VG Schleswig-Holstein

Merkliste
Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.06.2014 - 1 A 83/10 - asyl.net: M22564
https://www.asyl.net/rsdb/M22564
Leitsatz:

Eine alleinstehende Frau ohne Ausbildung und Berufserfahrung und ohne familiäres oder sonstiges soziales Netz hat in Pakistan kaum eine Chance, ihren Lebensunterhalt auf zumutbare Weise zu sichern.

Schlagwörter: Pakistan, alleinstehende Frauen, Prostitution, Existenzgrundlage, Existenzminimum, erhebliche individuelle Gefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung eines nationalrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der Bescheid vom 1. Dezember 2010 ist - soweit er dem entgegensteht - und hinsichtlich der Zielstaatsbestimmung Pakistan in der Abschiebungsandrohung rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§113 Abs. 5, 1 Satz 1 VwGO. [...]

Der Klägerin droht nach Überzeugung des Gerichts in Pakistan aufgrund ihrer individuellen Lage alsbald nach Rückkehr eine erhebliche Gesundheitsgefährdung und Lebensgefahr. Die Klägerin wird aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt und insbesondere die erforderliche Ernährung sicherzustellen. Dies hängt mit der besonderen Lebenssituation der Klägerin zusammen. Die Klägerin hat keine Ausbildung für einen Beruf, sie verfügt aus den letzten Jahren über keine Erfahrung in einem Beruf, dessen Ausübung ihr zumutbar ist; dies trifft für die ausgeübte Prostitution nicht zu. Die Klägerin litt bereits, als sie noch in der Familie des Ehemanns lebte, zeitweise unter Hunger, weil ihr zu wenig zu essen gegeben wurde. Später hat sie sich dann, um überleben zu können, prostituiert. Das Gericht ist davon auch aufgrund der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung überzeugt. Sie kann in Pakistan nicht mehr auf die Unterstützung ihrer eigenen Familie hoffen und zwar unabhängig davon, ob sie nun von den Familienmitgliedern aus der Ferne über in Pakistan lebende Bekannte tatsächlich bedroht wird oder nicht. Es sind keine Familienangehörigen mehr dort, die sie aufnehmen könnten, wie es grundsätzlich der Tradition und den Wertvorstellungen in der Gesellschaft Pakistans entsprechen würde. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. Mai 2009 ist es für Frauen schwer möglich, alleine zu leben und zu wohnen. Zwar ist Frauen grundsätzlich die Arbeitsaufnahme gestattet, allerdings muss eine Arbeitsstelle und eine entsprechende Qualifikation vorhanden sein, sowie grundsätzlich die Zustimmung von Familienmitgliedern. Die in das Verfahren eingeführten Auskünfte belegen, dass es in Pakistan immer noch zu zahlreichen Hungeropfern kommt. Als alleinstehende Frau ohne jegliche Ausbildung oder sonstigen Bildungshintergrund oder verwertbare Berufserfahrung, ohne Unterstützung durch ein familiäres oder sonstiges soziales Netz, in einem für den dortigen Arbeitsmarkt schon sehr fortgeschrittenen Alter von 48 Jahren hätte die Klägerin aufgrund ihrer individuellen Lage keine Chance eine Arbeit zu finden, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Sie wäre möglicherweise - wie in der Vergangenheit - wieder gezwungen, der Prostitution nachzugehen, um den Lebensunterhalt sicherzustellen; die Klägerin kann jedoch auf eine solche, ihr nicht zumutbare, Tätigkeit nicht im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verwiesen werden. Die Klägerin hat sich in der Vergangenheit zwar auch in ein Frauenhaus retten können und erhielt dort zu essen. Der Aufenthalt in solchen Frauenhäusern ist jedoch - es existieren in ganz Pakistan nach dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 6. September 2004 zu der Zeit 13 staatliche und 6 nichtstaatliche Frauenhäusern mit teilweise prekären Zuständen - zeitlich begrenzt, sie dienen in erster Linie dem Schutz vor Gewalt und nicht der Sicherstellung des Lebensunterhalts. Diese Häuser können der Klägerin nach langer Abwesenheit daher aller Voraussicht nach nicht den Lebensunterhalt sicherstellen. Die der Klägerin drohende Leibes- und Lebensgefahr hat ihre Ursache in den Besonderheiten ihrer Lebenslage und stellt sich daher nicht als Auswirkung einer allgemeinen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar. [...]