VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 12.11.2014 - 3 K 7539/13.A - asyl.net: M22577
https://www.asyl.net/rsdb/M22577
Leitsatz:

Ein Betroffener, der sich im offenen Kirchenasyl befindet, das der Behörde bekannt ist, ist nicht flüchtig. Die Einräumung des sogenannten Kirchenasyls als solches stellt kein rechtliches Hindernis für eine Abschiebung dar. Vielmehr haben die zuständigen Behörden insoweit in eigener Verantwortung zu entscheiden, ob sie den Vollzug fortsetzen. Sehen sie hiervon ab, hemmt dies den Ablauf der Überstellungsfrist gem. § 19 Abs. 4 Dublin II-VO nicht.

Schlagwörter: flüchtig, Untertauchen, Kirchenasyl, Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Abdullahi, EuGH, subjektives Recht, Fristhemmung, Hemmung der Frist, rechtliches Hindernis, Fristablauf, Ablauf der Überstellungsfrist,
Normen: VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Zwischenzeitlich ist jedoch die Überstellungsfrist des Art. 19 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II VO) abgelaufen und damit die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik übergegangen. Die 6-Monatsfrist ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung verstrichen; die Frist lief am 21.04.2014 ab.

Die Frist hat sich auch nicht bis zum 21.04.2015 verlängert, wie das Bundesamt meint. Zwar kann die Frist gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II VO höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Diese Voraussetzungen liegen indes nicht vor. Denn der Kläger ist weder flüchtig im Sinne der Vorschrift noch untergetaucht. Vielmehr befindet sich der Kläger im sogenannten offenen Kirchenasyl, was der zuständigen Ausländerbehörde seit dem 11.04.2014 ausweislich eines entsprechenden Vermerks in der beigezogenen Ausländerakte bekannt ist. Ein dem Untertauchen vergleichbarer Sachverhalt liegt in diesen Fällen nicht vor, wie auch im übrigen das Bundesamt ausweislich der von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers vorgelegten Bundestagsdrucksache - BT-Drs 17/13724, S. 11 - Antwort der Bundesregierung vom 25.06.2013 auf eine Anfrage verschiedener Abgeordneter, zu Frage 9 - selbst vertreten hat. Denn die Einräumung des sog. Kirchenasyls als solches stellt kein rechtliches Hindernis für eine Abschiebung dar. Vielmehr haben die zuständigen Behörden insoweit in eigener Verantwortung zu entscheiden, ob sie den Vollzug fortsetzen. Sehen sie hiervon ab, hemmt dies den Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 19 Abs. 4 Dublin II VO nicht und auch die Verlängerungsmöglichkeiten des Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II VO scheiden aus.

Vor diesem Hintergrund kam es nicht mehr auf die Frage an, ob die Verlängerungsmöglichkeit bereits schon deshalb nicht mehr besteht, weil das Bundesamt die französischen Behörden vor Ablauf der Überstellungsfrist am 21.04.2014 nicht informiert hat (vgl. hierzu z. B. VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 08.10.2014 - Au7 K 14.30121 -).

Ist der Bescheid der Beklagten damit im entscheidungserheblichen Zeitpunkt rechtswidrig, so verletzt er den Kläger auch in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Denn der Ablauf der Frist des Art. 19 Abs. 4 Dublin II VO führt zum Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedstaat. Damit verletzt eine Entscheidung, die die Durchführung eines Asylverfahrens ablehnt, das Recht des Asylbewerbers auf Durchführung eines Asylverfahrens.

Dieser Auffassung steht die Rechtsprechung des EuGH nicht entgegen. Der EuGH hat insbesondere in seinem Urteil vom 10.12.2013 - C-394/12 - Abdullahi - entschieden, dass bei einer Zustimmung des Mitgliedstaats der ersten Einreise zur Aufnahme gemäß der Vorschrift des Art. 10 Abs. 1 der Dublin-II-VO, der Asylbewerber einer darauf beruhenden Abschiebungsandrohung nur mit der Darlegung systemischer Mängel im Asylverfahren in diesem Mitgliedstaat entgegen treten kann (vgl. EuGH, aaO, juris Rz. 60).

Die Kammer folgt nicht der in der Rechtsprechung wohl überwiegend vertretenen Auffassung, mit dieser Entscheidung sei auch klargestellt, dass auch der Ablauf der Überstellungsfrist die subjektive Rechtsposition des Asylbewerbers nicht berühre (so etwa VG Würzburg, Beschluss vom 11.06.2014 - W 6 S 14.50065 - juris Rz. 18 f. m.w.N.; VG Stuttgart, Urteil vom 28.02.2014 - A 12 K 383/14 - juris Rz. 23; VG Berlin, Beschluss vom 19.03.2014 - 33 L 90.14 A - juris Rz. 8, letztlich offen gelassen von OVG NRW, Urteil vom 07.03.2014 - 1 A 21/12.A - juris Rz. 42 ff. und VGH BW, Urteil vom 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rz. 33; dagegen aber VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 08.10.2014 - Au 7 K 14.30121 - juris Rz. 30, m.w. N., VG Oldenburg, Urteil vom 07.07.2014 - 3 A 416/14 - juris Rz. 38 ff., VG Göttingen, Beschluss vom 30.06.2014 - 2 B 86/14 - juris Rz. 16 ff. und VG Magdeburg, Urteil vom 28.02.2014 - 1 A 413/13 - juris Rz. 21).

Denn der EuGH hat in der Entscheidung ausdrücklich klargestellt, sich nur zu Normen des dritten Kapitels der Dublin-II-VO, die die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates enthalten, zu äußern (vgl. EuGH, aaO, Rz. 49).

Diese Bestimmungen verhalten sich jedoch nur zur erstmaligen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und betreffen gerade nicht die Folgen eines späteren Zuständigkeitswechsels (vgl. im einzelnen mit weiterer ausführlicher Begründung VG Köln, Urteil vom 27.08.2014 - 3 K 411/14.A zu Art. 29 Abs. 1 Dublin III VO).

Nach Auffassung der Kammer muss auch in Fällen der vorliegenden Art sichergestellt sein, dass das Ziel der Gewährleistung eines umfassenden Rechtsschutzes, vgl. Art. 19 Abs. 4 GG, nicht reduziert wird. Denn Art. 19 Abs. 4 Dublin II VO soll gerade auch dem schutzwürdigen Interesse des Flüchtlings dienen, dass sein Schutzgesuch - nach Ablauf eines gewissen Zeitraums, welcher der Klärung von Zuständigkeitsfragen vorbehalten ist - in angemessener Zeit geprüft wird (so auch VG Arnsberg [richtig: Augsburg], Gerichtsbescheid vom 08.10.2014 - Au 7 K 14.30121; VG Magdeburg, Urteil vom 28.02.2014 - 1 A 413/13 - jeweils mit weiteren Nachweisen). [...]