VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 05.03.2014 - A 3 K 1951/13 (= ASYLMAGAZIN 1-2/2015, S. 27 f.) - asyl.net: M22568
https://www.asyl.net/rsdb/M22568
Leitsatz:

Kriminelle Organisationen können in der Russischen Föderation Polizisten und auch Staatsanwälte kaufen. Korruption ist in allen Sphären des alltäglichen Lebens und innerhalb der staatlichen Institutionen allgegenwärtig und basiert auf den schwachen gesetzlichen Grundlagen und der Schattenwirtschaft.

Schlagwörter: Russische Föderation, Mafia, Polizei, Staatsanwaltschaft, Korruption, Kriminalität, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Moskau, Sotschi,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Ist der Betroffene verfolgt ausgereist (Vorfluchttatbestand), wofür es grundsätzlich auf die Verhältnisse zur Zeit der Ausreise ankommt, besteht sein Schutzanspruch, solange die Gefahr einer erneut einsetzenden Verfolgung im Falle der Rückkehr noch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (vgl. Funke-Kaiser in GK AsylVfG II § 28 Rn. 14 bis 17).

Es obliegt dem Schutz vor Verfolgung Suchenden, die Voraussetzungen hierfür glaubhaft zu machen. Er muss in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, seinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen. Ein in diesem Sinne schlüssiges Schutzbegehren setzt im Regelfall voraus, dass der Schutz Suchende konkrete Einzelheiten seines individuellen Verfolgungsschicksals vorträgt und sich nicht auf unsubstantiierte allgemeine Darlegungen beschränkt. Er muss nachvollziehbar machen, wieso und weshalb gerade er eine Verfolgung befürchtet.

Die Kläger haben in diesem Sinn zur Überzeugung des Gerichts dargetan, dass sie über Jahre hinweg von einer kriminellen Mafia, die den Handel mit Baumaterialien, den Wirtschaftssektor der beruflichen Tätigkeit des Klägers Ziffer 1, jedenfalls bis zur Flucht der Kläger kontrolliert hat, erpresst, ernsthaft bedroht und wiederholt in lebensgefährdender Weise körperlich misshandelt wurden. Sie konnten keinen wirksamen staatlichen Schutz gegen diese Verfolgung erlangen, weil die zuständigen bestechlichen Beamten der Sicherheitsorgane im Gegenteil die Kriminellen in ihren Aktivitäten schützten.

Dass eine mafiöse Organisation die Kläger unter den beschriebenen Umständen im Raum Moskau und in Sotschi derart verfolgen konnte, ist angesichts der Verhältnisse in der Russischen Föderation in vollem Umfang glaubhaft. Kriminelle Organisationen können in der Russischen Föderation Polizisten und auch Staatsanwälte kaufen. Korruption ist in allen Sphären des alltäglichen Lebens und innerhalb der staatlichen Institutionen allgegenwärtig und basiert auf den schwachen gesetzlichen Grundlagen und der Schattenwirtschaft. Die Verstrickung der Behörden in Geschäfte der mafiösen Banden ist besonders beim Menschenhandel dokumentiert (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom März 2012). Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung (Nationaler Plan zur Bekämpfung der Korruption vom April 2009) führten lediglich zum Anstieg des durchschnittlich zu bezahlenden Bestechungsgeldes (Analyse der Staatendokumentation des Bundesasylamts Österreich vom 24.08.2010). Bei dem Opa ..., von dessen Organisation die Erpressung ausging, handelte es sich um den aus Georgien stammenden ..., einen der einflussreichsten Mafiabosse. Er wurde im Januar 2013 erschossen, nachdem er im September 2010 bereits einen Mordanschlag überlebt hatte. Sein Einflussgebiet erstreckte sich auch auf Sotschi (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23.09.2010, Der Spiegel vom 16.01.2013, Die Welt vom 18.01.2013).

Die im wesentlichen Kern und in vielen Einzelheiten übereinstimmenden Angaben der beiden Eheleute weisen viele Komplikationen auf, die die Kläger bei nicht chronologischen Rückfragen in der mündlichen Verhandlung nicht irritierten. Sie haben - auch ungefragt - manche beim Bundesamt missverständlich protokollierten Details richtig gestellt. Widersprüche bei lange zurückliegenden nebensächlichen Einzelheiten sind bei der Erzählung einer Lebensgeschichte über neun Jahre hinweg nicht verwunderlich. Die Protokollierung der Anhörung beim Bundesamt weist ihrerseits Ungereimtheiten auf. Beispielsweise wurde die Schilderung des Klägers zur Festnahme des ... ungenau protokolliert, weil in einem Vorhalt unvermittelt von einer Gegenüberstellung die Rede ist, deren Schilderung zuvor nicht in das Protokoll aufgenommen wurde. Das relativiert den Klägern fast siebzehn Monate nach der Anhörung im angefochtenen Bescheid vorgehaltene Widersprüche. Dass der Name des Mafiabosses im Anhörungsprotokoll falsch geschrieben wurde, ist eine Nachlässigkeit, die nicht am Kläger liegt. Kriminologische Einschätzungen der Einzelentscheiderin zu Strukturen, Methoden, Fähigkeiten und üblichem Verhalten der russischen Mafia und dem Verhalten von Personen, die von dieser erpresst werden, haben keine Substanz. Vor allem aber ist die Annahme der Einzelentscheiderin absurd, die behauptete Verfolgung durch die Mafia habe keinen realen Hintergrund und basiere auf einer konstruierten Geschichte. Das erscheint bei einer inhaltlich dichten Anhörung der Kläger, die insgesamt fünf Stunden gedauert hat, völlig unmöglich.

Die Kläger sind individuell vorverfolgt aus der Russischen Föderation geflohen. Es ist ihnen nicht zuzumuten, sich durch eine Rückkehr in die Russische Föderation der reellen Gefahr einer Wiederholung der Verfolgung auszusetzen. [...]