VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.01.2015 - A 9 S 314/12 (= ASYLMAGAZIN 4/2015 S. 126 ff.) - asyl.net: M22714
https://www.asyl.net/rsdb/M22714
Leitsatz:

Zum Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung wegen Beteiligung an Zuwiderhandlungen gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 2 AsylVfG.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausschlussgrund, Flüchtlingsanerkennung, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, Widerruf, FIS, Islamische Heilspartei, Algerien, Wiederholungsgefahr, Front islamique du Salut, terroristische Vereinigung, Änderung der Sachlage, Wegfall der Umstände, schwerwiegende Gründe, schwere nichtpolitische Straftat,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, AsylVfG § 3 Abs. 2 S. 2, Aufenthg § 60 Abs. 8, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1 2. Alt.,
Auszüge:

[...]

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hier noch im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG; jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Asylanerkennung oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Satz 2 gilt nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG).

Mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 vom 30.09.2004 S. 12; berichtigt ABl. EU Nr. L 204 vom 05.08.2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie (bzw. nunmehr der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011) auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren. Dies gilt auch für Fälle, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. BVerwG vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22, unter Bezug auf Urteil vom 24.02.2011 - 10 C 3.10 -, BVerwGE 139, 109).

Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist (vgl. BVerwG vom 01.06.2011, a.a.O.).

Diese Auslegung ist - soweit sich aus Art. 16a GG nichts Abweichendes ergibt - auch auf den Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter anzuwenden, um den es hier ebenfalls geht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.11.2011 - 10 C 29.10 -, BVerwGE 141, 161; Bay. VGH, Urteil vom 16.05.2013 - 9 B 12.30032 -, juris).

Die im Verwaltungsverfahrensgesetz geregelte Jahresfrist für den Widerruf von Verwaltungsakten (§ 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG) findet auf den angefochtenen Bescheid keine Anwendung (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.06.2012 - 10 C 4.11 -, BVerwGE 143, 183; Bergmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 73 AsylVfG Rn. 30).

2. Ausgehend von diesem Maßstab ist der für den Widerruf erforderliche Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen hier nicht eingetreten.

Eine nachträgliche Änderung der Sachlage folgt weder aus veränderten Verhältnissen im Herkunftsland des Klägers (dazu a), noch daraus, dass der Kläger durch eigenes Verhalten nach der Anerkennung durch die nachträgliche Verwirklichung eines Ausschlusstatbestandes einen Grund für den Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen geschaffen hat (dazu b). Auch ein Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen aufgrund einer nachträglichen Änderung der Rechtslage scheidet aus (dazu c).

a) Ein Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen wegen veränderter Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers ist zu verneinen, denn es fehlt bereits an der für einen Widerruf erforderlichen erheblichen Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände, so dass es nicht darauf ankommt, ob es sich nur um womöglich bloß vorübergehende oder um hinreichend verfestigte Änderungen handelt.

Eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner Zeitablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Allerdings sind wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt (vgl. BVerwG vom 01.06.2011, a.a.O., unter Bezug auf Urteile vom 19.09.2000 - 9 C 12.00 -, BVerwGE 112, 80, 84, und vom 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118, 124 f.). Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 in Verbindung mit Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Umstände danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011, a.a.O., unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 -, Abdulla u.a., NVwZ 2010, 505, Rn. 84 ff., 98 f.).

Eine deutliche und wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, lässt sich hier - zumal Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen sind (zu den Anforderungen vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011, a.a.O.) - nicht feststellen.

Anknüpfungspunkt für die dem Kläger günstige Entscheidung des Bundesamts vom 31.01.1996, mit der dieser als Asylberechtigter anerkannt wurde und ihm gegenüber die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Algerien festgestellt wurden, waren die in dem rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29.09.1995 enthaltenen Erwägungen. Danach gehörte der Kläger zu den Personen, die wegen Aktivitäten für den "Front islamique du Salut" im Falle der Rückkehr in den Heimatstaat mit asylerheblichen behördlichen Maßnahmen zu rechnen hatten. Er war als maßgebendes Mitglied in dieser Organisation in B. (Algerien) bei ihrer Gründung tätig und hatte seine fundamentalistische Überzeugung insbesondere auch durch seine Arbeit als Imam zum Ausdruck gebracht. Der Kläger war für sechs Monate im Wüstenlager A. (Algerien) inhaftiert und stand danach bis zu seiner Ausreise aus Algerien am 05.11.1992 unter polizeilicher Kontrolle. Es stand zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts fest, dass er bei der Einreise nach Algerien mit Polizeigewahrsam zum Zweck der Personenkontrolle und mit Verhören rechnen musste, was vor allem der Prüfung dienen sollte, ob er in islamistische Aktivitäten gegen den Heimatstaat oder in Straftaten verwickelt war. Da sich hierfür beim Kläger Verdachtsmomente ergeben würden, wurde es ferner als naheliegend angesehen, dass seine Asylantragstellung in Deutschland bei den algerischen Behörden den Verdacht wecken oder bestärken würde, er sei "als Anhänger der Opposition ins Ausland geflüchtet", was gleichfalls mit der Folge verbunden wäre, verhaftet und als Regimegegner behandelt zu werden.

Der Wegfall der im Anerkennungsbescheid vom 31.01.1996 bejahten beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit lässt sich danach bei einer Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände derzeit nicht begründen. Soweit sich das Bundesamt auf die Straferlassregelungen in der zur Umsetzung der Charta für Frieden und Nationale Aussöhnung erlassenen Verordnung 06-01 vom 27.02.2006 (veröffentlicht im Journal officiel de la Republique Algerienne No. 11 vom 28.02.2006) beruft, folgt dies zunächst schon daraus, dass der Kläger nicht in deren Anwendungsbereich fällt. Denn die Amnestieregelungen gelten nach dem Wortlaut der Vorschriften nur für diejenigen Personen, die sich den Behörden bis Ende August 2006 gestellt haben. Zwar wird eine weitere Anwendung im Einzelfall durch das Auswärtige Amt bestätigt (vgl. etwa Lagebericht vom 15.04.2009, S. 10); hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass dies auch im Falle des Klägers so wäre.

Dies gilt umso mehr, als Unklarheiten nicht nur in Bezug auf die zeitliche Geltung, sondern insbesondere auch hinsichtlich des personellen Anwendungsbereichs bestehen. Denn ein Strafverfahren auf Grundlage des algerischen Strafgesetzes im Sinne von Art. 2 der Verordnung 06-01 liegt im Fall des Klägers nicht vor. Vielmehr wurde er - nach der Asylanerkennung in Deutschland - von einem französischen Gericht nach französischem Strafrecht verurteilt. Unsicher ist ferner, ob beziehungsweise inwieweit die in Frankreich abgeurteilten Taten dem Ausnahmekatalog aus Art. 10 der Verordnung 06-01 zuzuordnen sind (vgl. zum Ausschluss auch bereits bei Vorbereitungshandlungen etwa die vom Bundesamt im August 2006 herausgegebene Broschüre "Die Amnestieverordnung vom 27.02.2006", S. 11). Auch das Auswärtige Amt führt zu den Ausschlussklauseln aus, dass aufgrund der Vieldeutigkeit der tatbestandlichen Bestimmungen und der nicht transparenten Entscheidungspraxis der algerischen Behörden Einzelfallprognosen nicht möglich sind (Lagebericht vom 15.04.2009, S. 10).

Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Amnestieregelungen - deren Anwendbarkeit für den Kläger jedenfalls höchst unsicher erscheint - zu einer allgemeinen Liberalisierung geführt hätten, sind angesichts der weiterhin kritischen Sicherheitslage, der nach wie vor bestehenden Repressionsstrukturen und dem nur teilweisen Erfolg der Aussöhnungspolitik (vgl. dazu Lageberichte vom 15.04.2009, S. 5, und vom 31.01.2013, S. 6) nicht vorhanden. Vielmehr bestätigt auch das Auswärtige Amt - noch immer - "ernstzunehmende Hinweise" auf Übergriffe und Folter durch die algerischen Sicherheitsbehörden und Polizeikräfte, vor allem in Fällen mit Terrorismusbezug (vgl. dazu Lagebericht vom 31.01.2013, S. 21, 22 und 26; ebenso: Österr. AsylGH, Entscheidungen vom 07.09.2012 - Gz. B4 409882-1/2009 -, und vom 04.11.2013 - Gz. B5 415586- 1/2010 -, jeweils abrufbar unter www.ris.bka.gv.at/AsylGH/). Diese Einschätzung wird durch andere Erkenntnisquellen erhärtet (vgl. Deutsches Orient-Institut an VG Gießen, 15.01.2011, amnesty international, Länderbericht Algerien vom Juni 2014, sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 24.02.2010: Berichte zum Militärgeheimdienst DRS über geheime Haftorte mit Folter und Misshandlungen). Angesichts der medienwirksamen Verurteilung beziehungsweise Verhaftung (siehe zu letzterer die bei den Bundesamtsakten befindlichen Presseberichte deutscher Zeitungen, in denen der Kläger auch mit vollem Namen benannt wurde) dürfte der Kläger den algerischen Behörden auch namentlich bekannt (vgl. Stellungnahme des Auswärtigen Amtes gegenüber dem Bundesamt vom 31.05.2007, S. 2) und in das Umfeld terroristischer Aktivitäten gestellt sein. Die mögliche Erwägung, dass angesichts des vorhandenen Strafurteils und des Zeitablaufs kein Anlass zu weiteren Ermittlungen gegen den Kläger durch algerische Behörden bestehe, erscheint fernliegend. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus Gründen des fortgeschrittenen Alters des Klägers oder wegen seiner schweren Erkrankung entfällt. Ob die Sicherheitsbehörden Algeriens diese Umstände berücksichtigen und zum Anlass nehmen würden, den Kläger zu verschonen, erscheint höchst ungewiss.

b) Der Widerruf ist auch nicht deshalb zu Recht erfolgt, weil die Anerkennungsvoraussetzungen dadurch nachträglich weggefallen sind, dass der Kläger mit seinem eigenen Verhalten einen Ausschlusstatbestand verwirklicht hat. In der Person des Klägers ist gegenwärtig keiner der in § 60 Abs. 8 Satz 1 und 2 AufenthG in Verbindung mit § 3 Abs. 2 AsylVfG geregelten Ausschlussgründe erfüllt.

aa) Insbesondere sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG (rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren) nicht gegeben. Soll ein Widerruf auf diesen Tatbestand gestützt werden, so muss zusätzlich eine konkrete Wiederholungsgefahr bestehen. Diese liegt nur vor, wenn von dem Ausländer in Zukunft neue vergleichbare Straftaten ernsthaft drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013, a.a.O., unter Bezug auf Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185, 188 ff.). Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und seine Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einer hohen Wiederholungsgefahr verknüpft sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.10.2009 - 10 B 17.09 -, juris; VGH Baden- Württemberg, Urteil vom 21.04.2009 - A 4 S 120/09 -, juris; Bay. VGH, Urteil vom 25.02.2013 - 9 B 10.30347 -, juris).

Daraus, dass der Kläger offenbar Katalogtaten im Sinne der Regelungen über den Europäischen Haftbefehl begangen hat (vgl. Art. 2 Abs. 2 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002: "Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung"/"Terrorismus"), ergeben sich für den vorliegenden Zusammenhang keine entscheidenden Schlüsse, da es sich um eine bereichsspezifische Regelung auf dem Gebiet der Strafrechtspflege handelt. Es mag unterstellt werden, dass auch eine Verurteilung in Frankreich der Norm unterfallen kann, zumal der Wortlaut des Ausschlussgrundes anders als etwa § 18 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG ("in der Bundesrepublik Deutschland … zu einer Freiheitsstrafe") nicht ausdrücklich eine Verurteilung im Inland verlangt (für die Gleichwertigkeit einer Verurteilung in Frankreich: VG Düsseldorf, Urteil vom 01.08.2000 - 11 K 3130/97.A -; mit Vorbehalt auch Treiber, in: GK-AufenthG, Stand: Juli 2011, § 60 Rn. 231). Daneben kann offen bleiben, ob das Merkmal der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren erfüllt ist, obwohl es bei der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe erforderlich ist, dass zumindest eine der Einzelstrafen, aus denen die Gesamtstrafe gebildet wird, eine wenigstens dreijährige Freiheitsstrafe ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013, a.a.O.). Dem Urteil des französischen Strafgerichts vom 14.03.2002 lässt sich nicht mit letzter Sicherheit entnehmen, wie die Freiheitsstrafe im Einzelnen gebildet wurde.

Es bedarf hierzu indes keiner abschließenden Würdigung und keiner weiteren Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht, da es jedenfalls an belastbaren Anhaltspunkten für eine konkrete Wiederholungsgefahr fehlt. Die abgeurteilten Taten fanden bis spätestens Mai 1998 statt. Seither sind mehr als 16 Jahre vergangen, ohne dass - soweit bekannt - der Kläger den Sicherheitsbehörden nochmals auffiel. Auch unter Berücksichtigung einer von dem hohen Strafmaß ausgehenden Indizwirkung lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt keine vom Kläger ausgehende hinreichend konkrete Gefährdung mehr erkennen, zumal er mittlerweile 70 Jahre alt ist und an einer schweren Erkrankung leidet.

bb) Eine Anwendung von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG kommt nicht in Betracht, weil der Kläger die in Frankreich strafrechtlich abgeurteilte(n) Tat(en) nicht vor, sondern erst nach der Aufnahme als Flüchtling begangen hat. Eine entsprechende Anwendung dieses Ausschlussgrundes auf einen Fall, in dem es um eine schwere nichtpolitische Straftat geht, die zwar nach der Aufnahme als Flüchtling, jedoch vor der Einführung des Ausschlussgrundes begangen wurde, scheidet aus. Andernfalls würde man den Ausschlussgrund über seinen Sinn und Zweck hinaus ausdehnen (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 3 Rn. 34; UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Dezember 2003, Rn. 153; Zimmermann, DVBl. 2006, 1478, 1483).

cc) Es besteht ferner nicht der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 2 AsylVfG, denn es ist nicht (mehr) aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt, der Kläger habe den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt beziehungsweise sich in relevanter Weise an derartigen Zuwiderhandlungen beteiligt. Dabei verkennt der Senat nicht, dass es bei beiden Ausschlussgründen weder einer gegenwärtigen Gefahr noch einer (nachgelagerten) Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.07.2011, a.a.O.).

Ausschlaggebend hierfür ist, dass der Ausschlussgrund mit der doppelten Zielsetzung geschaffen wurde, zum einen von der Flüchtlingsanerkennung Personen auszuschließen, die als des sich aus ihr ergebenden Schutzes unwürdig angesehen werden, und zum anderen zu verhindern, dass diese Anerkennung den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermöglicht, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 -, NVwZ 2011, 285, Rn. 104). Im Fall des Klägers kommt die zweite Zielsetzung von vornherein nicht zum Tragen, nachdem er wegen seiner Handlungen in Frankreich strafrechtlich verurteilt wurde und seine Strafe verbüßt hat. Der damit allein berücksichtigungsfähige Gesichtspunkt der fortdauernden Unwürdigkeit rechtfertigt aus Sicht des Senats aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls hier die Anwendung von § 3 Abs. 2 AsylVfG gegenwärtig nicht.

In diesem Zusammenhang ist auf die Richtlinien zum Internationalen Schutz des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) "Anwendung der Ausschlussklauseln: Artikel 1 F des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge" (HCR/GIP/03/05) vom 04.09.2003 zu verweisen. Darin heißt es unter II. E. Nr. 23 (ähnlich UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, September 1979 / Neuauflage Dezember 2003, Rn. 157; vgl. ferner Zimmermann, DVBl. 2006, 1478, 1484), die Anwendung der Ausschlussklauseln sei möglicherweise nicht mehr gerechtfertigt, wenn das Verbrechen als verbüßt gelte. Das könne der Fall sein, wenn die Person die Strafe für das betreffende Verbrechen verbüßt habe oder etwa wenn die Straftat lange Zeit zurückliege. Maßgebliche Faktoren seien hier die Schwere der Tat, die vergangene Zeit und jeder Ausdruck des Bedauerns durch die betreffende Person. Einige Verbrechen seien so schwerwiegend und verabscheuungswürdig, dass die Anwendung selbst im Fall einer Begnadigung oder Amnestie als gerechtfertigt angesehen werde. Ferner heißt es unter II. C. Nr. 17 zu dem in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 (i.V.m. Satz 2) AsylVfG aufgegriffenen Ausschlussgrund des Art. 1 F (c) GFK, angesichts der umfassenden, allgemeinen Formulierung der Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen sei der Anwendungsbereich dieser Kategorie eher unklar, weshalb dieser Unterabsatz eng ausgelegt werden solle. Eine Berufung auf Artikel 1 F (c) komme nur unter extremen Umständen im Fall von Handlungen vor, die einen Angriff auf die Grundlagen der Koexistenz der internationalen Staatengemeinschaft darstellten. Solche Handlungen müssten eine internationale Dimension haben. In diese Kategorie würden Verbrechen fallen, die den Weltfrieden, die internationale Sicherheit und die friedlichen Beziehungen zwischen Staaten erschüttern könnten, sowie schwere, anhaltende Verletzungen der Menschenrechte.

Angesichts dessen erscheint die Anwendung des Ausschlusstatbestandes auf den Kläger - auch bei Berücksichtigung des abgesenkten Beweismaßes (vgl. Treiber, a.a.O., § 60 Rn. 263) - nicht (mehr) angemessen, wenngleich der Europäische Gerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls im Bereich von Aktivitäten des internationalen Terrorismus eine verschärfte Auslegung postulieren und insbesondere davon abgerückt sind, dass (grundsätzlich) nur mit einer Machtposition versehene Personen den Ausschlussgrund verwirklichen können (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.07.2011 - 10 C 26.10 -, BVerwGE 140, 114 unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 09.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 -, NVwZ 2011, 285; siehe auch BVerwG, Urteil vom 19.11.2013 - 10 C 26.12 -, NVwZ-RR 2014, 283). Die Auslegungsrichtlinien des UNHCR entfalten zwar keine rechtliche Bindung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26.09.2006 - 2 BvR 1731/04 -, BVerfGK 9, 259). Sie stellen aber regelmäßig eine beachtliche Rechtsauffassung zur Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Die hier herangezogenen Auslegungsrichtlinien sind auch erst nach Erlass der Sicherheitsratsresolutionen 1269 (1999) und 1373 (2001) verfasst worden und können daher nicht durch diese überholt sein. Die Richtlinien stellen ausweislich des sie einleitenden Textes eine Zusammenfassung der "Background Note on the Application of the Exclusion Clauses: Article 1 F of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees" dar. Diese wiederum beschäftigt sich ausdrücklich mit dem Begriff des Terrorismus nach dem 11.09.2001 (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR 2008, 263). Den in den Auslegungsrichtlinien vorgesehenen Restriktionen kommt deshalb auch aktuell noch besondere Bedeutung zu.

Ausgehend davon lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger derzeit (noch immer) der Anerkennung als Asylberechtigter beziehungsweise des Flüchtlingsschutzes unwürdig ist. Abgesehen von der Strafverbüßung fällt zu seinen Gunsten ins Gewicht, dass sich eine Strafbarkeit gemessen am deutschen Strafrecht nicht sicher feststellen lässt. Da die Verurteilung des Klägers nicht in Deutschland erfolgte, ist das Strafurteil zwar noch immer (zumindest) als ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Tatbegehung anzusehen, kann jedoch trotz der für Frankreich anzunehmenden hohen rechtsstaatlichen Standards im vorliegenden Zusammenhang nicht den gleichen Stellenwert haben wie ein deutsches Strafurteil (vgl. Zeitler, HTK-AuslR / § 60 AufenthG / zu Abs. 8 Satz 2 04/2013 Nr. 3). Insbesondere hat das Oberlandesgericht Stuttgart hierzu in seinem Beschluss vom 07.04.2003 ausgeführt, soweit nach deutschem Recht der Tatbestand der Verabredung eines Tötungsdelikts nach § 30 Abs. 2, §§ 211, 212 StGB in Betracht komme, lasse sich weder anhand der zunächst eingegangenen Auslieferungsunterlagen noch anhand ihrer späteren Ergänzungen hinreichend klären, ob die in Aussicht genommene Tat nach Ort, Zeit und Inhalt bereits in dem erforderlichen Maße konkretisiert gewesen sei. Den Auslieferungsunterlagen sei auch nicht zu entnehmen, dass dem Kläger das Organisationsdelikt der Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b in Verbindung mit §§ 129, 129a StGB zur Last fiele. Offen bleibe schließlich, ob dem Kläger bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts das Organisationsdelikt der Mitgliedschaft in einer inländischen kriminellen oder terroristischen Vereinigung nach §§ 129, 129a StGB vorzuwerfen wäre. Vor diesem Hintergrund ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sich der Kläger gemessen am deutschen Recht straflos verhalten hat. Diesem Gesichtspunkt misst der Senat Bedeutung zu, auch wenn der Ausnahmetatbestand nicht notwendig die Begehung einer strafbaren Handlung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.07.2011, a.a.O.). Denn um der Funktion des Ausschlussgrundes gerecht zu werden, ist in jedem Fall zu prüfen, ob der individuelle Beitrag ein Gewicht erreicht, das dem der Ausschlussgründe in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AsylVfG entspricht (BVerwG, a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19.11.2013, a.a.O.). An dieser Voraussetzung fehlt es.

Zudem fanden die Handlungen des Klägers nach den Feststellungen des französischen Strafgerichts zwar im Rahmen eines islamistischen Netzwerkes statt, lassen sich aber keiner heute noch existierenden oder sonst allgemein bekannten terroristischen Vereinigung verlässlich zuordnen. Vielmehr hat bereits das Oberlandesgericht Stuttgart in seinem Beschluss vom 07.04.2003 betont, die vom Außenministerium der Französischen Republik am 06.09.2002 übermittelte ergänzende Sachverhaltsdarstellung des Generalstaatsanwalts beim Appellationsgerichtshof vom 04.09.2002 stelle klar, dass Gegenstand des in Frankreich erhobenen Tatvorwurfs nicht die Mitgliedschaft des Klägers in den allgemeinkundig terroristischen Organisationen Groupe Islamique Armé (GIA) oder GIA Deuxième Région sei, die vornehmlich in Algerien operierten und von dort operierenden Personen beherrscht würden, sondern der Aufbau und die Leitung eines Netzwerks, das zwar mit letzterer Organisation in Verbindung gestanden habe, von dieser jedoch völlig unabhängig gewesen sei und gänzlich andere Ziele verfolgt habe. Soweit sich den Unterlagen der Vorwurf entnehmen lasse, das vom Kläger ins Leben gerufene Netzwerk habe die GIA Deuxième Région unterstützt, sei logistisches Zentrum für deren Anführer sowie für deren algerische Untergrundkämpfer gewesen und habe der Beschaffung von Waffen, Sprengstoff und falschen Papieren dienen sollen (Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beim Tribunal de Grande Instance de Paris vom 27.03.2000, S. 14 ff.), fehle es wiederum an der Mitteilung konkreter, dem Kläger zurechenbarer Unterstützungshandlungen. Mithin bestehen auch durchgreifende Zweifel an der notwendigen internationalen Dimension der dem Kläger zuzurechnenden Handlungen. Die Entscheidungen des Oberlandesgerichts Stuttgart aus dem Jahre 2011, die letztlich doch zur Auslieferung des Klägers führten, beinhalten keine andere Wertung, da sie auf der Sonderregelung zum Europäischen Haftbefehl beruhen und keine (nähere) inhaltliche Prüfung der Strafbarkeit nach deutschem Recht voraussetzten. Somit deutet auch weiterhin manches - ebenso die Tatsache, dass der Kläger in erster Instanz freigesprochen worden war - auf einen "Indizienprozess" hin.

Was die die GIA als solche angeht, so dürfte diese zwar ohne Weiteres als terroristisch einzustufen sein, obwohl sie nicht in der sogenannten EU-Terrorliste geführt wird (vgl. Beschluss des Rates 2014/483/GASP als derzeit aktuellste Nachfolgeregelung zum Gemeinsamen Standpunkt des Rates 2001/931/GASP). Allerdings kann die GIA zumindest weitgehend als zerschlagen gelten und existiert manchen Quellen zufolge - wenngleich sie personell zum Teil in anderen Gruppierungen aufgegangen sein mag - bereits seit einigen Jahren gar nicht mehr (vgl. etwa Deutsches Orient-Institut an VG Gießen, 15.01.2011).

Schließlich liegt die Begehung der abgeurteilten Handlungen des Klägers nunmehr über 16 Jahre zurück. Erkenntnisse über andere Vorgänge, die zu seinen Lasten gewertet werden könnten, wurden seither nicht gewonnen. Aufgrund seines Alters von 70 Jahren und seiner schweren Erkrankung dürften vom Kläger wohl auch keine gewichtigen oder umfangreichen politischen Aktivitäten mehr zu erwarten sein. Darauf, ob die vom Kläger abgegebene, mit dem 29.01.2015 datierte "Erklärung für das Gericht", in der er sich zur Gewaltfreiheit bekennt, ein früheres Fehlverhalten aber nicht einräumt und damit auch weder Reue noch Bedauern zum Ausdruck bringt, zusätzlich zu seinen Gunsten gewertet werden könnte, kommt es nicht an. [...]