OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.01.2015 - 7 A 10542/14.OVG - asyl.net: M22824
https://www.asyl.net/rsdb/M22824
Leitsatz:

Bei der für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG erforderlichen Prognose zur Sicherung des Lebensunterhalts ist das zur Verfügung stehende Einkommen nach den Regeln der §§ 11 bis 11b SGB II zu ermitteln. Gemäß § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II sind dabei gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen zu berücksichtigen, wobei auf die titulierten bzw. titulierbaren Unterhaltsbeträge und nicht auf die tatsächlichen Aufwendungen abzustellen ist, um die Geltendmachung eines Anspruchs auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II ausschließen zu können. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Bedarfsgemeinschaft mit den unterhaltsberechtigten Kindern besteht oder nicht.

Schlagwörter: Sicherung des Lebensunterhalts, Sozialleistungen, Sozialhilfebezug, Unterhaltsverpflichtung, titulierter Unterhalt, Kindesunterhalt, Unterhaltsanspruch, Einkommen, Prognose, Niederlassungserlaubnis, Bedarfsgemeinschaft,
Normen: SGB II § 11, SGB II § 11b, SGB II § 11 ABs. 1, SGB II § 11b Abs. 2, SGB II § 11b Abs. 1 Nr. 3, SGB II § 11b Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 2 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Die Definition des Begriffs der Lebensunterhaltssicherung sollte sich an der bisher geltenden Auslegung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG orientieren (vgl. BT-Drucks. 15/420 S. 68). Die Ermittlung des Unterhaltsbedarfs, die sich früher an dem notwendigen Lebensunterhalt im Sinne von § 12 BSHG orientierte, der wiederum vorbehaltlich der Besonderheiten des Einzelfalles durch die Regelsätze nach § 22 BSHG konkretisiert wurde (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 4. November 1996 – 1 B 189.96 – Buchholz 402.240 § 17 AuslG 1990 Nr. 7), richtet sich seit der Änderung des Rechts der Sozial- und Arbeitslosenhilfe vom 1. Januar 2005 an bei erwerbsfähigen Ausländern nach den entsprechenden Bestimmungen des Sozialgesetzbuches Zweites Buch. Dies gilt, soweit wie hier keine unionsrechtlichen Bestimmungen entgegenstehen, auch für die Berechnung des zur Verfügung stehenden Einkommens, das nach den Regelungen in § 11 SGB II bzw. seit dem 1. April 2011 in den §§ 11 bis 11b SGB II zu ermitteln ist. Danach sind von dem nach § 11 Abs. 1 SGB II zu ermittelnden Bruttoeinkommen die in § 11b SGB II genannten Beträge abzusetzen (vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370 [375 f. Rn.19] und vom 16. November 2010 – 1 C 21.09 – BVerwGE 138, 148 [156 f. Rn. 20]).

Der Kläger erzielt ausweislich der von ihm vorgelegten Verdienstbescheinigungen derzeit ein Bruttoerwerbseinkommen in Höhe von 1.788,00 €/M.

Von diesem Bruttoeinkommen abzusetzen sind zunächst gemäß § 11b Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB II die auf das Einkommen entrichteten Steuern sowie die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Beiträge zur Arbeitsförderung. Ausweislich der vorgelegten Verdienstbescheinigungen sind dies 174,95 € sowie 365,21 €. Von diesem Bruttoeinkommen abzusetzen ist gemäß § 11b Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nrn. 3 bis 5 SGB II weiterhin mindestens ein Pauschalbetrag in Höhe von 100,00 € u.a. für Versicherungsbeiträge, Altersvorsorge und mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben.

Von diesem Bruttoeinkommen abzusetzen ist gemäß § 11b Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 3 SGB II ferner ein Betrag, der sich für den Teil des monatlichen Einkommens, das 100,00 € übersteigt und nicht mehr als 1.000,00 € beträgt, auf 20 % und für den Teil des monatlichen Einkommens, das 1.000,00 € übersteigt und nicht mehr als 1.200,00 € beträgt, auf 10 % beläuft. Im vorliegenden Fall sind dies 900,00 € x 20/100 = 180,00 € sowie 200,00 € x 10/100 = 20,00 €, zusammen also 200,00 €.

Von diesem Bruttoeinkommen abzusetzen sind gemäß § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II schließlich die Aufwendungen zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsverpflichtungen bis zu dem in einem Unterhaltstitel oder in einer notariell beurkundeten Unterhaltsvereinbarung festgelegten Betrag. Da es im Rahmen der ausländerrechtlichen Prognose darauf ankommt, ob der Lebensunterhalt eines Ausländers ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel auf Dauer gesichert ist (s.o.), genügt es nicht, wenn sein Einkommen momentan nur deshalb seinen Bedarf übersteigt, weil er weniger Unterhalt zahlt als bereits tituliert ist oder tituliert werden könnte, er aber später seine diesbezüglichen Aufwendungen erhöhen könnte oder gar müsste (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. April 2009 – 1 C 17.08 – BVerwGE 133, 329 [342 f. Rn. 33] und vom 29. November 2012 – 10 C 4.12 – BVerwGE 145, 153 [164 f. Rn. 27]). Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts kommt es deshalb nicht darauf an, dass der Kläger derzeit keine Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch bezieht und dass er seinen Kindern derzeit weniger Unterhalt zahlt als tituliert ist. Vielmehr ist auf die titulierten Unterhaltsbeträge abzustellen, also auf je 91,00 €/M für seine beiden älteren Kinder (vgl. das Urteil des AG Wetzlar vom 14. März 2002 – S. 433 der Verwaltungsakte [im Folgenden: VA]) und auf 304 €/M für seinen jüngeren Sohn (vgl. den Beschluss des AG Bingen vom 18. Februar 2008 – S. 619 VA). Bei richtiger Umrechnung des darin auf der Grundlage der Regelbetragsverordnung festgesetzten Unterhaltsbetrages gemäß § 36 Nr. 3 Satz 4 lit. a EGZPO in einen Prozentsatz des Mindestunterhalts nach § 1612a BGB musste beim Wechsel seines jüngeren Sohnes in die nächsthöhere Altersstufe am 1. Januar 2013 zwar erneut der für den 1. Januar 2008 zutreffend ermittelte neue Prozentsatz von 108,6 % verwendet (vgl. nur BGH, Urteil vom 18. April 2012 – XII ZR 66/10 – NJW 2012, 1873 [1874 f. Rnrn. 21 f.]), jedoch der am 1. Januar 2013 und noch immer geltende doppelte Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG in Höhe von 364,00 €/M – abzüglich des hälftigen Kindergeldes in Höhe von derzeit 92,00 €/M – angesetzt werden (Die Umrechnungen auf Seite 621 VA treffen für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2013 also nicht mehr zu). Vorsorglich sei angemerkt, dass es sich bei dem Schreiben der Kreisverwaltung Mainz-Bingen vom 24. März 2010 (S. 622 VA) trotz der darin und vom Beklagten verwendeten zum Teil missverständlichen Formulierungen lediglich um einen Zwangsvollstreckungsverzicht, nicht aber um einen – gemäß § 1614 Abs. 1 BGB zudem unzulässigen – Verzicht auf Unterhaltsleistungen für die Zukunft oder um eine – nur im gerichtlichen Verfahren nach § 240 FamFG mögliche – Abänderung des am 18. Februar 2008 festgesetzten Unterhaltsbetrages handelt.

Setzt man vom Bruttoeinkommen des Klägers in Höhe von 1.788,00 €/M die Beträge 174,95 €, 365,21 €, 100,00 €, 200,00 €, 91,00 €, 91,00 € und 304,00 € ab, verbleibt ein maßgebliches Einkommen in Höhe von 461,84 €/M.

Demgegenüber umfasst der voraussichtliche Bedarf des Klägers mindestens seinen Regelbedarf im Sinne von § 20 Abs. 1 SGB II, der für zusammenlebende Partner seit dem 1. Januar 2015 für jeden Partner 360,00 € beträgt, sowie seine Bedarfe für Unterkunft und Heizung im Sinne von § 22 SGB II, die sich ausweislich des vom Kläger vorgelegten Mietvertrages bei Halbierung der darin genannten Beträge auf 290,00 € belaufen. Da sich mithin der voraussichtliche Bedarf des Klägers auf mindestens 650,00 €/M beläuft, sein nach §§ 11 f. SGB II maßgebliches Einkommen vor einer etwaigen Abänderung der titulierten Unterhaltsansprüche seiner Kinder jedoch nur 461,84 €/M beträgt, kann seine Klage keinen Erfolg haben, ohne dass es darauf ankommt, ob angesichts der seinen jüngeren Sohn betreffenden erheblichen Unterhaltsrückstände von einem erhöhten Bedarf des Klägers auszugehen ist (vgl. dazu einerseits Zeitler in HTK-AuslR, zu § 2 Abs. 3 AufenthG – Lebensunterhalt – Nrn. 2.5 und 5.5 [Stand 11/2014] und andererseits Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Loseblatt, § 2 Rn. 67 [Stand Mai 2014]).

Nach alledem war die Klage abzuweisen. Für den Kläger bedeutet dies indes nicht, dass entgegen des Wortlautes von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht nur "sein" Lebensunterhalt gesichert sein muss. Insbesondere muss er aus seinem Einkommen nicht etwa auch den Lebensunterhalt seiner Kinder in Höhe der von ihnen beanspruchbaren Regelsätze sowie ihrer anteiligen Bedarfe für Unterkunft und Heizung sicherstellen, weil er mit Ihnen nicht in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 7 SGB II zusammenlebt (vgl. dazu indes BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 – 1 C 21.09 – BVerwGE 138, 148 [152 bis 156 Rnrn. 14 bis 19]). Vielmehr muss der Kläger mit Blick auf § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II lediglich die titulierbaren bzw. titulierten Unterhaltsansprüche erfüllen können, die von der Höhe seines Einkommens abhängig sind und die gemäß § 1603 Abs. 1 BGB nicht bestehen, falls er zu deren Erfüllung unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts ("Selbstbehalt") außerstande ist. Da gemäß § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II die Aufwendungen zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsverpflichtungen bis zu dem in einem Unterhaltstitel oder in einer notariell beurkundeten Unterhaltsvereinbarung festgelegten Betrag von seinem Bruttoeinkommen abzusetzen sind, er im Falle der Erfüllung der titulierten Unterhaltsansprüche seiner Kinder derzeit also einen Anspruch auf ergänzende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch hätte, ist mithin sein eigener Lebensunterhalt nicht gesichert. Sollten die Unterhaltsansprüche seiner Kinder angesichts ihres derzeitigen Bedarfs und angesichts seiner derzeitigen Einkommensverhältnisse und des vom ihm beanspruchbaren Selbstbehalts zu hoch festgesetzt sein, ist es Sache des Klägers, eine Abänderung der Unterhaltstitel herbeizuführen. Bis dahin sind aber im Rahmen der nach § 2 Abs. 3 AufenthG zu erstellenden Prognose die derzeit titulierten Unterhaltsansprüche von seinem Bruttoeinkommen abzusetzen, um die Geltendmachung eines Anspruchs auf ergänzende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch durch den Kläger ausschließen zu können. [...]