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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 10.07.2014 - B 10 EG 1/13 R - asyl.net: M22520
https://www.asyl.net/rsdb/M22520
Leitsatz:

Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, dass § 1 Abs 7 Nr 2 Buchst d BEEG iVm der Altfallregelung des § 104a Abs 1 S 1 AufenthG wegen eines Verstoßes gegen Art 3 Abs 1 GG verfassungswidrig ist.

Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis "auf Probe" nach § 104a Abs 1 S 1 und 3 AufenthG ist ein geeignetes Beurteilungskriterium dafür, dass es an einer dauerhaften Bleibeperspektive jedenfalls solange fehlt, als es dem Ausländer, der eine solche Aufenthaltserlaubnis besitzt, nicht gelingt, eine ihm rechtlich mögliche Erwerbstätigkeit auszuüben.

Schlagwörter: Eltern, Aufenthaltserlaubnis auf Probe, Ungleichbehandlung, allgemeiner Gleichheitssatz, Verfassungsmäßigkeit, Drittstaatsangehörige, Elterngeld, Altfallregelung, Bleiberecht,
Normen: BEEG § 1 Abs. 7 Nr. 2 Bst. d, AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 104a, GG Art. 3,
Auszüge:

[...]

2. Der erkennende Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. d BEEG i.V.m. der Altfallregelung des § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG in seiner hier anwendbaren Fassung wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig ist, sodass der Rechtsstreit nicht erneut auszusetzen war, um die Entscheidung des BVerfG nach Art. 100 GG, § 80 BVerfGG einzuholen. Der Senat hat keine verfassungsrechtlich unüberwindbaren Bedenken dagegen, dass nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer nur dann Anspruch auf Elterngeld haben, wenn sie voraussichtlich dauerhaft in Deutschland leben (dazu a). Der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG ist ein geeigneter Anknüpfungspunkt dafür, dass bei nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern eine hinreichend sichere positive Prognose eines voraussichtlich dauerhaften Aufenthalts im Inland nicht möglich ist (dazu b). Die Anknüpfung an den Aufenthaltstitel nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG führt auch zu keiner unverhältnismäßigen Ungleichbehandlung gegenüber anderen nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern, die im Besitz von Aufenthaltstiteln sind, die zum Bezug von Elterngeld berechtigen (dazu c).

a) Zweck des Elterngeldes ist es, Familien bei der Sicherung ihrer Lebensgrundlage zu unterstützen, wenn sich Eltern vorrangig um die Betreuung ihrer Kinder kümmern. Jeder betreuende Elternteil, der seine Erwerbstätigkeit unterbricht oder reduziert, soll einen an seinem individuellen Einkommen orientierten Ausgleich für die finanziellen Einschränkungen im ersten Lebensjahr des Kindes erhalten (vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks.. 16/1889 S. 2, 15; BT-Drucks. 16/2454 S. 2). Durch die Betreuung des Kindes sollen die Eltern keine allzu großen Einkommenseinbußen befürchten müssen (vgl. Bericht der Bundesregierung vom 30.10.2008 über die Auswirkungen des BEEG sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterentwicklung, BT-Drucks. 16/10770 S. 5 f.). Mit dem BEEG hat der Gesetzgeber die familienpolitischen Leistungen neu ausgerichtet und das bedürftigkeitsabhängige Erziehungsgeld durch ein verstärkt Einkommenseinbußen ersetzendes Elterngeld abgelöst. Wie auch andere Entgeltersatzleistungen ist das Elterngeld in erster Linie dazu bestimmt, das zuletzt (vor der Geburt des Kindes) zum Lebensunterhalt dienende Einkommen teilweise zu ersetzen (vgl. z.B. Urteil des Senats vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-7837 § 2 Nr. 25 und BSGE vorgesehen, RdNr. 31). Unabhängig von früherem Einkommen wird Elterngeld nur in Höhe eines Sockelbetrages von 300 Euro gewährt.

Das Elterngeld soll nach der Konzeption des § 1 Abs. 7 BEEG allerdings nur solchen Eltern gezahlt werden, die sich voraussichtlich dauerhaft im Inland aufhalten werden (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs zu § 1 Abs. 7 BEEG, BT-Drucks. 16/1889 S. 19); dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Wie das BVerfG mit Beschluss vom 10.7.2012 - 1 BvL 2/10 u.a. - (BVerfGE 132, 72) im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung des § 1 Abs. 6 Nr. 3 Buchst. b BErzGG 2006 sowie des § 1 Abs. 7 Nr. 3 Buchst. b BEEG ausgeführt hat, darf der Gesetzgeber die Gewährung von Erziehungs- und Elterngeld auf diejenigen ausländischen Staatsangehörigen beschränken, die sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten. Hiermit verfolgt der Gesetzgeber den legitimen Zweck, mit diesen Leistungen eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung in Deutschland zu fördern.

b) Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis "auf Probe" nach § 104a Abs. 1 S. 1 und 3 AufenthG ist ein geeignetes Beurteilungskriterium dafür, dass es an einer dauerhaften Bleibeperspektive jedenfalls solange fehlt, als es dem Ausländer, der eine solche Aufenthaltserlaubnis besitzt, nicht gelingt, eine ihm rechtlich mögliche Erwerbstätigkeit auszuüben.

Bei welchen Eltern ein voraussichtlicher dauerhafter Aufenthalt im Inland anzunehmen ist, hat das Gesetz in § 1 Abs. 7 BEEG konkretisiert, indem die Vorschrift an den Besitz bestimmter ausländerrechtlicher Aufenthaltstitel anknüpft. Von einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt im Inland ist danach zunächst auszugehen, wenn ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist (vgl. § 9 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 7 Nr. 1 BEEG). Die Niederlassungserlaubnis wird als unbefristeter Aufenthaltstitel erteilt. Sie berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung einer selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit und kann nur in den durch das AufenthG ausdrücklich zugelassenen Fällen mit einer Nebenbestimmung versehen werden. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG vor, besteht ein Rechtsanspruch auf die Niederlassungserlaubnis, die bei einer Gesamtbetrachtung einen besonderen formellen Grad der Verfestigung des Aufenthalts aufgrund fortgeschrittener Integration zum Ausdruck bringt (so Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 9 AufenthG RdNr. 4, 5). Ebenso geht das Gesetz im Grundsatz von einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt im Inland aus, wenn der Ausländer im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt (§ 1 Abs. 7 Nr. 2 Halbs. 1 BEEG); er nimmt hiervon jedoch im 2. Halbs. wieder bestimmte Aufenthaltserlaubnisse aus, bei denen eine positive Bleibeprognose nicht möglich ist.

Nicht zum Bezug von Elterngeld berechtigen im Einzelnen folgende Aufenthaltserlaubnisse:

- Aufenthaltserlaubnis für Studium, Sprachkurse oder Schulbesuch (vgl. § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. a BEEG i.V.m. § 16 AufenthG) sowie für sonstige Ausbildungszwecke (vgl. § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. a BEEG i.V.m. § 17 AufenthG),

- Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit, die nach der Beschäftigungsverordnung (BeschV) nur für einen bestimmten Höchstzeitraum erteilt werden darf (vgl. § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. b BEEG i.V.m. § 18 Abs. 2 AufenthG) sowie

- Aufenthaltserlaubnis, die von der obersten Landesbehörde nach § 23 Abs. 1 AufenthG aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen wegen eines Krieges in ihrem Heimatland erteilt wird (vgl. § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG i.V.m. § 23 Abs. 1 AufenthG), Aufenthaltserlaubnis, die einem Ausländer auf Ersuchen einer Härtefallkommission gewährt wird (vgl. § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG i.V.m. § 23a AufenthG; sog. Aufenthaltsgewährung in Härtefällen),

- Aufenthaltserlaubnis, die einem Ausländer zum vorübergehenden Schutz erteilt wird (§ 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG i.V.m. § 24 AufenthG),

- Aufenthaltserlaubnis, die einem Ausländer nach § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG erteilt wird, also bei einem Abschiebeverbot (§ 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG i.V.m. § 25 Abs. 3 AufenthG), oder wenn bei einem nicht vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer dringende humanitäre oder persönliche oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern (§ 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG i.V.m. § 25 Abs. 4 AufenthG), oder bei einer Aufenthaltserlaubnis, die einem Ausländer erteilt wird, der Opfer einer Straftat nach den §§ 232, 233 oder § 233a StGB wurde, auch wenn er vollziehbar ausreisepflichtig ist (§ 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG i.V.m. § 25 Abs. 4 a AufenthG i.d.F. des Gesetzes vom 19.8.2007, BGBl I 1970) oder wenn es sich um einen Ausländer handelt, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, seine Ausreise aber aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (§ 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG i.V.m. § 25 Abs. 5 AufenthG).

Bei sämtlichen dieser Aufenthaltserlaubnisse kann die Geltungsdauer - anders als bei der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG (dazu sogleich) - bei Vorliegen der für ihre Erteilung maßgeblichen Voraussetzungen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG) bzw. unter bei einzelnen Aufenthaltstiteln modifizierten Voraussetzungen verlängert werden (vgl. § 16 Abs. 1 S. 5 AufenthG; § 17 Abs. 3 AufenthG; § 39 AufenthG i.V.m. BeschV, § 25 Abs. 4 S. 2, Abs. 4b S. 3 AufenthG). [...]

bb) Indem die Klägerin als Inhaberin einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG ausnahmslos vom Zugang zum Elterngeld ausgeschlossen ist, wird sie zwar im Verhältnis zu den in § 1 Abs. 7 Nr. 1 und 2 BEEG genannten Personen mit positiver Bleibeprognose ungleich behandelt. Der Aufenthaltstitel nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG ist den elterngeldrechtlich vorteilhaften Titeln mit verfestigtem Aufenthaltsstatus jedoch - wie dargelegt - weder rechtlich vergleichbar noch ließen die tatsächlichen Umstände typischerweise gleichwohl einen Daueraufenthalt erwarten.

cc) Eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern mit (zunächst) negativer Bleibeprognose nach § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG, denen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG wegen eines Krieges in ihrem Heimatland, nach §§ 23a, 24 oder 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG erteilt worden ist, ergibt sich daraus, dass für diesen Personenkreis eine - vom BVerfG insoweit nicht beanstandete - Rückausnahme nach § 1 Abs. 7 Nr. 3 Buchst. a BEEG im Sinne einer Anspruchsberechtigung möglich ist, wenn der Ausländer sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält (positive Bleibeprognose nach 3-Jahresaufenthalt). Abgesehen davon, dass eine Rückausnahme für langjährig geduldete Ausländer mit einem Titel nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG vergleichbar der Regelung bei Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen sinnentleert wäre, weil der langjährige - mehr als dreijährige - Aufenthalt gerade kennzeichnende Voraussetzung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe ist, konnten die Personen, die im Besitz der in § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. c BEEG genannten Titel waren, unter den oben näher beschriebenen Voraussetzungen zumindest mit einer Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis rechnen. So sind z.B. die Gründe für eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nicht zwingend vorübergehend und können deshalb, solange sie weiter andauern, zu einer Verfestigung des Aufenthalts führen, wenn der Ausländer die weiteren Voraussetzungen erfüllt. [...]

ee) Insgesamt sieht der Senat daher keine hinreichenden rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die es dem Gesetzgeber verwehrt hätten, durch eine Bezugnahme auf den Aufenthaltstitel des § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG in § 1 Abs. 7 Nr. 2 Buchst. d BEEG den Bezug von Elterngeld für diesen Personenkreis auszuschließen und so eine "dauerhafte Zuwanderung in die Sozialsysteme zu vermeiden" (vgl. BT-Drucks. 16/5065 S. 202). Der Gesetzgeber hat seinen Willen insoweit sowohl im Gesetz selbst als auch in der Begründung des Gesetzentwurfs mehrfach unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Der Senat kann auch nicht erkennen, dass sich der Gesetzgeber damit in einen rechtlichen Widerspruch zur Rechtsposition von Eltern gesetzt hat, die im Besitz anderer Aufenthaltstitel waren. Ebenso wenig hat der Senat hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die tatsächlichen Verhältnisse innerhalb seines weiten gesetzgeberischen Prognosespielraums falsch einschätzte und angesichts der Rechtspraxis Ausländer mit einem Aufenthaltstitel nach § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG ohne Weiteres mit einem faktischen Daueraufenthalt im Inland hätten rechnen dürfen. Entscheidend ist insoweit nicht die eigene Anschauung der Rechtsprechung ex post, sondern die vom Gesetzgeber bei Erlass der Regelung absehbare Entwicklung der Verhältnisse. Der Gesetzgeber ging insoweit bei Schaffung der Übergangsregelung des § 104a Abs. 1 S. 1 AufenthG von einer Zäsur aus, die es Ausländern unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen sollte, nach Ablauf der Altfallregelung und nach "erfolgreichem Durchlaufen der Probezeit" einen verfestigten Aufenthaltstitel zu erwerben. Wenn die Innenminister - über den bisherigen Plan hinausgehend - im Dezember 2009 eine Anschlussregelung beschlossen (abgedruckt in InfAuslR 2010, 115), wonach den Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe unter bestimmten Bedingungen bis 31.12.2011 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 S. 1 AufenthG erteilt wurde, lässt dies die zuvor getroffene Prognose und Erwartung des Gesetzgebers und erst recht seinen gesetzgeberischen Willen, insoweit keine verfestigte, zum Bezug von Elterngeld berechtigende Position schaffen zu wollen, unberührt. [...]