VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 24.02.2015 - 6 B 341/15 - asyl.net: M22795
https://www.asyl.net/rsdb/M22795
Leitsatz:

1. Die Bestimmung der Überstellungsfrist in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III VO) vermittelt dem einzelnen Asylbewerber eine subjektive Rechtsposition.

2. Der nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III VO eingetretene Zuständigkeitswechsel führt zu Rechtswidrigkeit des auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützten Bescheids des Bundesamtes und verletzt den betroffenen Antragsteller in eigenen Rechten.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin II-VO, subjektives Recht, subjektives Recht, Überstellungsfrist, Fristablauf, Ablauf der Überstellungsfrist, Dublin III-Verordnung,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 34a Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Kammer hat in ihrer bisherigen Rechtsprechung (z.B. Beschl. v. 18.11.2014 - 6 B 12978/14 -; Beschl. v. 07.10.2014 - 6 B 11768/14 -; Beschl. v. 06.10.2014 - 6 B 11879/ 14 - ebenso Beschl. der 3. Kammer v. 21.07.2014 - 3 B 10472/14 -) angenommen, dass mit Ablauf der in der Dublin II - VO bzw. Dublin III - VO bestimmten Überstellungsfristen die Abschiebungsanordnung rechtswidrig geworden ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt. Diese Auffassung wird auch ansonsten in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Fristbestimmung des Art. 29 Abs. 1 Dublin III - VO und der Vorgängervorschrift des Art. 19 Abs. 3 Dublin II - VO vertreten (VGH Mannheim, Beschl. v. 06.08.2013 - 12 S 675/13 -; VG Sigmaringen, Urt. v. 28.01. 2015 - A 1 K 500/14 -; VG Karlsruhe, Beschl. v. 30.11.2014 - A 5 K 2026/14 -; VG Münster, Urt. v. 19.11.2014 - 1 K 1136/14.A -; VG Regensburg, GB. v. 03.11.2014 - RO 9 K 14.30260 -; Urt. v. 23.10.2014 - RN 3 K 14.50097 -, VG Köln, Urt. v. 27.08. 2014 - 3 K 411/14.A -; VG Cottbus, Beschl. v. 24.07.2014 - 1 L 174/14.A -; VG Göttingen, Beschl. v. 30.06.2014 - 2 B 86/14 - VG Magdeburg, Urt. v. 28.02.2014 - 1 A 413/13 -; alle zit. nach juris).

In der obergerichtlichen Rechtsprechung zur Dublin II - VO ist andererseits wiederholt ausgesprochen worden, dass die Fristvorschriften der Dublin II - VO ausschließlich dem öffentlichen Interesse an einer zeitnahen Feststellung des zuständigen Mitgliedstaates dienen und keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers begründen (VGH Kassel, Beschl. v. 25.08.2014 - 2 A 976/14.A -; VGH Mannheim, Urt. v. 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 - beide zit. nach juris). Das Nds. OVG (Beschl. v. 06.11.2014 - 13 LA 66/14 - juris) hat dazu ausgeführt, es sei in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass die Fristbestimmungen der Dublin II-VO keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers begründen. Zugleich hat das Nds. OVG in diesem Beschluss angedeutet, dass auch die Dublin III-VO dem Asylbewerber keine weitergehende Rechtsposition und insbesondere nicht das Recht eingeräumt hat, seinen Asylantrag in einem ganz bestimmten Staat prüfen zu lassen. Dass die Fristbestimmungen der Dublin III-VO und insbesondere auch die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zumindest in aller Regel keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers begründen, ist auch ansonsten wiederholt in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ausgesprochen worden (VG Oldenburg, Beschl. v. 20.01.2015 - 11 B 454/15 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 09.12.2014 - 13 K 399/14.A-; VG Dresden, Beschl. v. 13.11.2014 - A 2 L 1278/14 -, VG Hannover, Beschl. v. 10.11.2014 - 1 B 12764/14 -; VG Würzburg, Beschl. v. 30.10.2014 - W 3 E 14.50144 -; alle zit. nach juris).

Die Kammer hält auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und nach erneuter Prüfung an ihrer Auffassung fest, dass die Fristbestimmung des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO dem einzelnen Asylbewerber eine subjektive Rechtsposition vermittelt. Dafür spricht bereits Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO, der als Rechtsfolge des Fristablaufes einen Zuständigkeitswechsel für die Prüfung des Asylantrages vorsieht. Nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Diese Frist kann nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Die Vorschriften des Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO dienen nicht allein dem öffentlichen Interesse an einer zeitnahen Feststellung des zuständigen Mitgliedsstaates, sondern auch dem schutzwürdigen Interesse des Asylbewerbers daran, dass sein Asylantrag innerhalb einer angemessenen Frist sachlich geprüft wird (VGH Mannheim, Beschl. v. 06.08. 2013 - 12 S 675/13 -; VG Sigmaringen, Urt. v. 28.01.2015 - A 1 K 500/14 -; VG Karlsruhe, Beschl. v. 30.11.2014 - A 5 K 2026/14 -; VG Münster, Urt. v. 19.11.2014 - 1 K 1136/14.A -; VG Regensburg, GB. v. 03.11.2014 - RO 9 K 14.30260 -; Urt. v. 23.10. 2014 - RN 3 K 14.50097 -, VG Köln, Urt. v. 27.08.2014 - 3 K 411/14.A -; VG Cottbus, Beschl. v. 24.07.2014 - 1 L 174/14.A -; VG Göttingen, Beschl. v. 30.06.2014 - 2 B 86/ 14 -; VG Magdeburg, Urt. v. 28.02.2014 - 1 A 413/13 -; alle zit. nach juris). Dass die Fristbestimmung des Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO, die inhaltlich der hier anwendbaren Vorschrift des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO entspricht, subjektive Rechte vermittelt, hat auch der Generalanwalt in seinem Schlussantrag vom 11.07.2013 zur Rechtssache C-394/12 (Abdullahi gegen Bundesasylamt) angenommen. So heißt es in Rn. 44 des Schlussantrages:

"Meines Erachtens kann dieser Rechtsbehelf (Anm. des Gerichts: der in Art. 19 Abs. 2 Dublin II-VO erwähnte Rechtsbehelf) nur die Einhaltung der Verordnung im Hinblick auf zwei Aspekte zum Gegenstand haben: (A) das Vorliegen von Umständen, die die Vermutung der Wahrung der Grundrechte widerlegen können, auf der das System der Union beruht, und (B) die Anerkennung bestimmter spezieller Rechte durch die Verordnung Nr. 343/2003, die mit dem eigentlichen Asylrecht einhergehen, und ihre entsprechende Gewährleistung."

In Rn. 46 des Schlussantrages heißt es dazu weiter:

"Der zweite Aspekt besteht meines Erachtens in den Rechten, die die Verordnung Nr. 343/2003 dem Asylbewerber speziell im Verlauf des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedsstaats gewährt. So verhält es sich mit den Rechten im Hinblick auf die Familienzusammenführung (Art. 7, 8, 14, 15), den Rechten bei Minderjährigkeit (Art. 6) oder den Rechten im Zusammenhang mit einem zügigen Verfahren (Einhaltung von Fristen und Umsetzung der in jedem einzelnen Fall vorgesehenen Rechtsfolgen, wie z.B. Art. 19 Abs. 4). Alles dieses sind Rechte, die letztlich über die Rechtsstellung der Mitgliedsstaaten im Bereich der durch die Verordnung Nr. 343/2003 geregelten Beziehungen hinausgehen und die dem Asylbewerber ein spezifisches und eigenes subjektives Recht verleihen, das sich zudem stets auf einen durch eine Grundrechtsgarantie geschützten Bereich bezieht: das Recht auf Schutz des Familienlebens (Art. 7 und 33 der Charta der Grundrechte), das Recht auf Schutz von Kindern (Art. 24 der Charta der Grundrechte) und das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41 der Charta der Grundrechte). Es handelt sich bei diesen Rechten letzten Endes nicht um einen bloßen Anspruch auf ordnungsgemäße Abwicklung eines Verfahrens, in dem hauptsächlich die Mitgliedsstaaten betreffende Fragen gelöst werden, sondern um den Anspruch darauf, dass bei der Lösung dieser Fragen bestimmte Rechte und Interessen beachtet werden, die Schutzgegenstand bestimmter Grundrechte sind."

Diese Überlegungen gelten erst Recht für die Dublin III-VO, in deren Erwägungsgrund 19 ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass ein wirksamer Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem Mitgliedsstaat umfassen sollte, in den der Antragsteller überstellt wird (vgl. dazu auch VG Karlsruhe, Beschl. v. 30.11. 2014 - A 5 K 2016/14 -; VG Köln, Urt. v. 27.08.2014 - 3 K 411/14. A - juris).

Die Kammer berücksichtigt in diesem Zusammenhang auch, dass nach der gefestigten Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in Österreich (Verwaltungsgerichtshof, Erk. v. 09.09.2010 - Az.: 2007/20/1040 -, Erk. v. 19.06.2008 - Az.: 2007/21/0509 -; Bundesverwaltungsgericht, Beschl. v. 21.01.2015 - W 153 201 6312 - 1, Beschl. v. 10.11.2014 - W 205 201 3365 -, alle zit. nach Rechtsinformationssystem (RIS)) und der Schweiz (Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 31.05.2010 - Abt. IV-D-2100/2010 -, Urt. v. 10. 03.2010 - Abt. IV-D-252/2010 - abgedruckt in der Rechtsprechungsdatenbank des Bundesverwaltungsgerichts) der Ablauf der Überstellungsfristen nach der Dublin II-VO oder nach Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO zu einem gesetzlich angeordneten Wechsel der Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrages führt, auf den sich der Antragsteller berufen kann. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hat dazu in seinem Erkenntnis vom 19.06.2008 ausgeführt, durch die Regelungen zur Überstellungsfrist solle vermieden werden, dass ein Asylantrag monate- oder gar jahrelang in keinem Mitgliedsstaat geprüft wird. Darauf hat sich das österreichische Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 10.11.2014 für die auch hier anwendbare Nachfolgeregelung des Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III - VO ausdrücklich bezogen.

Die Rechtsprechung des EuGH steht der Annahme nicht entgegen, dass sich der Asylbewerber auf den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO berufen kann. Dies gilt insbesondere auch für das Urteil vom 10.12.2013 in der Sache Abdullahi gegen Bundesasylamt (C-394/12, NVwZ 2014, 208 = juris). Der EuGH hat in diesem Urteil auf die ihm gestellte Vorlagefrage lediglich entschieden, Art. 19 Abs. 2 Dublin II - VO sei dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedsstaat der Aufnahme des Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO niedergelegten Kriterium zugestimmt hat, der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedsstaat geltend macht (juris Rn. 62). Diese Entscheidung betrifft damit nicht die hier maßgebende Frage, welcher Bedeutung der Ablauf der Überstellungsfrist nach der Ermittlung des zuständigen Mitgliedsstaates zukommt. Dass der Asylbewerber einen Anspruch auf eine inhaltliche Prüfung seines Asylantrages in angemessener Frist hat, hat der EuGH bereits wiederholt entschieden (Urt. v. 14.11.2013 - C-4/11 - NVwZ 2014, 129 = juris Rn. 35, Urt. v. 06.06.2013 - C-648/11 - NVwZ-RR 2013, 735 = juris Rn. 55 und 61; Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 108 = juris Rn. 98 und 108). Auch ansonsten lässt die Rechtsprechung des EuGH nicht den Schluss zu, dass sich ein Asylbewerber bei erfolgter Zustimmung durch einen anderen Mitgliedsstaat nur auf systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Zielstaat berufen kann. Hinsichtlich der Rechte eines Minderjährigen (Art. 8 Dublin III-VO, Art. 6 Dublin II-VO) hat der EuGH im Urteil vom 06.06.2013 (C-648/11 - juris Rn. 55) deutlich erkennen lassen, dass sich der Minderjährige auf die diesbezüglichen Zuständigkeitsvorschriften berufen kann. Auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist bereits wiederholt angenommen worden, dass zumindest einzelne Zuständigkeitsregelungen der Dublin III-VO drittschützend sind und deshalb der Überstellungsentscheidung entgegen gehalten werden können (vgl. z.B. VG Hannover, Beschl. v. 16.02.2015 - 10 B 403/15 - Beschl. v. 22.10. 2014 - 13 B 12064/14 - juris, zu Zuständigkeitsregelungen mit familiären Bezug). Verfassungsrechtlich geprägte zielstaats- oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse können zudem dem Asylbewerber einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO vermitteln (vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 04.07. 2012 - 2 LB 163/10 - juris Rn. 42 - 48; Urt. der Kammer v. 26.06.2014 - 6 A 879/14). Die Kammer entnimmt dieser Rechtsprechung, dass einzelfallbezogen zu prüfen ist, ob die Vorschriften der Dublin III-VO dem Asylbewerber subjektive Rechte vermitteln. Für Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO bejaht sie dies aus den bereits dargelegten Gründen. Dieser Annahme steht auch nicht die Rechtsprechung des BVerwG entgegen.

Das BVerwG hat bislang nicht ausdrücklich entschieden, dass sich ein Asylbewerber nicht auf den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO berufen kann. Die bisherigen Entscheidungen sind zur Dublin II-VO ergangen und befassen sich im Wesentlichen nur mit der vom EuGH im Urteil vom 10.12.2013 behandelten Frage, wann systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Zielstaat angenommen werden können (Beschl. v. 14.07.2014 - 1 B 9/14 -; Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35/14 -. Beschl. v. 21.05.2014 - 10 B 31/14 -, Beschl. v. 19.03.2014 - 10 B 6/14 - alle zit. nach juris). [...]