VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 11.09.2014 - 10 A 1030/12 - asyl.net: M22511
https://www.asyl.net/rsdb/M22511
Leitsatz:

Musiker, vor allem Pop-bzw. Rockmusiker, sind in Afghanistan Drohungen und Angriffen, insbesondere durch Taliban, aber auch durch andere religiös-konversative Kräfte ausgesetzt.

Schlagwörter: Afghanistan, Musik, Musiker, Rockmusiker, Popmusiker, Taliban, Youtube, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Kabul,
Normen: AsylVfG § 3a, AsylVfG § 3, AsylVfG § 3b,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Maßstäben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er befindet sich aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes Afghanistan und kann dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen.

a) Dem Kläger drohen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylVfG.

Der Kläger ist neben dem Schulbesuch in erheblichem Umfang als Musiker, insbesondere als Rapper tätig. Die von ihm angegebenen Links verweisen auf diverse Youtube-Videos, die der Kläger ins Internet gestellt hat. Darin führt er Raps auf Dari auf. Aus den eingereichten Belegen und den glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts zudem, dass er regelmäßig im Rahmen von Konzertveranstaltungen und Festivals live auftritt. Darüber hinaus war der Kläger an einer Radiosendung und CD-Produktionen beteiligt.

aa) Infolge dieser Tätigkeiten als Musiker drohen dem Kläger in Afghanistan Verfolgungshandlungen. Er müsste im Fall einer Rückkehr befürchten, Opfer von Bedrohungen und Angriffen auf seine körperliche Unversehrtheit zu werden.

Wie sich aus der Auskunft "Anfragebeantwortung zur Afghanistan: Behandlung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure von Personen, die öffentlich (Pop-) Musik machen bzw. versuchen, mit (Pop-) Musik ihren Lebensunterhalt zu verdienen; Schutzfähigkeit und -willigkeit des afghanischen Staates (a-8612)" des Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) vom 24. Februar 2014 und den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013 (G 8/13, s. insbes. S. 53 ff.) ergibt, sind Musiker, vor allem auch Pop- bzw. Rockmusiker, in Afghanistan Bedrohungen und Angriffen insbesondere durch Taliban, aber euch durch andere religiös-konservative Kräfte ausgesetzt. Während der Taliban-Herrschaft in den Jahren von 1996 bis 2001 ist Musik fast vollständig verboten gewesen, weil sie aus Sicht der Taliban unmoralisch ist und nach ihrem Verständnis gegen die islamischen Grundsätze und Werte verstößt. Auch heute müssen Musiker mit Schikanen und Angriffen rechnen. So ist beispielsweise der Sieger der afghanischen Castingshow Afghan Star, der - wie auch andere Showteilnehmer - zuvor diverse Drohungen erhalten hatte, in Kabul mit einer Schusswaffe angegriffen und verletzt worden. Er lebt mittlerweile als Flüchtling in Australien. In dem Bericht von ACCORD wird weiter beschrieben, dass auch paschtunische Sängerinnen, die traditionell bei Hochzeiten und anderen gesellschaftlichen Anlässen aufgetreten sind, bedroht werden und sich dem Risiko körperlicher Angriffe ausgesetzt sehen und teilweise aufhören aufzutreten. Zwar ist in Kabul eine Schule für Rockmusik gegründet worden. Es gibt aber Todesdrohungen gegen die Künstler. In dem Bericht heißt es unter Bezugnahme auf einen der Mitbegründer der Kabuler Schule für Rockmusik, die Musiker träfen Sicherheitsvorkehrungen. Manchmal seien junge Rockmusiker gezwungen, während des Auftritte Masken zu tragen, um Angriffen durch religiös-konservative Kräften zu entgehen.

Diesen Gefahren für Musiker wäre auch der Kläger im Falle einer Rückkehr ausgesetzt. Ausweislich der Auskunft von ACCORD drohen insbesondere Pop- und Rockmusikern von Taliban und anderen besonders konservativ-religiösen Kräften Gefahren. Dies ist auf den Kläger zu übertragen, der sich als Rapper einer Musikform verschrieben hat, die mit Pop- und Rockmusik vergleichbar ist und mindestens als genauso westlich gilt, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Herkunft aus den USA.

bb) Dem Kläger drohen diese Übergriffe im Falle einer Rückkehr auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Er tritt regelmäßig öffentlich auf. Insbesondere aber hat er seine Rap-Songs als Videos auf der Internetplattform Youtube veröffentlicht. Nicht nur ist der Kläger auf diesen Videos unzweifelhaft zu erkennen. Sie sind auch mit seinem Namen verknüpft und darüber hinaus einer größeren Öffentlichkeit bekannt, wie die zahlreichen Aufrufe zeigen. So weist das unter www.youtube.com/[...] veröffentlichte Video über 32.000 Aufrufe auf und das unter www.youtube.com/ [...] über 17.000 Aufrufe. Damit ist davon auszugehen, dass die Songs des Klägers, der seine Texte auf Dari verfasst, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Afghanistan bekannt sind. So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargelegt, dass ein Teil der Kommentare, die auf Youtube zu seinen Videos abgegeben werden, aus Afghanistan stammen dürfte. Aufgrund dieser Umstände besteht aus Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen In der Lage des Klägers im Falle der Rückkehr Furcht vor Verfolgung.

cc) Die Verfolgung geht - wie oben dargestellt - in erster Linie von Taliban und ihnen ideologisch nahestehenden Gruppierungen aus. Es handelt sich insoweit um nicht staatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylVfG.

Nach dieser Vorschrift kann die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Der afghanische Staat ist zu einem solchen Schutz des Klägers vor Verfolgung nicht in der Lage. Der UNHCR stellt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom August 2013 (s. S. 25 ff.) fest, dass die Regierungsgewalt Afghanistans als besonders schwach wahrgenommen wird. Es gibt ein hohes Maß an Korruption, die Regierungsgewalt ist ineffektiv. Danach werden Personen selten für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen. Einige staatliche Akteure, die mit dem Schutz der Menschenrechte beauftragt sind, einschließlich der nationalen und der lokalen Polizei, begehen selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Zudem ist die Polizei in den meisten Gebieten nicht mit einem funktionierenden Justizsystem verbunden. Sowohl die Polizei als auch das Justizsystem sind von systematischer Korruption betroffen.

dd) Die dem Kläger drohende Verfolgung ist auch politisch, das heißt sie knüpft an einen der in §§ 3, 3b AsylVfG genannten Verfolgungsgründe, nämlich die politische Überzeugung des Klägers, an. Wie bereits oben ausgeführt ist die zur Feststellung einer politischen Verfolgung erforderliche spezifische Zielrichtung anhand des inhaltlichen Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck zu ermitteln. Die Taliban verfolgen Musiker, weil Musik aus ihrer Sicht unmoralisch ist und nach ihrem Verständnis gegen die islamischen Grundsätze und Werte verstößt. Die Verfolgung dient so der Durchsetzung eigener Werte und gesellschaftspolitischer Vorstellungen. Musiker, wie der Kläger, werden verfolgt, um vermeintlich unislamisches Verhalten in der afghanischen Gesellschaft zu unterbinden und der Vorstellung der Taliban von der afghanischen Gesellschaft zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Zielrichtung einer solchen Verfolgung stellt sich damit als "politisch" dar.

b) Der Kläger kann keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylVfG in Anspruch nehmen.

Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylVfG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers nicht erfüllt. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass Kabul für ihn eine derartige innerstaatliche Fluchtalternative darstellt.

Nach den o.g. Auskünften von ACCORD und UNHCR ist bereits nicht davon auszugehen, dass der Kläger in Kabul hinreichend sicher wäre vor Verfolgung. Wie bereits oben ausgeführt, ist es auch in Kabul zu Übergriffen gekommen, wie der Anschlag auf den Popmusiker, der die Castingshow Afghan Star gewonnen hat, zeigt. Zwar kann die Kabuler Schule für Rockmusik offenbar betrieben werden. Aber die Auskunft von ACCORD zeigt, dass auch diese Musiker Bedrohungen ausgesetzt sind.

Darüber hinaus könnte vom Kläger auch nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in Kabul dauerhaft aufhält.

Von einem Schutzsuchenden kann nur dann vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil aufhält, wenn der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, das heißt, dass dort das Existenzminimum gewährt ist. Dabei bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen eine wirtschaftliche Lebensgrundlage etwa dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.5.2003, 1 8 298.02: Urt. v. 1.2.2007, 1 C 24.08, und v. 29.5.2008, 10 C 11.07, jeweils zitiert nach juris).

Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf den Kläger nicht gegeben.

So gestaltet sich die allgemeine Versorgungslage in Kabul nach wie vor als äußerst schwierig. Die medizinische Versorgung in Afghanistan ist auf Grund fehlender Medikamente, mangelhafter Ausstattung von Kliniken und fehlender Ärzte weiterhin unzureichend. Dies gilt auch für Kabul. So stand im Jahr 2013 10.000 Einwohnern ca. eine Person qualifizierten medizinischen Personals gegenüber. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Dies gilt verstärkt für Rückkehrer (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 31. März 2014, Stand: Februar 2014, Lagebericht - S. 19 ff.). Die Situation am Arbeitsmarkt ist ebenfalls äußerst schwierig. Ein Problem ist hierbei vor allem die Anzahl derjenigen, die z.B. ohne Gehalt in einem Familienbetrieb aushelfen. Dies sind zu 95 % Frauen (Lagebericht, S. 20). Die hohe Arbeitslosigkeit wird verstärkt durch Naturkatastrophen. Eine Folgeerscheinung ist u.a., dass ca. 1 Mio. oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten. Nach wie vor gehört Afghanistan zu den Ländern mit der höchsten Mütter- und Kindersterblichkeit (Lagebericht, S. 20).

Dem entsprechen die Aussagen Im Gutachten des Dr. Mostafa Danesch (zuletzt vom 7.10.2010, G 3/10), der darauf hinweist, dass 38 % der Afghanen in absoluter Armut lebten. Die Lebensverhältnisse in Afghanistan seien inzwischen so dramatisch, dass ein alleinstehender Rückkehrer keinerlei Aussicht hätte, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Auch betrage die Arbeitslosenquote in Kabul schätzungsweise 80 %. Das einzige soziale Netz, das in Afghanistan in der Lage sei, einen älteren Arbeitslosen aufzufangen, sei die Großfamilie und/oder der Freundeskreis. In früheren Auskünften (z.B. vom 3. Dezember 2008, G 10/08), hatte der Gutachter die Versorgungslage in Afghanistan und auch in Kabul als katastrophal bezeichnet.

Auf die äußerst problematische Versorgungslage in Afghanistan wird auch durch Amnesty International (Auskunft vom 20.12.2010, G 4/10) und den UNHCR (Auskunft vom 30.11.2009, G 7/09) hingewiesen.

Den aktuellen Auskünften ist bei einer Gesamtbetrachtung zu entnehmen, dass die die Frage der Existenzsicherung bestimmende Situation, die ein Rückkehrer in seinem Herkunftsort oder in Kabul oder seinem Heimatort vorfindet, wesentlich davon abhängig ist, ob er über familiäre, verwandtschaftliche oder sonstige soziale Beziehungen verfügt, auf die er sich verlassen kann, oder ob er auf sich allein gestellt ist. Je stärker noch die soziale Verwurzelung des Rückkehrers oder je besser er mit den Lebensverhältnissen vertraut ist, desto leichter und besser kann er sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und dort jedenfalls ein Existenzminimum sichern (vgl. ai, Auskunft vom 20.12.2010, a.a.O.; UNHCR, Auskunft vom 30.11.2009, a.a.O.).

Ausgehend davon könnte von dem Kläger nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich nach Kabul zu begeben. Er hat sein Heimatland als kleines Kind verlassen und nach seinen glaubhaften Angaben keine sozialen Kontakte zu etwaigen Verwandten. Die Kontakte bestehen nur zu seiner Familie, die im Iran lebt. Ohne verwandtschaftliche Beziehungen aber könnte der Kläger, dem die Lebensverhältnisse In Afghanistan nicht vertraut sind, weil er dort seit seinem 4. Lebensjahr nicht mehr gelebt hat, in Kabul in Anbetracht der oben geschilderten Lebensverhältnisse sein Existenzminimum nicht sichern. [...]