz erheblicher Schwere. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen unter I.2.3. (Seite 17) Bezug genommen. Es besteht daher ein dringendes Bedürfnis an der Ausweisung des Klägers. Diesem Bedürfnis stehen keine ähnlich gewichtigen Umstände entgegen, aufgrund derer ernsthaft in Betracht zu ziehen wäre, von der Ausweisung abzusehen oder die eine Ermessensentscheidung erfordern würden, um das gesamte Spektrum betroffener Belange angemessen in den Blick nehmen zu können. [...]

Der Kläger ist aufgrund seines bisherigen Aufenthalts im Bundesgebiet hier jedoch nur ansatzweise verwurzelt. Er reiste 1996 mit 36 Jahren in das Bundesgebiet ein. Von November 2001 bis zum Erlass der Ausweisungsverfügung im Dezember 2011 war er im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels. Obwohl sich der Kläger seit ca. 20 Jahren im Bundesgebiet aufhält - davon 5 Jahre in Haft -, spricht er kaum Deutsch; er kann weder Lesen noch Schreiben. Dies erschwert nachhaltig seine Integration, obwohl anzuerkennen ist, dass er mehrfach versucht hat, die deutsche Sprache zu erlernen. Der Kläger hat stabile soziale Kontakte im Bundesgebiet, die sich aber fast ausschließlich auf die im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen beschränken. Es handelt sich insbesondere um den Kontakt zu seinem Bruder .., und dessen Familie, in dessen Haus er zur Miete wohnt und der neben der afghanischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Weiterer Kontakt besteht zu einem weiteren Bruder, der afghanischer Staatsangehöriger und im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ist, zu seiner Schwester, die im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis ist, sowie zu den Enkelkindern seines Onkels väterlicherseits; schriftsätzlich hat der Kläger angegeben, auch zu einem Stiefbruder und mehreren Cousins, zu seiner Schwiegermutter und der Schwester seiner früheren Ehefrau Kontakt zu haben. Der Kläger hat eine Freundin, die deutsche Staatsangehörige ist und auch dem afghanischen Kulturkreis entstammt. Seine frühere Ehefrau und seine drei Töchter wünschen keinen Kontakt mehr zum Kläger; nach Angaben des Klägers leiden sie weiterhin unter der Tat. Der Kontakt zu seinem Sohn S, der neben der afghanischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist derzeit auf einen einmal monatlich erfolgenden telefonischen Kontakt beschränkt, der vom Kläger ausgeht. Es ist derzeit nicht absehbar, dass sich dieser Kontakt zeitnah zu einer familiären Lebensgemeinschaft entwickeln wird. Auch ist für den Kläger der Besuch des Grabes seines verstorbenen Sohnes in Hamburg wichtig.

Obwohl der Kläger von Oktober 2001 bis zum Erlass der Ausweisungsverfügung vom 1. Dezember 2011 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis war, hat er sich nicht nachhaltig wirtschaftlich in das Bundesgebiet integriert. [...]

Auch wenn keine Verwandten des Klägers mehr in Afghanistan leben sollten, ist bezüglich einer Wiedereingliederung des Klägers in die afghanische Gesellschaft zu berücksichtigen, dass der Kläger bis zu seinem 36. Lebensjahr in Afghanistan gelebt hat, er somit dort aufgewachsen ist und die ihn prägende Zeit dort verbracht hat. Er spricht Dari und hat sich auch im Bundesgebiet in einem afghanisch geprägten Bekannten- und Verwandtenkreis aufgehalten. Auch wird es dem Kläger möglich sein, jedenfalls über Internet in Verbindung mit seinen im Bundesgebiet lebenden Verwandten und Bekannten zu bleiben. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, er befürchte bei einer Rückkehr nach Afghanistan erpresst zu werden, weil sein Vater ein reicher und bekannter Mann gewesen sei und auch bekannt sein würde, dass seine Halbbrüder das Grundstück für so viel Geld verkauft hätten, kann offen bleiben, ob eine derartige Gefahr der Erpressung im Fall einer Rückkehr bestehen würde. Ein daraus erwachsendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG könnte im vorliegenden aufenthaltsrechtlichen Verfahren nicht berücksichtigt werden, da das Gericht an die gegenteiligen Feststellungen im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. August 2011 gebunden ist, vgl. § 42 Satz 1 AsylVfG.

Das Gericht geht im Weiteren davon aus, dass dem gesunden Kläger eine wirtschaftliche Integration in Afghanistan schwer fallen wird. Unter Umständen kann er dabei jedoch an Bekannte seines Vaters anknüpfen, der nach Angaben des Klägers ein reicher und bekannter Mann war. Gegebenenfalls wird er auf Hilfe seiner im Bundesgebiet lebenden Verwandten angewiesen sein; es ist nicht ersichtlich, dass die im Bundesgebiet lebenden Verwandten des Klägers, die diesen bisher unterstützt haben, ihm in Zukunft keine Hilfe mehr gewähren würden.

4. Die Ausweisung des Klägers verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

4.1. Die Ausweisung des Klägers verstößt nicht gegen die Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 2 Abs. 1 GG. Der Eingriff in den Schutzbereich der genannten Grundrechte ist rechtmäßig, insbesondere verhältnismäßig. Trotz des langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet ist es dem Kläger angesichts der Schwere der begangenen Straftat und obwohl eine konkrete Wiederholungsgefahr derzeit nicht besteht, zuzumuten, nach Afghanistan zurückzukehren und für die Dauer der Befristung dem Bundesgebiet fernzubleiben. Die damit verbundenen Nachteile stehen in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der Ausweisung verfolgten Zweck. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen unter I.3. Bezug genommen.

4.2. Die Ausweisung verletzt nicht die Rechte des Klägers aus Art. 8 EMRK. Zwar ist durch die Ausweisung das danach geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (vgl. Art. 8 Abs. 1 EMRK) betroffen. Der Eingriff ist jedoch gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässig. Danach darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist u.a. für die nationale oder öffentliche Sicherheit oder zur Verhütung von Straftaten. Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall in diesen Sinn "notwendig", insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien zu beurteilen (BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011, 1 B 22.10, Buchholz 402.242 § 56 AufenthG Nr. 5 m.w.N.; Urt. v. 22.10.2009, 1 C 26.08, InfAuslR 2010, 91). Dabei sind neben allen ehelichen und familiären Umständen auch andere gewichtige persönliche Belange zu berücksichtigen (vgl. zu den sog. Boultif/Üner-Kriterien: EGMR, Urteile v. 2.8.2001, Nr. 54273/00, Boultif, InfAuslR 2001, 476; v. 18.10.2006, Nr. 46410/99, Üner, NVwZ 2007, 1279; v. 13.10.2011, Nr. 41548/06, Trabelsi, EuGRZ 2012, 11). In Anwendung dieses Maßstabs ist der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen unter I.3. Bezug genommen.

4.3. Der Ausweisung des Klägers steht auch nicht die Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) des Sohnes des Klägers nach den Grundsätzen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs im Verfahren "Zambrano" (v. 8.3.2011, Rs. C-34/09, InfAuslR 2011, 179) entgegen. Denn der Sohn des Klägers besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, lebt bei seiner allein sorgeberechtigten deutschen Mutter und ist daher durch die Ausweisung nicht faktisch gezwungen, das Bundesgebiet zu verlassen; die Ausweisung des Klägers hat nicht zur Folge, dass sich sein Sohn gezwungen sähe, das Gebiet der Union zu verlassen, um seinen Vater zu begleiten (vgl. Bauer in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, vor §§ 53-56 AufenthG, Rn. 40 f.).

II.

Hinsichtlich des erstinstanzlich vom Kläger gestellten Hilfsantrags auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung, über den das Berufungsgericht nach Abweisung der Klage hinsichtlich der Ausweisung zu entscheiden hat, ist die Klage nach Konkretisierung des Klagantrags (vgl. hierzu: OVG Münster, Beschl. v. 24.1.2013, 18 A 139/12, juris Rn. 33, 35) zulässig und im tenorierten Umfang begründet. Die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG aufgeführten Wirkungen der Ausweisung sind gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auf sechs Jahre und sechs Monate zu befristen. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG beginnt die Sperrfrist mit der Ausreise.

Die Ausweisung eines Ausländer mit besonderem Ausweisungsschutz ist - abgesehen vom hier nicht gegebenen Fall des § 11 Abs. 1 Satz 7 AufenthG - zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit in ihren Wirkungen zugleich von Amts wegen zu befristen. Ist eine Befristungsentscheidung nicht erfolgt, so führt dies nicht zur Rechtswidrigkeit der ansonsten rechtmäßigen Ausweisung, sondern dazu, dass der Ausländer ggf. schon mit der Anfechtung der Ausweisung zugleich seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG durchsetzen kann. Dabei ist in dem Widerspruch gegen die Ausweisung zugleich der Antrag auf Befristung enthalten. Die Bemessung der Befristungsdauer ist eine gebundene Entscheidung (vgl. insgesamt: BVerwG, Urt. v. 14.2.2012, 1 C 7/11, BVerwGE 142, 29, juris Rn. 28 ff.; BVerwG, Urt. v. 13.12.2012, 1 C 14/12, InfAuslR 2013, 141, juris Rn. 11).

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer - wie vorliegend - aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.

2. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Bei einer allein aus generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange von der Ausweisung eine abschreckende Wirkung auf andere Ausländer ausgeht. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist hier nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts vorzunehmen. Bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung - wie hier - ist die gerichtliche Abwägung Grundlage des Verpflichtungsausspruchs (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, 1 C 19/11, BVerwGE 143, 277, juris Rn. 42; Urt. v. 6.3.2014, 1 C 2/13, InfAuslR 2014, 223).

3. Unter Anwendung dieses Maßstabs hält das Berufungsgericht in einem ersten Schritt allein unter Berücksichtigung des generalpräventiven Zweckes der Ausweisung einen deutlich längeren Befristungszeitraum als sechs Jahre und sechs Monate für geboten. Im vorliegenden Fall geht es um die Abwehr von Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Mitbürger. Die Schwere der Straftat, die wenn auch emotional aufgewühlte, so dennoch kontrollierte, die Hilf- und Schutzlosigkeit des Opfers ausnutzende Begehungsweise der Tat erfordern zum Zwecke der Abschreckung anderer Straftäter in ähnlichen Konfliktlagen ein sehr deutliches Signal, dass bei Begehung einer ähnlichen Straftat eine Rückkehr in das Bundesgebiet auf lange Zeit nicht möglich sein wird; eine Abschreckung auf andere Ausländer erscheint für einen deutlich an zehn Jahre herangehenden Befristungszeitraum grundsätzlich geboten. Dies gilt auch, obwohl die Straftat nunmehr schon vor sieben Jahren begangen und der Kläger inzwischen auf Bewährung aus der Strafhaft entlassen wurde.

Unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers sind die Wirkungen der Ausweisung jedoch auf 6 Jahre und 6 Monate zu befristen. Insoweit hat das Berufungsgericht insbesondere berücksichtigt, dass sich der Kläger seit 20 Jahren im Bundesgebiet aufhält, inzwischen fast 55 Jahre alt ist und hier in einem stabilen sozialen Netz von dem afghanischen Kulturkreis entstammenden Verwandten lebt, insbesondere seinen Geschwistern sowie deren Familien. Seit einem Jahr hat er eine neue Beziehung zu einer Frau, die wahrscheinlich durch seine Ausreise unterbrochen und auf gelegentliche telefonische Kontakte reduziert werden wird. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass ein Teil der Verwandten und Bekannten des Klägers inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit oder längerfristige Aufenthaltstitel besitzt, so dass er über deutliche soziale Bindungen im Bundesgebiet verfügt. Den Kontakt zu seinem Sohn S. wird er telefonisch aufrechterhalten können und müssen. Wirtschaftlich ist der Kläger nur teilweise in der Lage zu seinem Lebensunterhalt beizutragen. Da der Kläger seinen Lebensunterhalt bisher - mit Ausnahme der Jahre 2005 und 2006 - nicht vollständig aus eigenem Einkommen sichern konnte, er nur ansatzweise Deutsch spricht und daher trotz des langen Aufenthalts nur sehr bedingt integriert ist, kommt die Festsetzung einer Sperrfrist von weniger als sechs Jahren und sechs Monaten unter Zugrundelegung der oben aufgeführten Kriterien nicht in Betracht. [...]