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OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.10.2014 - 17 A 1150/13 - asyl.net: M22689
https://www.asyl.net/rsdb/M22689
Leitsatz:

§ 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist auch im Rahmen von § 34 Abs. 1 AufenthG anwendbar.

§ 35 AufenthG beinhaltet eine begünstigende Sonderregelung und schließt eine unmittelbar auf § 9 AufenthG gestützte Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht aus.

§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG ist nicht zu entnehmen, dass die dort in Bezug genommenen Gründe alleinursächlich sein müssen.

§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG stellt allein darauf ab, dass der Ausländer die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung aus den in Satz 3 genannten Gründen nicht erfüllen kann; ob derartige Gründe auch in der Person eines anderen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft vorliegen, ist danach ohne Bedeutung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Sicherung des Lebensunterhalts, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Bedarfsgemeinschaft, rückwirkende Erteilung, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Erwerbsunfähigkeit, erwerbsfähig, Behinderung, Schwerbehinderung,
Normen: AufenthG § 34 Abs. 1, AufenthG § 29 Abs. 3 S. 3, AufenthG § 35, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 6, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 26 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

a) Ein Ausländer kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung nur beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hat. Das ist insbesondere der Fall, wenn die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein kann (BVerwG, Urteil vom 09. Juni 2009 – 1 C 7.08 –, NVwZ 2009, 1431 = juris, Rdn. 13; Beschluss vom 02. September 2010 – 1 B 18.10 –, Buchholz 402.242 § 27 AufenthG Nr. 3 = juris, Rdn. 9; Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 C 19.09 –, NVwZ 2011, 236 = juris, Rdn. 13).

Die Klägerin zu 1. macht insoweit geltend, im Falle der rückwirkenden Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen ab dem 1. Januar 2005 erwüchse ihr ein Anspruch auf Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG. Die Beklagte tritt dem entgegen mit der Begründung, die allgemeine Vorschrift des § 9 AufenthG werde bei Ausländern, die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen seien, vor Vollendung des 16. Lebensjahres durch die Sonderregelung in § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gesperrt.

Diese Frage bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner Entscheidung. Denn es steht kein unbeschiedener Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Kindesnachzug im Raum, dessen rückwirkende Stattgabe zur Folge hätte, dass die Klägerin zu 1. im Zeitpunkt des Ablebens ihres Vaters die Verfestigungsvoraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG – fünfjähriger Besitz der Aufenthaltserlaubnis – erfüllt hätte.

Die Maßgeblichkeit des genannten Zeitpunkts für die Eingrenzung des in Betracht kommenden Antragszeitraums ergibt sich aus dem Umstand, dass eine zu Lebzeiten des Vaters – unterstellt – zu erteilen gewesene Aufenthaltserlaubnis zum Kindesnachzug über dessen Tod hinaus nicht hätte verlängert werden können. Die insoweit einschlägige Regelung des § 34 Abs. 1 AufenthG setzt nämlich unter anderem voraus, dass ein personensorgeberechtigter Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder einen anderen der genannten Aufenthaltstitel besitzt. Zwar verfügte und verfügt die Mutter der Klägerin zu 1. – die Klägerin zu 4. – über eine Aufenthaltserlaubnis. Diese beruht jedoch auf § 25 Abs. 5 AufenthG und unterliegt damit der Einschränkung des § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG. Nach dieser Vorschrift wird unter anderem in den Fällen des § 25 Abs. 5 AufenthG ein Familiennachzug nicht gewährt. Das schließt nicht nur die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Kindesnachzug aus, sondern auch die Verlängerung einer solchen Aufenthaltserlaubnis, die in Anknüpfung an das Aufenthaltsrecht des anderen, zwischenzeitlich verstorbenen Elternteils erteilt worden war. Für die Anwendbarkeit des § 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG auch im Rahmen von § 34 Abs. 1 AufenthG spricht, dass letztgenannte Vorschrift bezüglich § 29 AufenthG eine Abweichung allein in Hinblick auf dessen Abs. 1 Nr. 2 zulässt; hieraus ist zu schließen, dass die sonstigen in § 29 AufenthG geregelten Vorgaben und Beschränkungen auch für die Verlängerung einer aus familiären Gründen erteilten Aufenthaltserlaubnis gelten sollen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Oktober 2006 – 11 S 387/06 –, juris, Rdn. 19; ebenso zu § 33 AufenthG: Hamburgisches OVG, Beschluss vom 2. Juni 2008 – 3 Bf 35/05 –, AuAS 2008, 170 = juris, Rdn. 14).

Da der Vater der Klägerin zu 1. am 14. Januar 2012 verstorben ist, kommt ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nur in Betracht, wenn bis spätestens zum 14. Januar 2007 ein entsprechender Antrag gestellt worden ist, der in der Folgezeit weder beschieden noch fallen gelassen worden ist. Hieran fehlt es.

Gemäß dem Antrag ihres Prozessbevollmächtigten ist der Klägerin zu 1. am 13. März 2003 in Hinblick auf ihren Gesundheitszustand ein humanitärer Aufenthaltstitel in Gestalt der seinerzeitigen Aufenthaltsbefugnis mit Gültigkeit bis zum 16. Dezember 2004 erteilt worden. Ihr unter dem 30. November 2004 gestellter formblattmäßiger Verlängerungsantrag enthält zwar die handschriftlichen Eintragungen "Familie", "für immer" und "unbefristet". Hieraus lässt sich indes nicht entnehmen, dass es der Klägerin zu 1. bzw. der für sie handelnden Klägerin zu 4. um einen Wechsel des Aufenthaltszwecks zu tun gewesen wäre. Dagegen spricht bereits die Bezeichnung des Antragsziels als "Verlängerung" des vorgenannten – humanitären – Aufenthaltstitels. Dass die Klägerin zu 1. ihren Antrag in diesem Sinne verstanden wissen wollte, erhellt im Übrigen aus dem Umstand, dass der seinerzeit von ihr und den übrigen Klägern mandatierte Rechtsanwalt Haack mit Schreiben vom 16. September 2005 an die Beklagte darum bat, "über den Antrag meiner Mandanten auf Verlängerung ihrer Aufenthaltsbefugnis bzw. auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Aufenthaltsgesetz" zu entscheiden. Dem entspricht es, dass nach am 7. Oktober 2005 erfolgter Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG weder die Klägerin zu 1. noch ihr damaliger Verfahrensbevollmächtigter Anlass sahen, eine fehlerhafte oder unvollständige Bescheidung des Antrags vom 30. November 2004 zu beanstanden.

Der unter dem 24. Oktober 2006 gestellte weitere formblattmäßige Verlängerungsantrag ist in gleicher Weise formuliert wie derjenige vom 30. November 2004. Für sein Verständnis gilt daher Entsprechendes. Vor dem Hintergrund des vorausgegangenen Verlängerungsverfahrens, der dort erfolgten anwaltlichen Konkretisierung des nämlichen Antragsziels und der anstandslosen Akzeptanz des daraufhin erteilten humanitären Aufenthaltstitels bestand aus Sicht der Beklagten keine Veranlassung zu der Annahme, dass die Klägerin zu 1. nunmehr einen familiären Aufenthaltstitel begehren könnte. Derartiges hat sie auch im Anschluss an die noch am Tag der Antragstellung erfolgte Verlängerung nicht verlautbart.

Weitere Verlängerungsanträge sind erst nach dem 14. Januar 2007 und damit weniger als fünf Jahre vor dem Tod des Kindesvaters gestellt worden mit der - oben dargelegten - Folge, dass sie als Anknüpfungspunkt für eine potentielle Aufenthaltsverfestigung nach Maßgabe von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht in Betracht kommen.

Die von der Klägerin zu 1. erwogene "Fiktion" eines – bis spätestens zum 14. Januar 2007 gestellten – Antrags auf Erteilung einer familiären Aufenthaltserlaubnis kommt nicht in Betracht. Ihrer Erwägung liegt die Annahme zugrunde, die Beklagte habe ihre Beratungspflicht, § 82 Abs. 3 AufenthG, verletzt mit der Folge, dass über einen "Herstellungsanspruch" bzw. einen Folgenbeseitigungsanspruch "nachzudenken" sei. Diese Annahme geht aus doppeltem Grunde fehl: Zum einen besteht in Anbetracht der seinerzeitigen fachkundigen anwaltlichen Vertretung der Klägerin zu 1. kein Anhalt für eine Verletzung behördlicher Beratungspflichten. Zum anderen tragen die geltend gemachten Anspruchsgrundlagen nicht die postulierte Rechtsfolge. Gegenstand eines Folgenbeseitigungsanspruchs ist nicht die Einräumung derjenigen Rechtsposition, die der Betroffene bei rechtsfehlerfreiem Verwaltungshandeln erlangt haben würde. Er ist vielmehr lediglich auf die Wiederherstellung des ursprünglichen, durch hoheitlichen Eingriff veränderten Zustands gerichtet (BVerwG, Urteil vom 15. Juni 2011 – 9 C 4.10 –, BVerwGE 140, 34 ff. = juris, Rdn. 18 m.w.N.; Beschluss vom 14. Juli 2010 – 1 B 13.10 –, Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 35 = juris, Rdn. 3).

Ein Herstellungsanspruch, der darauf gerichtet ist, so gestellt zu werden, wie der Betreffende bei rechtmäßigem Behördenhandeln stehen würde, hat in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, zumal auf dem Gebiet des Ausländerrechts, bislang keine Anerkennung gefunden (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Juli 2012 – 17 B 591/12 –, juris; Rdn. 8; OVG NRW, Beschluss vom 31. Juli 2009 – 18 B 1100/09 –, m.w.N.).

Die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von Amts wegen nach § 33 AufenthG ist schon deshalb nicht möglich, weil diese Vorschrift im Zeitpunkt der Geburt der Klägerin zu 1. noch nicht existierte. Im Übrigen lagen die in der Norm genannten Voraussetzungen seinerzeit nicht vor. Letzteres gilt auch in Bezug auf die bei Geburt der Klägerin zu 1. gültig gewesene Vorgängerregelung in § 21 Abs. 1 AuslG 1990.

b) In Ermangelung eines Anspruchs auf rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen kommt auch eine hieran anschließende Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 AufenthG nicht in Betracht.

2. Die Berufung ist begründet, soweit sie den mit ihr weiterverfolgten Hilfsantrag betrifft. Diesbezüglich hat das Verwaltungsgericht die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin zu 1. kann beanspruchen, dass die Beklagte über ihren Antrag vom 27. Januar 2011 auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidet.

a) Entgegen der Ansicht der Beklagten setzt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG nicht zwingend die Vollendung des 16. Lebensjahres voraus. Eine dahingehende Einschränkung ergibt sich namentlich nicht aus Satz 4 der Vorschrift. Hiernach kann für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, § 35 AufenthG entsprechend angewandt werden. Die in der letztgenannten Vorschrift normierte Altersgrenze für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis abweichend von § 9 Abs. 2 AufenthG hindert indes nicht daran, vor Erreichen der Altersgrenze eine Niederlassungserlaubnis in Gemäßheit von § 9 Abs. 2 AufenthG zu erteilen, wenn die dort genannten Voraussetzungen – und im Fall des § 26 Abs. 4 AufenthG zusätzlich die verlängerte Mindestfrist von sieben Jahren – gegeben sind. Denn § 35 AufenthG beinhaltet eine begünstigende Sonderregelung (so ausdrücklich Nr. 35.0.1 AVV-AufenthG; ebenso: Dienelt, in: Renner u.a. (Hrsg.), Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, Rdn. 4 zu § 35 AufenthG; Eberle, in: Storr u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Auflage 2008, Rdn. 3 zu § 35 AufenthG; HK-AuslR/Oberhäuser, 2008, Rdn. 3 zu § 35 AufenthG), und schließt eine unmittelbar auf § 9 AufenthG gestützte Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht aus (so ausdrücklich Nr. 9.2.0 AVV-AufenthG; ebenso: Hailbronner, Ausländerrecht, Rdn. 5 zu § 35 AufenthG (Stand: November 2012); Marx, in: GK-AufenthG, Rdn. 16 zu § 35 (Stand: Juni 2008); HK-AuslR/Müller, 2008, Rdn. 4 zu § 9 AufenthG).

Aus dem von der Beklagten angeführten Beschluss des OVG NRW vom 06. Juli 2006 – 18 E 1500/05 –, (InfAuslR 2006, 407) ergibt sich nichts anderes. Die dort getroffene Feststellung, dass § 9 Abs. 2 AufenthG keine Anwendung findet, sofern hinsichtlich eines bestimmten Aufenthaltszwecks Sonderregelungen für die Erlangung einer Niederlassungserlaubnis bestehen, betraf die Frage der Herleitbarkeit eines Versagungsgrundes aus § 9 Abs. 2 AufenthG, wenn sämtliche Voraussetzungen der Spezialregelung – im zugrunde liegenden Fall: § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG – vorliegen. Darum geht es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht. Es stellt sich hier vielmehr die umgekehrte Frage, ob bei Nichterfüllung der Voraussetzungen einer von den Anforderungen des § 9 Abs. 2 AufenthG dispensierenden Spezialregelung die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG möglich ist, wenn dessen Voraussetzungen vorliegen. Hierzu verhält sich der Beschluss nicht.

b) Nach § 26 Abs. 4 AufenthG kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach Abschnitt 5 besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 AufenthG gilt entsprechend.

Die hiernach erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis liegen vor:

Die Klägerin zu 1. besitzt seit – mehr als – sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Die Besitzkette weist jedenfalls seit dem 24. Oktober 2006 keine Unterbrechungen auf. Zwar wurde der Verlängerungsantrag zweimal verspätet gestellt (am 4. September 2009 und am 15. November 2010) mit der Folge, dass jeweils die Fortbestehensfiktion, § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, nicht Platz griff. Indes hat die Beklagte in beiden Fällen die zunächst entstandene Lücke in der Legalität des Aufenthalts durch rückwirkende Verlängerungen der Aufenthaltserlaubnis (am 4. September 2009 per 21. August 2009 und am 22. Dezember 2010 per 21. August 2010) geschlossen.

Die Anforderungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 8 AufenthG finden auf die Klägerin zu 1. gemäß § 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine Anwendung, da sie vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis war. Die Erfordernisse des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 und 6 AufenthG sind nicht einschlägig, da die Klägerin zu 1. nicht Arbeitnehmerin ist.

Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG und des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 AufenthG i.V.m. § 2 Abs. 4 AufenthG werden erfüllt.

Die Anforderungen an das sprachliche Vermögen, § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG, sind bei Ausländern, die – wie die Klägerin zu 1. – vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis waren, gemäß § 104 Abs. 2 Satz 1 AufenthG dahin abgesenkt, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich müssen verständigen können. Dass die Klägerin zu 1., die ausweislich des schulärztlichen Gutachtens gemäß § 12 Abs. 3 AO-SF vom 18. Juni 2007 zweisprachig Albanisch / Deutsch aufwächst und seit 2007 eine Förderschule besucht, hierzu in der Lage ist, wird von der Beklagten nicht in Frage gestellt.

Allerdings fehlt es an der nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Lebensunterhaltssicherung. Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann, § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Zu einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung ist die Klägerin zu 1. nach übereinstimmender Einschätzung der Beteiligten aufgrund ihrer Behinderung gegenwärtig und in Zukunft nicht in der Lage. Aus ebendiesem Grund kommt ihr jedoch die Rechtswohltat des – gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG entsprechend geltenden – § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG zugute. Hiernach wird unter anderem von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen, wenn der Ausländer sie aus den in Satz 3 genannten Gründen, also wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung, nicht erfüllen kann. So liegt es im Fall der Klägerin zu 1.

Der Umstand, dass sie gegenwärtig auch wegen ihres Alters zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht in der Lage ist, steht der Einschlägigkeit von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht entgegen. Denn der Norm ist nicht zu entnehmen, dass die dort in Bezug genommenen Gründe alleinursächlich sein müssen. Der Wortlaut der Vorschrift enthält keinen dahingehenden Vorbehalt. Auch ihr Zweck gibt nichts her für ein solches Normverständnis. Aus den Gesetzgebungsmaterialien zur Ausnahmevorschrift des heutigen § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG ergibt sich, dass "behinderten Ausländern" eine Aufenthaltsverfestigung ermöglicht und verhindert werden soll, dass "Behinderte" benachteiligt werden, wenn sie wegen ihrer Behinderung nicht arbeiten können (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 72). Dieser Schutzzweck greift unabhängig davon Platz, ob der betroffene Ausländer auch aus anderen Gründen an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gehindert ist. Dies gilt namentlich dann, wenn der weitere Hinderungsgrund – wie vorliegend das noch jugendliche Lebensalter – temporärer Natur ist. Es besteht kein sachlicher Grund, einem Ausländer, der behinderungsbedingt niemals seinen Lebensunterhalt eigenständig wird sicherstellen können, die Rechtswohltat des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG zu versagen, weil er vorübergehend auch altersbedingt hierzu nicht in der Lage ist.

Der Senat teilt auch nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG finde auf die Klägerin zu 1. keine Anwendung, weil die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebende Klägerin zu 4. ihrerseits nicht durch die dort genannten Gründe an der Ausübung einer den Lebensunterhalt der Familie sicherstellenden Erwerbstätigkeit gehindert und daher die krankheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit der Klägerin zu 1. "nicht (…) kausal" für die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts sei.

Abgesehen davon, dass die Klägerin zu 4. inzwischen nach ärztlicher Einschätzung selbst eine "hilflose Person" ist und ihr ein Grad der Behinderung von 100 bescheinigt ist, findet diese Betrachtungsweise im Wortlaut von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG keine Stütze. Dieser stellt allein darauf ab, dass der Ausländer die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung aus den in Satz 3 genannten Gründen nicht erfüllen kann (zur Maßgeblichkeit der Verhältnisse in der Person des Ausländers vgl. auch BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2008 – 1 C 34.07 –, NVwZ 2009, 246 = juris, Rdn. 15). ob derartige Gründe auch in der Person eines anderen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft vorliegen, ist danach ohne Bedeutung.

Nichts anderes ergibt sich aus der vom Verwaltungsgericht angeführten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 16. November 2010 – 1 C 21.09 –, BVerwGE 138, 148 = juris, Rdn. 14 ff., und vom 16. August 2011 – 1 C 4.10 –, NVwZ-RR 2012, 333 = juris, Rdn. 14). Hiernach ist bei der Prüfung der Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht allein auf den Bedarf des die Niederlassungserlaubnis erstrebenden Ausländers, sondern auf den Gesamtbedarf der in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Kernfamilie abzustellen. Der vom Verwaltungsgericht hieraus gezogene Umkehrschluss, dass die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht nur durch eigene Erwerbstätigkeit des Ausländers, sondern auch durch Unterhaltsleistungen eines in Bedarfsgemeinschaft mit dem Ausländer lebenden Familienangehörigen erfüllt werden kann, ist zwar zutreffend (zur Sicherung des Lebensunterhalts eines Ausländers durch Unterhaltsleistungen von Familienangehörigen vgl. etwa Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. Juni 2013 – 10 C 13.881 –, juris, Rdn. 15; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Rdn. 94 zu § 2 (Stand: Mai 2014); ebenso Nr. 2.3.4.1 AVV-AufenthG).

Hieraus folgt indes nicht, dass im Falle des Ausbleibens von Unterhaltsleistungen eine krankheits- oder behinderungsbedingte Erwerbsunfähigkeit des Ausländers "nicht kausal" für die fehlende Lebensunterhaltssicherung und daher die Einschlägigkeit von § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG zu verneinen wäre.

Auch der oben dargestellte Zweck dieser Vorschrift vermag die vom Verwaltungsgericht vorgenommene einschränkende Auslegung nicht zu tragen. Der hiernach intendierte Schutz "behinderter Ausländer" vor einer aufenthaltsrechtlichen Benachteiligung liefe leer, wenn der behinderungsbedingt erwerbsunfähige Ausländer deshalb von der Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung ausgeschlossen wäre, weil ein mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebendes anderes Mitglied der Kernfamilie davon absieht, den Lebensunterhalt der Familie durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen. [...]