OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.11.2014 - 6 B 20.14 (= ASYLMAGAZIN 3/2015, S. 89 ff.) - asyl.net: M22579
https://www.asyl.net/rsdb/M22579
Leitsatz:

1. Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten haben bei der Erteilung eines einheitlichen Visums nach dem Visakodex keinen Ermessensspielraum. Wenn die Erteilungsvoraussetzungen erfüllt sind und keine Versagungsgründe vorliegen, ist das Visum zu erteilen.

2. Bei der Bewertung der maßgeblichen Tatsachen, ob begründete Zweifel an der Rückkehrabsicht des Antragstellers bestehen, kommt den zuständigen Behörden ein Beurteilungsspielraum zu, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist und bei Beurteilungsfehlern zur Kassation und Verpflichtung zur Neubescheidung führt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Visum, Visakodex, Schengen-Visum, Besuchsvisum, Ermessen, Rückkehrbereitschaft, Rückkehrabsicht, begründete Zweifel,
Normen: AufenthG § 6 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 6 Abs. 2, VO 810/2009 Art. 32 Abs. 1 Bst. b, VO 810/2009 Art. 32,
Auszüge:

[...]

1. Das Verfahren und die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für Kurzaufenthalte werden durch den Visakodex geregelt (Verordnung <EG> Nr. 810/2009 vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft, ABl. L 243, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung vom 26. Juni 2013, ABl. L 182, S. 1, ber. ABl. L 154, S. 10). Die das Schengen-Visum betreffenden Vorschriften in § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG haben demgegenüber keine eigenständige Bedeutung.

a) Die Erteilung eines einheitlichen Visums kommt nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. b Visakodex nicht in Betracht, wenn begründete Zweifel an der Absicht des Antragstellers bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Dezember 2013 - C-84/12 - (juris) verlangt diese Bestimmung von den zuständigen Behörden nicht, Gewissheit zu erlangen, ob der Antragsteller beabsichtigt, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. Sie haben vielmehr festzustellen, ob begründete Zweifel an dieser Absicht bestehen. Zu diesem Zweck müssen sie eine individuelle Prüfung des Antrags vornehmen, die zum einen die allgemeinen Verhältnisse im Wohnsitzstaat des Antragstellers und zum anderen seine persönlichen Umstände, insbesondere seine familiäre, soziale und wirtschaftliche Situation, etwaige frühere rechtmäßige oder rechtswidrige Aufenthalte in einem Mitgliedstaat sowie seine Bindungen im Wohnsitzstaat und in den Mitgliedstaaten berücksichtigt. Es obliegt dabei dem Antragsteller, Unterlagen vorzulegen, anhand deren seine Rückkehrabsicht beurteilt und etwaige Zweifel entkräftet werden können, die u.a. durch die allgemeinen Verhältnisse in seinem Wohnsitzstaat oder allgemein bekannte Migrationsbewegungen zwischen diesem Staat und den Mitgliedstaaten ausgelöst werden können (vgl. zum Ganzen EuGH, a.a.O., Rn. 64 ff.; Anm. von Huber, in: NVwZ 2014, 293).

b) Die Entscheidung der Beklagten ist gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar; denn die zuständigen Behörden verfügen bei der Prüfung der Visa-Anträge über einen weiten Beurteilungsspielraum. Dazu im Einzelnen:

Der EuGH hat in dem genannten Vorlageverfahren auf die ihm unterbreitete Frage, ob der Visakodex einen gebundenen Anspruch begründet, wenn die Einreisevoraussetzungen erfüllt und keine Verweigerungsgründe gegeben sind, geantwortet, dass die zuständigen Behörden ein solches Visum nur dann verweigern dürfen, wenn ihm einer der in diesen Bestimmungen aufgezählten Gründe für die Verweigerung des Visums entgegengehalten werden kann, dass aber die betreffenden Behörden bei der Prüfung dieses Antrags gleichwohl über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen, der sich sowohl auf die Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschriften als auch auf die Würdigung der Tatsachen bezieht, die für die Feststellung maßgeblich sind, ob dem Antragsteller einer dieser Verweigerungsgründe entgegengehalten werden kann (a.a.O., Rn. 63).

Zur Begründung des angenommenen Beurteilungsspielraums hat der EuGH ausgeführt, dass die Beurteilung mit komplexen Bewertungen verbunden ist, die sich u.a. auf die Persönlichkeit des Antragstellers, seine Integration in dem Land, in dem er lebt, die politische, soziale und wirtschaftliche Lage dieses Landes sowie die mit der Einreise des Antragstellers möglicherweise verbundene Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats beziehen. Solche komplexen Bewertungen erfordern eine Prognose über das voraussichtliche Verhalten des betreffenden Antragstellers und müssen u. a. auf einer vertieften Kenntnis seines Wohnsitzstaats sowie auf der Analyse verschiedener Dokumente, deren Echtheit und Wahrheitsgehalt zu überprüfen sind, und der Aussagen des Antragstellers, deren Glaubwürdigkeit zu beurteilen ist, beruhen (a.a.O. Rn 56 f.).

Die Antwort des EuGH auf die ihm gestellte Frage nach dem gebundenen Anspruch kann bei verständiger Würdigung nur so gedeutet werden, dass das Visum zu erteilen ist, wenn die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen und keine Verweigerungsgründe bestehen. In diesen Fällen besteht also ein Anspruch des Antragstellers auf Erteilung. Der Behörde verbleibt auf Rechtsfolgenseite kein Ermessen (so schon OVG Berlin Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010 - OVG 2 B 16.09 - juris).

Der Hinweis des EuGH auf einen (gleichwohl) bestehenden weiten Beurteilungsspielraum ändert daran nichts; denn dieser Hinweis bezieht sich auf die tatbestandliche Würdigung durch die Behörde. Das mag noch nicht aus dem verwendeten Begriff folgen, dessen unionsrechtliches Verständnis nicht dem deutschen Sprachgebrauch entsprechen muss. Es folgt aber eindeutig aus der Antwort des Gerichts, wonach sich der Beurteilungsspielraum "auf die Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschriften als auch auf die Würdigung der Tatsachen" bezieht, und zwar "insbesondere" auf die Prüfung, ob begründete Zweifel an der Rückkehrabsicht bestehen (a.a.O. Rn. 62).

aa) Daraus ergeben sich zum einen Konsequenzen für die gerichtliche Kontrolldichte. Der Beurteilungsspielraum der Behörde, den der EuGH konstatiert hat, bedeutet eine Einschränkung der Kontrolle durch das nationale Gericht. Soweit die behördliche Entscheidung danach auf wertenden Betrachtungen beruht, ist die Kontrolle beschränkt auf die Prüfung, ob die Behörde von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat. Dieser Maßstab - und nicht etwa eine noch weiter zurückgenommene Kontrolle (so aber VG Berlin, Urteil vom 28. März 2014 - VG 4 K 75.13 V -) - entspricht der insoweit maßgeblichen nationalen Verfahrensausgestaltung (vgl. zur Kontrolldichte bei Bestehen eines Beurteilungsspielraum nur BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 2011 - BVerwG 1 WB 12.11 - juris m. w. Nachw.). Die Ausgestaltung von gerichtlichen Verfahren, die den Schutz der aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen, ist nämlich mangels gemeinschaftlicher Regelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, wobei diese Verfahren nicht ungünstiger gestaltet sein dürfen als bei entsprechenden Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (EuGH, Urteil vom 21. Januar 1999 - C-120/97 - juris).

Die aus der Annahme eines Beurteilungsspielraums folgende Reduzierung der Kontrolldichte verstößt nicht gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 6 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 13 EMRK und nach Art. 47 GRCh. Allerdings gebietet effektiver Rechtsschutz, dass die Gerichte die Verwaltungstätigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht grundsätzlich vollständig nachprüfen (vgl. zu Art. 19 Abs. 4 GG BVerfG, Beschlüsse vom 5. Februar 1963 - 2 BvR 21/60 - BVerfGE 15, 275 <282>, vom 22. Oktober 1986 - 2 BvR 197/83 - BVerfGE 73, 339 <373> und vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81 u.a. - BVerfGE 84, 34 <49>). Das gilt auch im Anwendungsbereich relativ unbestimmter Gesetzestatbestände und -begriffe. Der Normgeber kann aber der Verwaltung für bestimmte Fälle einen Beurteilungsspielraum einräumen und damit anordnen, dass sich die gerichtliche Nachprüfung auf die Einhaltung der rechtlichen Grenzen dieses Spielraums zu beschränken habe. Rechtsnormen ist unter anderem dann eine Beurteilungsermächtigung für die Verwaltung zu entnehmen, wenn der zu treffenden Entscheidung in hohem Maße wertende Elemente anhaften (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 - 3 C 8.06 -). So liegt es hier nach der Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH, über die sich der Senat nicht hinwegsetzen kann.

bb) Prozessuale Konsequenz ist, dass das Gericht, soweit ein Beurteilungsspielraum besteht und nicht nach Lage des Falles auf eine allein in Betracht kommende Bewertung reduziert ist, bei entscheidungserheblichen Beurteilungsfehlern nicht anstelle der Behörde durchentscheiden, sondern die Entscheidung kassieren und die Sache zur erneuten Bescheidung an die Behörde zurückverweisen muss. Insoweit gilt nichts anderes als bei Ermessensfehlern.

2. Hieran gemessen ist die behördliche Wertung, dass begründete Zweifel an der Rückkehrabsicht des Klägers bestehen, nicht zu beanstanden. Die Beklagte ist von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen, hat den anzuwendenden Begriff der Rückkehrabsicht und den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, richtig erkannt, keine allgemeingültigen Wertmaßstäbe missachtet und keine sachfremden Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen.

Die Beklagte hat ausweislich ihres bisherigen und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat noch einmal zusammengefassten Vortrags maßgeblich nicht mehr auf die strafrechtlichen Vorwürfe gegen den einladenden Sohn abgestellt, sondern darauf, dass die Lage afghanischer Staatsbürger im Iran allgemein schwierig sei und ein starker Migrationsdruck herrsche, sowie darauf, dass der Kläger auch nach seinen persönlichen Umständen im Iran nicht hinreichend verwurzelt sei und außerdem starke familiäre Bindungen in den Schengen-Raum bestünden. Diese Wertung ist plausibel und nachvollziehbar. Der Kläger lebt mit seiner Ehefrau als Flüchtling aus Afghanistan im Iran (lediglich) auf der Grundlage turnusmäßig verlängerter Aufenthaltsgenehmigungen. Seine fünf Kinder leben mittlerweile alle im Schengen-Raum (vier Söhne in Deutschland, eine Tochter in Belgien) in wirtschaftlich, sozial und aufenthaltsrechtlich gesicherten Verhältnissen. Der ihn einladende Sohn ... ist nach eigenen Angaben Inhaber eines Unternehmens in Frankfurt am Main mit 8 Betrieben und 50 Mitarbeitern und verfügt über erhebliches Vermögen. Zwei der vier Geschwister des Klägers leben seit über 20 Jahren in Deutschland. Hinzu kommt, dass der Kläger im Iran nicht verwurzelt ist. Es ist nicht sein Heimatland, sondern Zufluchtsort. Er geht dort keiner regelmäßigen Arbeit mehr nach, sondern ist nach eigenen Angaben Rentner. Da afghanische Staatsbürger im Iran kein Grundeigentum erwerben können, ist seine Rechtsposition im Hinblick auf das Haus und die Wohnung, die er nach seinen Angaben erworben hat und teilweise vermieten möchte, nicht gesichert und so oder so abhängig vom Wohlverhalten des formalen Eigentümers. Ähnliches gilt für die Beteiligung an dem Dekor- bzw. Möbelgeschäft, zumal der Beteiligungsvertrag nach den vorgelegten Erklärungen nicht vom Kläger, sondern von einem seiner Söhne mit dem iranischen Partner geschlossen worden ist. Angesichts dieser Gesamtumstände durfte die Beklagte ohne Wertungsfehler der Tatsache, dass der Kläger anders als bei vorherigen Einreiseversuchen dieses Mal ohne seine Ehefrau nach Deutschland einreisen möchte, sie also im Iran zurückbleibt, kein ausschlaggebendes Gewicht beimessen.

Der durch Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh gewährte Schutz der Familie gebietet keine andere Risikobewertung, da nicht dargelegt oder ersichtlich ist, dass der Kontakt des Klägers zu seinen erwachsenen Kindern nicht auf andere Weise aufrecht erhalten werden kann, zumal der einladende Sohn des Klägers im Verfahren vorgetragen hat, seine Eltern im Iran regelmäßig zu besuchen.

3. Der Kläger kann ferner kein Visum mit beschränkter Gültigkeit nur für das deutsche Hoheitsgebiet gemäß Art. 25 VK beanspruchen.

Der Erteilung eines derartigen Besuchsvisums, das im Antrag auf Erteilung eines Schengenvisums als Minus mit enthalten ist, stehen die Verweigerungsgründe in Art. 32 VK und damit auch das Vorliegen begründeter Zweifel an der Rückkehrabsicht zwar nicht entgegen, wenn es der betreffende Mitgliedstaat etwa aus humanitären Gründen wegen besonderer familiärer Bindungen für erforderlich hält, vom Vorliegen der Einreisevoraussetzungen, wozu auch die Verhinderung illegaler Einwanderungen zählt, abzuweichen. Das kommt allerdings bei Vorliegen begründeter Zweifel an der Rückkehrwilligkeit des Ausländers nur in Ausnahmefällen im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung in Betracht (BVerwG, Urteil vom 11. Januar 2011 - 1 C 1.10 - juris Rn. 28).

Ein solcher Ausnahmefall ist hier weder dargelegt noch ersichtlich. Insbesondere ist die Ablehnung auch vor dem Hintergrund nicht unverhältnismäßig, dass der Kläger nicht zwingend auf einen Besuch seiner erwachsenen Kinder in Deutschland angewiesen ist, da der Kontakt auch auf anderem Wege aufrechterhalten werden kann, nämlich über Gegenbesuche im Iran, über das Internet als auch über Briefe und Telefonate (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 34). [...]