VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 19.02.2015 - 8 A 1470/13 - asyl.net: M22931
https://www.asyl.net/rsdb/M22931
Leitsatz:

Nach einer Entführung durch unbekannte Akteure in Bagdad besteht für einen Schiiten bei Rückkehr in den Irak Verfolgungsgefahr. Interner Schutz im Nordirak steht ihm, sofern er dorthin keine Beziehungen hat, nicht zur Verfügung.

Schlagwörter: Irak, Bagdad, Schiiten, US-Truppen, ausländische Truppen, Besatzungstruppen, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Nordirak, Baath, Baath-Partei, Berufsgruppe,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2.1 Nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass dem vorverfolgten Kläger bei Rückkehr in den Irak erneut Verfolgung drohen würde (dazu 2.1.1) und ihm eine inländische Fluchtalternative nicht zur Verfügung steht (dazu 2.1.2).

2.1.1 Das Gericht ist überzeugt davon, dass der Kläger während der Regierungszeit von Saddam Hussein als Chemie-Ingenieur in der Waffenproduktion tätig war, dass sein Bruder von unbekannten Terroristen ermordet wurde, dass er im Zuge des interkonfessionellen Konflikts in Bagdad aus seinem Haus vertrieben wurde, dass er später entführt wurde und sich in den Nordirak geflüchtet hat. Im Einzelnen:

Der Kläger hat seinen beruflichen Werdegang und seine Wohnverhältnisse detailliert und nachvollziehbar geschildert. Nach der Quellenlage (siehe New York Times vom 6.9.2007) handelte es sich beim Stadtteil Al Jihad um einen ursprünglich konfessionell gemischten Stadtteil. Die vom Kläger beschriebenen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Gruppen werden auch in dem genannten Zeitungsartikel bestätigt. Der Kläger hat nachvollziehbar den Erhalt eines Drohbriefes geschildert. Zwar konnte er nur eine Kopie des Drohbriefes vorlegen. Er hat jedoch für das Gericht plausibel erklärt, dass er das Original bei einer staatlichen Stelle abgeben musste, die ihm bescheinigte, dass er seine Wohnung zwangsweise verlassen musste. Hierzu hat er auch eine Kopie der entsprechenden Bestätigung einer Bagdader Behörde vorgelegt.

Nachvollziehbar für das Gericht ist auch, dass sein Bruder, der sich mit US-amerikanischer Unterstützung für den Wiederaufbau der Universität Bagdad eingesetzt hat, zur Zielscheibe von Terroristen geworden ist. Dass sein Bruder Opfer eines Anschlags geworden ist, hat er auch durch Vorlage mehrerer Zeitungsartikel bzw. Meldungen im Internet belegt.

Das Gericht schenkt dem Kläger Glauben, dass er selbst entführt wurde. Er kann die wesentlichen Elemente seiner Entführung nachvollziehbar schildern. Auch wenn unklar blieb, was die Entführer konkret durch die Entführung erreichen wollten, bleibt der Vortrag im Kern glaubhaft. Es kam und kommt im Irak nämlich häufig zu Gewaltakten, die für die Betroffenen nicht immer nachvollziehbar sind. Das Gericht glaubt dem Kläger, dass er wegen seiner schiitischen Konfession und/oder wegen seiner angeblichen Tätigkeit für die Besatzungstruppen verfolgt wurde. Dies sind flüchtlingsschutzrelevante Merkmale. Hierbei ist es unerheblich, dass der Kläger selbst nicht mit den US-Truppen kooperiert oder sich am Aufbau der Universität Bagdad beteiligt hat. Maßgeblich ist einzig, dass ihm diese Eigenschaften von den Verfolgern zugeschrieben wurden.

Der Kläger hat sodann ebenfalls nachvollziehbar geschildert, wie er in die kurdischen Autonomiegebiete gelangt ist. Es macht seine Fluchtgeschichte insgesamt plausibel, dass er sich vor seiner endgültigen Ausreise noch einmal in Bagdad aufgehalten hat. Nur so war es ihm möglich, die Vielzahl der Dokumente und Unterlagen, die er mit nach Deutschland gebracht hat, an sich zu nehmen. Dass er seinen Aufenthalt in Bagdad bei der Anhörung durch die Beklagte nicht angegeben hat, macht seinen Vortrag insgesamt nicht unglaubhaft.

2.1.2 Dem Kläger steht kein interner Schutz im Sinne von § 3e AsylVfG offen. Einem Ausländer wird gemäß § 3e Abs. 1 AsylVfG die Flüchtlingseigenschaft aufgrund internen Schutzes nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

Die kurdischen Autonomiegebiete Nordiraks stellen keinen internen Schutz in diesem Sinne dar, da es unter Berücksichtigung des Ausmaßes des Flüchtlingsstroms insbesondere jesidischer Flüchtlinge aus der Provinz Ninive gegenwärtig keine "vernünftigerweise" zu erwartende Zumutbarkeit eines internen Schutzes in dieser Region im Sinne von § 3e Abs. 1 und 2 AsylVfG gibt. Schon hinsichtlich der in den Zeiten des früheren irakischen Regimes verzeichneten Flüchtlingsströme in die Nordprovinzen hatte die Rechtsprechung festgestellt, dass angesichts der begrenzten Ressourcen und Aufnahmemöglichkeiten des kurdischen Autonomiegebiets dort nur dann eine inländische Fluchtalternative für Flüchtlinge aus dem Zentralirak besteht, wenn der Flüchtling über verwandtschaftliche und/oder wirtschaftliche Beziehungen zum Autonomiegebiet verfügt und so sein unabweisbares Existenzminimum sichern kann. Ein Aufenthalt in den bestehenden Lagern für Binnenvertriebene im Nordirak genügte schon bisher regelmäßig nicht den Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative (VGH München, Urt. v. 9.10.2002, 15 B 99.32230, juris Rn. 33 ff.). Nichts anderes kann in der nunmehr noch weiter zugespitzten Situation gelten. Die Hilfskapazitäten des kurdischen Autonomiegebiets sind aufgrund von 750.000 Flüchtlingen, die sich dort aufhalten (UK Home Office, Country Information and Guidance. Iraq: Internal Relocation, 24.12.2014, S. 106), erschöpft (VG Gelsenkirchen, Urt. v. 2.9.2014, 18a K 223/13.A, juris Rn. 67; vgl. VG Köln, Urt. v. 15.8.2014, 18 K 386/14.A und 18 K 981/14.A).

Der Kläger hat keine verwandtschaftlichen und/oder wirtschaftlichen Beziehungen zum kurdischen Autonomiegebiet. Er hat nachvollziehbar dargelegt, dass ihn eine Moschee an ein Baugeschäft vermittelt hat, für das er Hilfsarbeiten ausführen konnte. Dafür, dass hierbei nachhaltige persönliche oder wirtschaftliche Bindungen entstanden wären, auf die er bei einer hypothetischen Rückkehr bauen könnte, ist nichts ersichtlich.

Auch ein dauerhafter Aufenthalt bei den Geschwistern seiner Ehefrau im Stadtteil Saydiya stellt keine inländische Fluchtalternative dar. Zwar handelt es sich nach den Angaben des Klägers um einen schiitisch dominierten Teil der Stadt und dem Kläger ist während seines ca. dreimonatigen Aufenthalts vor seiner Ausreise nichts zugestoßen. Gleichwohl kann das Gericht nicht davon ausgehen, dass er dort dauerhaft sicher wäre. Abgesehen von der wieder zugenommenen Gewalt auch in diesem Stadtteil (UK Home Office, a.a.O., S. 101 zu Jihad Bayaa, das auch den Stadtteil Saydiya umfasst [siehe die Karte auf S. 100]) gehört der Kläger als ehemaliges Mitglied der Baath-Partei und Beschäftigter in der Rüstungsindustrie zu einer besonders gefährdeten Personengruppe. Gefährlich werden könnte es für den Kläger auch, wenn er mit den Aktivitäten seines getöteten Bruders in Verbindung gebracht würde. Es ist nicht auszuschließen, dass die schiitischen Milizen, die die schiitisch geprägten Stadtteile kontrollieren, dies zum Anlass nähmen, ihn zu verfolgen. [...]