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Zitieren als:
BFH, Urteil vom 05.02.2015 - III R 19/14 - asyl.net: M23029
https://www.asyl.net/rsdb/M23029
Leitsatz:

Erteilt die Ausländerbehörde rückwirkend einen Aufenthaltstitel, der nach § 62 Abs. 2 EStG zur Inanspruchnahme von Kindergeld berechtigt, so hat dies kindergeldrechtlich keine Rückwirkung. Für den Anspruch auf Kindergeld ist vielmehr der "Besitz" eines solchen Aufenthaltstitels erforderlich. Dies setzt voraus, dass der Kindergeldberechtigte den Titel im maßgeblichen Anspruchszeitraum tatsächlich in den Händen hält.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Kindergeld, Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, Rückwirkung, rückwirkende Erteilung, Arbeitserlaubnis, Erwerbstätigkeit, Anwendungszeitpunkt,
Normen: EStG § 62 Abs. 2 Nr. 1, EStG § 62 Abs. 2 Nr. 2, EStG § 62 Abs. 2 Nr. 3, EStG § 66 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

2. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels der zum Bezug von Kindergeld berechtigt, führt nicht rückwirkend zu einem Anspruch auf Kindergeld (Wendl in Hermann/Heuer/Raupach, § 62 EStG Rz 14; Blümich/Treiber, § 62 EStG Rz 40; a.A. FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. März 2005 8 S 1/05, EFG 2005, 980; Bauhaus, EFG 2014, 1418). Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob ein solcher Aufenthaltstitel mit rückwirkendem Geltungsbeginn im vorliegenden Fall überhaupt durch die außerhalb des Titels abgegebene nachträgliche Erklärung der Stadt ..., der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei bereits ab "Geburt des Kindes ... entstanden", vorliegt. Das Tatbestandsmerkmal "im Besitz" steht einem rückwirkenden Bezug von Kindergeld auch dann entgegen, wenn ein Aufenthaltstitel rückwirkend erteilt wird.

a) Der Kindergeldanspruch richtet sich - dem Monatsprinzip nach § 66 Abs. 2 EStG folgend - danach, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld im jeweiligen Monat vorliegen (BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491, Rz 13). Entscheidend ist daher, ob zumindest an einem Tag des jeweils monatlichen Leistungszeitraums die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch tatsächlich vorliegen (BFH-Urteil vom 5. September 2013 XI R 7/12, BFHE 242, 399, BStBl II 2014, 37, Rz 15).

§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG bringt deutlich zum Ausdruck, dass nur derjenige einen Anspruch auf Kindergeld haben soll, der eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die selbst zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder berechtigt hat. Nicht entscheidend ist zwar, ob er tatsächlich erwerbstätig ist. Das Gesetz stellt aber auf die mögliche Integration von Ausländern in den deutschen Arbeitsmarkt ab. Damit ist der Gesetzgeber den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in seinem Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160) nachgekommen, das beanstandet hatte, dass die frühere Regelung nur ausländische Eltern benachteiligte, die legal in Deutschland lebten und bereits in den Arbeitsmarkt integriert waren. Bei Ausländern, denen keine Erwerbstätigkeit erlaubt ist, ging der Gesetzgeber wie das BVerfG davon aus, dass das Existenzminimum ihrer Kinder durch staatliche Fürsorgeleistungen in ausreichendem Maße gesichert ist (BTDrucks 16/1368, S. 9, BVerfG-Beschluss in BVerfGE 111, 160).

Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, der nicht im Besitz einer zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltserlaubnis ist, kann eine legale Erwerbstätigkeit nicht aufnehmen und somit nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden. Denn der Arbeitgeber ist gemäß § 4 Abs. 3 Satz 4 AufenthG verpflichtet zu überprüfen, ob ein entsprechender Aufenthaltstitel vorliegt, aus dem sich erkennbar die Erlaubnis einer Beschäftigung ergeben muss (§ 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Daher kann regelmäßig - von den Ausnahmen in § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG (Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit) abgesehen - eine rechtmäßige Beschäftigung nur erfolgen, wenn der Arbeitnehmer einen entsprechenden Titel zu Beginn der Beschäftigung tatsächlich in den Händen hält. Daran ändert auch eine mögliche rückwirkende Erteilung nichts. Sofern die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Erwerbsberechtigung als zulässig angesehen wird, gilt dies nur, soweit der Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum beansprucht, weil er ein schutzwürdiges Interesse daran hat. Ein schutzwürdiges Interesse wird dann angenommen, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juni 2009 1 C 7.08, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2009, 1431, unter 3.; Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 11. September 2013 - 19 K 365.12, nicht veröffentlicht - n.v. -, Rz 26 f.). Die aus aufenthaltsrechtlichen Gründen erteilte rückwirkende Aufenthaltsbefugnis ändert nichts daran, dass in der Zeit bis zur Erteilung des Aufenthaltstitels keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden konnte.

b) Indem § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis mit dem weiteren Merkmal der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit verknüpft, bringt die Vorschrift damit deutlich zum Ausdruck, dass die betreffende Aufenthaltserlaubnis zumindest an einem Tag des monatlichen Leistungszeitraums tatsächlich vorgelegen haben muss.

Diese Auslegung knüpft an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu vergleichbaren Vorschriften an. Soweit § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG), § 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes, § 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes für die entsprechenden Leistungen eines nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländers den Besitz eines entsprechenden Aufenthaltstitels voraussetzt, liegt ein solcher nur vor, wenn die Ausländerbehörde bereits zu Beginn des Leistungszeitraums ein entsprechendes Aufenthaltsrecht förmlich festgestellt hat (BSG-Urteil vom 10. Juli 2014 B 10 EG 5/14 R, RegNr 31398; BSG-Teilurteil vom 30. September 2010 B 10 EG 9/09 R, BSGE 107, 1, Rz 29; BSG-Urteile vom 2. Oktober 1997 14 REg 1/97, NVwZ 1998, 1110; vom 30. September 1996 10 RKg 24/95, SGb 1997, 216; vom 9. Februar 1994 14/14b REg 9/93, InfAuslR 1994, 320; vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29. Januar 2014 L 12 EG 66/12, n.v.; Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Juni 2014 L 11 EG 3136/13, n.v., Rz 35; LSG Hamburg, Urteil vom 19. Dezember 2012 L 2 EG 2/10, n.v., Rz 34). Ausdrücklich stellt das BSG fest, dass für den Anspruch auf Bundeserziehungsgeld die Erteilung eines Aufenthaltstitels, in dem die Geltungsdauer auf einen Zeitpunkt vor seiner tatsächlichen Erteilung zurückreicht, keine rückwirkende Kraft entfaltet (BSG-Teilurteil in BSGE 107, 1, unter 2., und BSG-Urteil in NVwZ 1998, 1110, Rz 13; vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Juni 2014 L 11 EG 3136/13, n.v., Rz 35). Selbst wenn daher die hier vorliegende nachträgliche Erklärung der Stadt ... als Anordnung der Rückwirkung des Aufenthaltstitels anzusehen sein sollte, lässt die Erteilung des Titels den Anspruch auf Kindergeld erst für die Zukunft entstehen.

c) Nach Auffassung des Senats kommt auch mangels einer planwidrigen Regelungslücke eine analoge Anwendung von § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht in Betracht, wenn nach Ablauf des Leistungszeitraums eine Aufenthaltserlaubnis mit einer rückwirkenden Geltungsdauer erteilt wird. Der Fall, dass eine Aufenthaltserlaubnis eine bestimmte Überprüfungszeit in Anspruch nimmt, kommt in der Praxis regelmäßig vor. Es kann daher nicht angenommen werden, dass dieser Umstand im Gesetzgebungsverfahren außer Acht geblieben ist. Auch aus den Gesetzesmaterialien (zum Entwurf eines Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss, BTDrucks 16/1368, S. 1 ff.) wird deutlich, dass der Gesetzgeber nicht den Familienkassen die Prüfung eines Aufenthaltstitels mit Erwerbsberechtigung auferlegen wollte. Die Gewährung von Kindergeld sollte dem Aufenthaltsrecht folgen (BTDrucks 16/1368, S. 9, zu § 1 Abs. 3 BKGG). Dabei war dem Gesetzgeber auch bewusst, dass die Dauer der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Erwerbsberechtigung von Zufälligkeiten des Verfahrensablaufs abhängen kann. Hierauf hatte zum einen das BSG vor der Gesetzesänderung im Jahr 2006 schon mehrfach hingewiesen (BSG-Urteile vom 9. September 1992 14b/4 REg 16/91, SozR 3-7833 § 1 Nr 10; in InfAuslR 1994, 320). Zum anderen hat die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zu Vorschlägen des Bundesrates (BTDrucks 16/368, S. 14) ausgeführt, dass der Gesetzentwurf darauf abstelle, "dass nicht allein an die Möglichkeit der Berech - tigung zu einer Erwerbstätigkeit angeknüpft werden soll, sondern dass nur diejenigen Anspruch auf Familienleistungen haben sollen, die tatsächlich in Besitz dieser Berechtigung sind oder schon einmal waren".

d) Die Auslegung des Senats, dass der in § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG genannte Aufenthaltstitel, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt haben muss, im Leistungszeitraum tatsächlich vorgelegen haben muss, steht nicht in Widerspruch zum Senatsurteil vom 15. März 2012 III R 87/03 (BFH/NV 2012, 1603), wonach ein rückwirkend entzogener Aufenthaltstitel zwangsläufig zur rückwirkenden Aufhebung von Kindergeld führen muss. Die dortige Klägerin war zunächst im Besitz einer nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG erteilten Aufenthaltserlaubnis, die ihr rückwirkend entzogen wurde. Der Senat stellte bei der Frage der Anspruchsvoraussetzungen nicht entscheidend auf den rückwirkenden Entzug ab, sondern auf die fehlende zusätzliche Voraussetzung nach § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG (Arbeitsmarktintegration, BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 1603, Rz 14).

e) Die Kindergeldberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländers von der tatsächlichen Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels zu Beginn des Leistungszeitraums abhängig zu machen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Das BVerfG hat sich zwar in keiner seiner Entscheidungen zum Elterngeld (Beschluss vom 10. Juli 2012 1 BvL 2-4/10 und 3/11, BVerfGE 132, 72), zum Erziehungsgeld (Beschluss vom 7. Februar 2012 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240) oder zum Kindergeld (Beschluss in BVerfGE 111, 160) dazu geäußert, dass von Verfassungs wegen nicht auf den Besitz einer entsprechenden Erlaubnis abgestellt werden dürfe. Es hat aber die jahrelange Praxis, dass bei nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern die Gewährung von Familienleistungen den Entscheidungen zum Ausländerrecht folgt, nicht beanstandet, obwohl ihm die Verfahrensdauer der Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels bewusst gewesen sein müsste (vgl. BSG-Teilurteil in BSGE 107, 1, Rz 36). Mit Rücksicht auf die Typisierungsnotwendigkeiten und die Verwaltungspraktikabilität des auf die Beurteilung von Massentatbeständen zugeschnittenen Kindergeldrechts bei Ausländern ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die sachnähere Ausländerbehörde den maßgebenden Ausländerstatus feststellt und die Familienkassen hieran gebunden sind (Tatbestandswirkung).

bb) Die Regelung der Tatbestandswirkung verstößt auch nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes); sie ist insbesondere nicht unverhältnismäßig. Zwar macht sie den Anspruch auf Kindergeld von Zufälligkeiten des Verfahrensablaufs abhängig. Es ist jedoch zulässig und auch nicht ungewöhnlich, dass ein Anspruch von der Tatbestandswirkung einer anderweitig getroffenen Entscheidung abhängt, solange keine willkürliche rechtsmissbräuchliche Verzögerung vorliegt (vgl. BSG-Urteil vom 9. September 1992 14b/4 Reg 10/91, RegNr 20624). Welche Rechtsfolgen eine solche Verzögerung hätte, kann der Senat dahinstehen lassen. Denn die vorliegende Zeitspanne bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Überprüfung der Vaterschaft des Kindes war nicht rechtsmissbräuchlich, da die Vaterschaftsfeststellung nach § 28 AufenthG entscheidungserheblich war. [...]