Bei der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts gem. § 5 Abs. 4 FreizügG/EU sind unter anderem die für den Aufenthalt von Unionsbürgern vorgesehenen Regelungen des AEUV - insbesondere die Bedeutung der Freizügigkeit von Unionsbürgern - sowie der Unionsbürgerrichtlinie zum Gegenstand der Ermessensentscheidung zu machen.
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Der Bescheid der Beklagten vom 23.01.2014, mit dem der Verlust des Freizügigkeitsrechts der Klägerin festgestellt wurde, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
Gern. § 5 Abs. 4 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen. Auch ein von Anfang an nicht freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger wird erst ausreisepflichtig, wenn festgestellt worden ist, dass ein Freizügigkeitsrecht nicht besteht; diese Feststellung wird auch für ursprünglich nicht Freizügigkeitsberechtigte in § 7 Abs. 1 FreizügG/EU vorausgesetzt, ohne dass sie ausdrücklich geregelt wäre, vgl. auch § 11 Abs. 2 FreizügG/EU (vgl. hierzu auch: Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, Stand: April 2014, D 1, § 5, Rn. 23 ff.).
Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts der Klägerin durch die Beklagte stellt sich als materiell rechtswidrig dar. Dabei kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen für die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts vorliegen. Denn die Beklagte hat zumindest das ihr zustehende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.
Zunächst einmal bestehen zumindest Zweifel an der Einschätzung der Beklagten, dass die Klägerin keine der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erfüllt. So hat sich die Beklagte in ihrem streitgegenständlichen Bescheid weder mit dem Umstand befasst, dass das Finanzamt Osnabrück-Land die Klägerin offensichtlich als selbständig tätige Prostituierte eingestuft hatte (vgl. hierzu § 2 Abs. 2 Ziffer 2 FreizügG/EU), noch damit, dass die Klägerin dieser Tätigkeit möglicherweise unfreiwillig nachging. Des Weiteren hat sie den psychischen Zustand der Klägerin, der zumindest teilweise auch aus dem Erlebten hier in Deutschland resultieren könnte, nicht gewürdigt. Sie hat auch die mögliche Bedingung einer Erwerbsfähigkeit (vgl. §§ 7 ff. SGB II, als Abgrenzung zu den Leistungen nach dem SGB XII) oder eine (möglicherweise vorübergehende) Erwerbsunfähigkeit der Klägerin bzw. eine eventuell anzustellende Prognose nicht mit dem insbesondere europarechtlich weit auszulegenden Arbeitnehmerbegriff des § 2 Abs. 1 Ziffer 1 FreizügG/EU abgeglichen. Auch der von der Beklagten aufgezeigte, alleinige Bezug von Leistungen des Jobcenters sowie die fehlende Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts sind nicht ausreichend, um die mangelnde Erfüllung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU darzulegen.
Unabhängig von diesen Bedenken hat die Beklagte allerdings zumindest ihr Ermessen gem. § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nicht ordnungsgemäß ausgeübt.
Bei der gebotenen umfassenden Ermessensausübung sind die eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigenden öffentlichen Belange gegen die privaten Interessen der Klägerin am weiteren Verbleib in Deutschland abzuwägen. Dabei sind, da die Verlustfeststellung die Ausreisepflicht zur Folge hat, die in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten Umstände, die Grundrechte und die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zu beachten (vgl. Epe, in: GK-AufenthG, Stand: Juli 2014, IX - 2 § 5 FreizügG/EU, Rn. 62, m.w.N.).
Die Beklagte hat in ihrer Ermessensentscheidung die Dauer des Aufenthalts der Klägerin im Bundesgebiet sowie die Frage nach möglichen persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet eingestellt. Sie hat außerdem berücksichtigt, dass die Kinder der Klägerin in Bulgarien leben und sie am 15.10.2013 zu Protokoll gegeben habe, dass sie beabsichtige, dauerhaft zu ihren Kindern nach Bulgarien auszureisen. Schließlich hat die Beklagte auch angeführt, dass der weitere Aufenthalt der Klägerin Belange der Bundesrepublik Deutschland berühre, da sie nicht in der Lage sei, ihren Lebensunterhalt selbständig zu sichern.
Die Beklagte hat damit zwar ansatzweise auch die Situation der Klägerin bei einer Rückkehr nach Bulgarien in den Blick genommen. Sie hat dabei aber nicht mögliche Eingliederungsschwierigkeiten einbezogen (vgl. hierzu auch: VG Regensburg, Beschl. v. 14.02.2014, RO 9 S 14.110, juris, Rn. 37), die sich gerade aus dem psychischen Zustand der Klägerin (vgl. hierzu: Fachärztliche Bescheinigung des Prof. Dr. med. ... vom 21.01.2014) und dem möglichen Fehlen einer Erwerbsfähigkeit ergeben könnten. Sie hat auch nicht die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in ihrer Entscheidung vom 14.08.2014 berücksichtigten Informationen des Auswärtigen Amtes vom 09.07.2014 sowie die Begründung des Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 5 AufenthG herangezogen. Ebenfalls hat sie die oben bereits auf Tatbestandsseite aufgeführten Besonderheiten im Falle der Klägerin, nämlich z.B., dass diese zur Prostitution offenbar gezwungen wurde, nicht hinreichend gewürdigt. Schließlich hat sie auch die für den Aufenthalt von Unionsbürgern vorgesehenen Regelungen des AEUV - insbesondere die besondere Bedeutung der Freizügigkeit von Unionsbürgern - sowie der Unionsbürgerrichtlinie nicht ansatzweise zum Gegenstand ihrer Entscheidung gemacht.
Dass im Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheides noch nicht alle dieser Punkte bekannt waren, ist unerheblich, da bei der gerichtlichen Überprüfung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber Unionsbürgern auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen ist. Insoweit trifft die Ausländerbehörde eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer aufenthaltsbeendenden Maßnahme (BVerwG, Urt. v. 03.08.2004, 1 C 30.02, juris Rn. 30). Dass die Beklagte auch nach Durchführung eines Erörterungstermins keine neuen Ermessenserwägungen angestellt bzw. diese Ermessensfehler durch ein etwaiges Nachschieben von relevanten Ermessenserwägungen nicht versucht hat zu beheben, geht zu ihren Lasten. [...]