VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 07.04.2015 - 5 K 93/15.A - asyl.net: M23045
https://www.asyl.net/rsdb/M23045
Leitsatz:

Wiederaufgreifen des Verfahrens und Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo aufgrund unzureichender medizinischer Versorgung von Epilepsie sowie nicht hinreichend gewährleisteter Schulausbildung psychisch kranker bzw. geistig behinderter Kinder.

Schlagwörter: Wiederaufnahme des Verfahrens, Wiederaufgreifen, Abschiebungsverbot, Kosovo, erhebliche individuelle Gefahr, Krankheit, Epilepsie, geistige Behinderung, Schwerbehinderung, medizinische Versorgung, Roma, Förderungsbedarf,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3, AsylVfG § 71,
Auszüge:

[...]

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo zu.

Ob die Beklagte schon gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG verpflichtet war, das Verfahren wieder aufzugreifen, kann dahingestellt bleiben. Die Klägerin hat jedenfalls unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass die Beklagte eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag i.S.v. § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung dann ergeben, wenn tatsächlich ein Abschiebungsverbot vorliegt, wobei es auf die Frage, wann dieses geltend gemacht worden ist, wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht ankommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, 2 BvR 1989/97, DVBl. 2000,1279; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, 1 C 6.99; InfAuslR 2000,16 und Urteil vom 21.03.2000, 9 C 41.99, BVerwGE 111, 77). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch die Beklagte steht im Übrigen auch nicht die Rechtskraft einer früheren Entscheidung über die negative Feststellung im Asylerstverfahren entgegen. Die Beklagte ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn sie erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und die frühere rechtskräftige Entscheidung unzutreffend ist (BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, - 1 C 12.92 -). Ob eine Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende frühere rechtskräftige Entscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, 9 C 20.96 -).

Das Gericht ist im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durchzuentscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171).

Im Falle der Klägerin liegt insbesondere aufgrund der nachgewiesenen gesundheitlichen Beschwerden ein Abschiebungsverbot hinsichtlich des Kosovo vor. Das der Beklagten eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbotes ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 04.01.2000 - A 14 S 786/99 -). Die Beklagte ist somit zu verpflichten festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo vorliegt. [...]

In Ansehung des gesamten Vorbringen der Klägerin, insbesondere der im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen, und insbesondere auch des Umstandes, dass die Klägerin wegen ihrer geistigen Behinderung seit Ende des Jahres 2012 hier eine Schule für geistig Behinderte aufgrund der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besucht, besteht nach Überzeugung des Gerichts unter Berücksichtigung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass im vorliegenden individuellen Fall der Klägerin bei einer Rückkehr in den Kosovo die notwendige medizinische Versorgung hinsichtlich der diagnostizierten ernsthaften Erkrankungen, welche offensichtlich eine regelmäßige - teilweise mehrtägige stationäre - Behandlung verlangen, sowie auch die notwendige schulische Ausbildung nicht erlangen kann.

Anlass zu dieser Einschätzung gibt sowohl der nach den zum Gegenstand den Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln - insbesondere auch dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes - weiterhin unzureichende Zustand des Gesundheitssystems im Kosovo gerade im Hinblick auf eine flächendeckende ausreichende psychiatrische Versorgung als auch die nach diesen Erkenntnismitteln zumindest sehr wahrscheinlich zu erwartende unzureichende und gerade auch für Angehörige von Minderheiten (unter anderem Roma) nicht tatsächlich gewährleistete Schulausbildung psychisch kranker Kinder, zumindest soweit sie - wie die Klägerin im konkreten Fall - an einer ärztlich diagnostizierten erheblichen geistigen Behinderung leiden. Auch die zuletzt fachärztlich diagnostizierte teilweise Verschlimmerung des Krankheitsbildes und insbesondere die nachgewiesenen - in immer kürzeren Abständen notwendigen - mehrtägigen Klinikaufenthalte rechtfertigen im Hinblick auf das dokumentierte Gesundheitswesen im Kosovo in diesem individuellen Einzelfall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Es besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Klägerin, die nicht auch zuletzt wegen der häufigen epileptischen Anfälle auf eine regelmäßige medizinische Fürsorge - insbesondere auch Notfallfürsorge - angewiesen ist, bei einer Rückkehr in den Kosovo die Gefahr einer wesentlichen Verschlimmerung ihres Leidens droht. [...]