VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 06.08.2014 - A 3 K 2255/13 - asyl.net: M22569
https://www.asyl.net/rsdb/M22569
Leitsatz:

Die Lage für von Verfolgung wegen vermeintlicher Unterstützung terroristischer Gruppen Betroffene in Kabardino-Balkarien ist nach den Quellen mit der in Tschetschenien und Dagestan vergleichbar. Es ist damit zu rechnen, dass Sicherheitskräfte Folter zur Erzielung von "Fahndungserfolgen" gegenüber Personen anwenden, die verdächtigt werden, Kontakte zu gewalttätigen islamistischen Gruppen zu haben.

Schlagwörter: Russische Föderation, Kabardino-Balkarien, Folter, islamistische Gruppe, Islamisten, terroristische Vereinigung, Terrorverdacht, Glaubwürdigkeit, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 4, AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Es obliegt dem Schutz vor Verfolgung Suchenden, die Voraussetzungen hierfür glaubhaft zu machen. Er muss in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, seinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen. Ein in diesem Sinne schlüssiges Schutzbegehren setzt im Regelfall voraus, dass der Schutz Suchende konkrete Einzelheiten seines individuellen Verfolgungsschicksals vorträgt und sich nicht auf unsubstantiierte allgemeine Darlegungen beschränkt. Er muss nachvollziehbar machen, wieso und weshalb gerade er eine Verfolgung befürchtet.

Dies ist dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gelungen. Der Einzelrichter ist zur Überzeugung gelangt, dass der Kläger im August 2012 in Naltschik unter dem Verdacht "Terrorist" zu sein und eine terroristische Gruppe mit Waffen beliefert zu haben, von örtlichen Sicherheitskräften festgenommen und zur Erpressung eines Geständnisses schwer gefoltert wurde. Er hat damit wegen seiner vermeintlichen staatsfeindlichen Einstellung politische Verfolgung erlitten und ist in der begründeten Furcht vor weiterer Verfolgung geflohen. Eine erneuter Verfolgung bei einer Rückkehr wäre im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen.

Zunächst passt die geschilderte Festnahme mit anschließender Misshandlung in das Bild, das sich aus den herangezogenen Erkenntnisquellen zu dem Vorgehen der regionalen und föderalen Sicherheitskräfte in Kabardino-Balkarien nach dem Erstarken islamistischer Gruppen im fraglichen Zeitraum ergibt (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte zur Russischen Föderation vom 10.06.2013, 06.07.2012 und 07.03.2011, ai vom 27.02.2012 an OVG Sachsen-Anhalt, ai vom 20.02.2014 an UNOG-OHCHR - englisch -). Die Lage für von Verfolgung wegen vermeintlicher Unterstützung terroristischer Gruppen Betroffene in Kabardino-Balkarien ist nach den Quellen mit der in Tschetschenien und Dagestan vergleichbar (vgl. zu Tschetschenien den Überblick bei OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 20.07.2011 - 3 L 138/06 -, juris). Es ist damit zu rechnen, dass Sicherheitskräfte Folter zur Erzielung von "Fahndungserfolgen" gegenüber Personen anwenden, die verdächtigt werden, Kontakte zu gewalttätigen islamistischen Gruppen zu haben (vgl. Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 22.04.2013 zur entsprechenden Situation in Tschetschenien).

Bei der Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers vor diesem Hintergrund ist dem Einzelentscheider des Bundesamts zuzugestehen, dass sich der Kläger bei der Anhörung am 13.05.2013 derart konfus geäußert und verhalten hat, dass auch seine Schilderung im wesentlichen Kern nicht für wahr gehalten werden konnte. Das Verhalten des Klägers wird jedoch durch die gutachterliche Äußerung von Dr. ... vom 18.09.2013 einleuchtend im Zusammenhang mit seiner komplexen dissoziativen Störung fachlich beschrieben und erklärt. Die mit Hilfe eines Dolmetschers verfasste schriftliche Darstellung des Klägers der Gründe für seine Verfolgungsfurcht lag der Gutachterin bei den Explorationsterminen im August 2013 vor. Die Gutachterin äußert sich vorsichtig zur Glaubwürdigkeit des Klägers, verneint sie bei zeitlichen Angaben und der Wiedergabe von Einzelheiten, meint aber, dass die Grundzüge der Geschichte (aus psychologischer Sicht) einen Erlebnisbezug aufweisen. Sie unterstreicht die Notwendigkeit einer neurologischen Diagnostik eines möglichen während der Misshandlung erlittenen Schädel-Hirn-Traumas.

Aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist der Einzelrichter zur Überzeugung gelangt, dass der Kläger bei der Schilderung des Kerngeschehens nicht gelogen haben kann. Zunächst haben sich die Krankheitssymptome des Klägers (mit Ausnahme von Symptomen der Tic-Störung) wiederholt. Der Kläger äußerte sich teilweise sprunghaft und schwer verständlich, wirkte hilflos und verunsichert, hat Fragen nicht oder missverstanden und hatte kurzzeitige "Blackouts". Bei der Schilderung der Ursache seiner Angst wurde er stockend, ohne dass klare emotionale Reaktionen erkennbar waren. Er wirkte übernächtigt, was er mit Schlafstörungen erklärte. Dennoch hat er in dieser belasteten psychischen Verfassung die Angaben seiner über ein Jahr zurückliegenden schriftlichen Erklärung nahezu vollständig neu wiedergegeben. Das allein spricht für die Darstellung wirklichen Erlebens, es sei denn, man wollte den Kläger für einen äußerst geschickten Simulanten halten. Dagegen spricht, wie er seine Angaben auch noch in nicht chronologischer Reihenfolge gemacht hat. Überwiegend erzählte er die Ereignisse von ihrem Ende her, ohne dass dies durch Fragen des Richter gesteuert war. Auch sonst wirkte er so, als schöpfe aus der Erinnerung an seine wirklichen Erlebnisse. Auf Fragen des Einzelrichters, die er missverstanden hat, schilderte er z.B. über den Ablauf seiner Geschäfte mit dem mutmaßlichen Islamisten neue Einzelheiten, die nicht wesentlich waren, aber die Situation anschaulicher machten. Eine eingehende Schilderung der erlittenen Folterung vermied er offensichtlich wegen der Belastung und wich auf Beschreibungen am Rande aus, z.B. die ausführliche Darstellung, wie er zu Beginn der Schläge durch einen maskierten Polizisten auf einem Stuhl saß, um dann seine Schnittnarbe am Kinn zu zeigen.

Insgesamt hat der Einzelrichter nach dieser Anhörung keine Zweifel daran mehr, dass der Kläger in der schriftlichen Schilderung seiner Fluchtgründe vom Juli 2013 seine Erlebnisse wahrheitsgemäß wiedergegeben hat.

Da dem Kläger die Personalpapiere abgenommen und er als der Unterstützung terroristischer Aktivitäten verdächtig polizeilich registriert wurde, stellte sich für ihn die Frage einer inländischen Fluchtalternative nicht. Er wurde nur aufgrund der Intervention seines Onkels, eines Polizeibeamten in Ruhestand, unter Auflagen vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Ihm wurde damit stillschweigend die Möglichkeit gegeben, ins Ausland zu fliehen. [...]