VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 24.11.2014 - 13 L 1415/14.A - asyl.net: M22515
https://www.asyl.net/rsdb/M22515
Leitsatz:

Aufgrund der Inhaftierungspraxis und der häufigen Verweigerung staatlicher Sozialleistungen für zurücküberstellte Asylsuchende bestehen ernstzunehmende Anhaltspunkte für mit Art. 3 EMRK nicht in Einklang stehende Aufnahmebedingungen in Zypern.

Schlagwörter: Zypern, Dublinverfahren, Obdachlosigkeit, Inhaftierung, Aufnahmebedingungen, unmenschliche Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, systemische Mängel, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

Eine Rückführung von Asylbewerbern in einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens ist aber - unabhängig von der Frage der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 17 Abs. 1 Dublin III-VO - dann unzulässig, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris Rn 94).

Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 GrCh implizieren (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris Rn 86).

Systemische Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Gravität nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al.-, juris Rn 94).

Art. 3 Absatz 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO hat diese Rechtsprechung normativ übernommen, indem er die Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat für unmöglich erklärt, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen.

Bei der Bewertung der in Zypern anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation des Antragstellers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen oder tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Antragstellers auswirken (können) (vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris, Rn 130).

Damit ist vorliegend in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehren zu betrachten, die wie der Antragsteller vor der Ausreise aus Zypern dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben.

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat sind nach der Rechtsprechung des EuGH im Übrigen die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C 411/10 et. al. -, juris, Rn 90 ff.).

Auf der Grundlage der der Kammer vorliegenden sowie sonstiger veröffentlichter und leicht zugänglicher Erkenntnisse ergeben sich bei der im vorläufigen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung ernst zu nehmende - hinsichtlich der Schwere und Offensichtlichkeit aber noch weiter aufklärungsbedürftige - Anhaltspunkte für mit Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 GrCh nicht in Einklang stehende Aufnahmebedingungen in Zypern. Das betrifft einerseits die sich hieraus ergebende Inhaftierungspraxis und andererseits die im Raum stehende, eine große Vielzahl der Asylbewerber betreffende Verweigerung staatlicher Sozialleistungen, die faktisch dazu führe, dass die Schutzsuchenden in großen Zahlen obdach- und mittellos sind.

Dabei geht das Gericht bei der Bewertung der aktuellen Erkenntnismittel von den sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergebenden Maßstäben für eine Verletzung von Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 GrCh aus.

In seinem Urteil vom 21. Januar 2011 hat der Gerichtshof eine Überstellung nach Griechenland als nicht mit Artikel 3 EMRK vereinbar angesehen, da die systematische Inhaftierung von Asylbewerbern, gerade auch solcher, die - wie der Antragsteller - nicht das Bild eines illegalen Einwanderers bieten, weil ihre Identität den griechischen Behörden aufgrund der gegenüber dem anderen Mitgliedstaat abgegebenen Übernahmezusage ersichtlich bekannt war, in Haftzentren ohne Angabe von Gründen eine weit verbreitete Praxis der griechischen Behörden darstellte (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, juris, Rn 225, 234).

Unter Berücksichtigung der zudem vorhandenen übereinstimmenden Zeugenaussagen zu den völlig unzureichenden Haftbedingungen sah der Gerichtshof bereits die vergleichsweise kurze Haftdauer im entschiedenen Fall von einmal vier Tagen und einmal einer Woche als nicht unbedeutend an. Die Gefühle der Willkür und die oft damit verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person, die solche Inhaftierungsumstände zweifellos hätten, bewertete er zusammengenommen als eine gegen Artikel 3 EMRK verstoßende erniedrigende Behandlung (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - a.a.O. Rn 233).

Artikel 3 EMRK verpflichte die Staaten, sich zu vergewissern, dass die Haftbedingungen mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar seien und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid und Härten unterwerfe, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteige (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 a.a.O. Rn 222).

Sind die Mitgliedstaaten noch dazu aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben zur Einhaltung bestimmter Mindeststandards der Aufnahmebedingungen verpflichtet, sind die konkreten Anforderungen an die Schwere der Schlechtbehandlung im Sinne der EMRK niedriger anzusetzen bzw. kommt umgekehrt einem Verstoß gegen diese unionsrechtlichen Verpflichtungen oder ihrer Umsetzung im nationalen Recht für die Annahme einer relevanten Grundrechtsverletzung nach Artikel 3 EMRK bzw. Art. 4 GrCH ein besonderes Gewicht zu (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - a.a.O., Rn 250, 263; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 172/13 -, juris, Rn 40).

Ebenso hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK dann gesehen, dass in Griechenland die Asylbewerber in "extremer Armut" lebten, ihre "elementaren Bedürfnisse nicht befriedigen", sich "nicht ernähren, nicht waschen" konnten, obdachlos waren und in ständiger Furcht lebten, angegriffen oder bestohlen zu werden" (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, juris, Rn 254.).

Nach diesen Maßgaben lassen sich zur Inhaftierungspraxis Zyperns derzeit folgende - vorläufige - Feststellungen treffen:

Nach dem Bericht der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migranten e.V. aus dem Jahr 2013 (im Folgenden: KUB e.V.) ist die Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern aufgrund der Rechtsprechung des zypriotischen "Supreme Court" grundsätzlich möglich; sie werde auch in der Praxis häufig angewendet; Dublin-Rückkehrer würden besonders häufig überhaupt keinen Bescheid über den Ausgang ihres Asylverfahrens in Haft erhalten oder dieser werde nur auf Griechisch zugestellt (S. 45 f.). Auch amnesty international geht - bezogen auf Asylbewerber im Allgemeinen - davon aus, dass sehr viele von ihnen monatelang inhaftiert werden (Amnesty international: Cyprus: Abusive Detention of Migrants and Asylum Seekers Flouts EU Law, 18. März 2014).

Dies steht in Übereinstimmung mit dem 2013 Human Rights Report des Auswärtigen Amtes der Vereinigten Staaten von Amerika (im Folgenden: Human Rights Report). Auf S. 13 wird dort von überlangen Inhaftierungen von über sechs Monaten, in einigen Fällen von über 18 Monaten, berichtet.

Für den Fall, dass Dublin-Rückkehrer nicht inhaftiert werden, besteht nach der Berichtslage eine nicht zu unterschätzende Wahrscheinlichkeit, dass sie obdach- und mittellos bleiben, bzw. faktisch auf die private Unterstützung von anderen Flüchtlingen angewiesen sind. Das zypriotische Rechtssystem sehe zwar einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat vor. Faktisch kämen viele Asylbewerber aber nicht in den Genuss dieser Leistungen bzw. müssten über Monate auf den Beginn der Leistungen warten (KUB e.V., S. 25 ff., Human Rights Report, S. 13). Einen Grund hierfür sieht der Human Rights Report in dem Umstand, dass nur bei Angabe einer gültigen Anschrift Sozialleistungen gezahlt würden; viele Asylbewerber verfügten aber über keine Wohnung, seien obdachlos (S. 14). Dies wiederum deckt sich mit der Beobachtung des KUB e.V., wonach die große Mehrheit der Asylbewerber keinen Platz in einer staatlichen Sammelunterkunft erhielten, sie seien auf die private Wohnungssuche angewiesen (S. 35). Mietzuschüsse gebe es aber erst nach Vorlage eines Belegs über die Mietzahlung; die hierfür erforderlichen Mittel fehlten den meisten Asylbewerbem (S. 27) (vgl. mit weiteren Beispielen und einer im Ergebnis vergleichbaren Bewertung des Berichts des KUB e. V. VG München, Beschluss vom 5. Mai 2014 - M 21 S 14.30117 -, juris, Rn. 30 ff.; a. A. VG Stade, Beschluss vom 5. März 2014 -1 B 168/14 -, juris, Rn. 10.

Vorbehaltlich der Bestätigung und Konkretisierung dieser Erkenntnisse im Hauptsacheverfahren ist daher jedenfalls im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes davon auszugehen, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Zypern grundsätzlich einem hohen Risiko längerfristiger Inhaftierung ausgesetzt sind. Sollte eine Inhaftierung unterbleiben, besteht danach ein, großes Risiko, obdach- und mittellos und ohne staatliche Unterstützung zu bleiben. Eine solche Behandlung von Asylbewerbern, mit der sie der Willkür der zuständigen Behörden ausgesetzt werden und letztlich zum reinen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt werden, dürfte nicht zuletzt angesichts von Inhaftierungszeiten, die im Durchschnitt mehrere Monate betragen, bereits für sich genommen die für eine Verletzung von Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 GrChr erforderliche Schwere aufweisen, so dass es - jedenfalls im vorliegenden Eilverfahren - nicht mehr darauf ankommt, ob auch die konkreten Haftbedingungen selbst inhaftierte Asylbewerber weiteren Leiden und Härten unterwerfen, die das mit einer Haft unvermeidbare Maß übersteigen. [...]