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VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 17.09.2014 - Au 6 K 14.423 - asyl.net: M22444
https://www.asyl.net/rsdb/M22444
Leitsatz:

1. § 9 Abs. 2 AufenthG als allgemeiner Erteilungstatbestand ist neben den speziellen Privilegierungstatbeständen der §§ 28 Abs. 2 und 35 Abs. 1 AufenthG anwendbar.

2. § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfordert als Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht den vorhergehenden dreijährigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG; der dreijährige Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs ist ausreichend.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Familiennachzug, familiäre Lebensgemeinschaft, deutsche Staatsangehörigkeit, Integration, deutsche Familienangehörige, Kindernachzug, Einbürgerung, minderjährig, Kinder, Kind, Familienzusammenführung,
Normen: AufenthG § 9 Abs. 2, AufenthG § 28 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

b) Sie haben allerdings einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist dem Ausländer in der Regel eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er drei Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen im Bundesgebiet fortbesteht, kein Ausweisungsgrund vorliegt und er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.

aa) Die Kläger sind seit drei Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. In § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist nicht vorausgesetzt, dass der Ausländer seit drei Jahren im Besitz einer ganz bestimmten Aufenthaltserlaubnis, nämlich einer solchen nach § 28 Abs. 1 AufenthG sein muss (VG Stuttgart, B.v. 2.11.2010 – 11 K 437/09 – juris Rn. 6 ff.; a.A. Marx in GK zum AufenthG, Stand Juli 2014, § 28 AufenthG Rn. 247 f. sowie Göbel-Zimmermann in Huber, AufenthG, 1. Aufl. 2010, § 38 AufenthG Rn. 12). Ausreichend ist es daher auch, dass die Kläger seit drei Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG sind. Zwar könnte die systematische Stellung des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG dafür sprechen, dass er in einer Stufenfolge und anknüpfend an § 28 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 der Vorschrift verlangt. Dies kommt allerdings weder im Wortlaut der Norm des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG noch in sonstiger Weise zum Ausdruck. Allein die unmittelbare Absatzfolge (Absatz 2 nach Absatz 1) gebietet eine derartige Auslegung nicht. Vielmehr legt schon der Wortlaut mit der Verwendung des unbestimmten Artikels ("drei Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis") nahe, dass der Gesetzgeber nicht eine ganz bestimmte Aufenthaltserlaubnis, nämlich nach § 28 Abs. 1 AufenthG voraussetzt, sondern auch eine andere Aufenthaltserlaubnis ausreichen lassen will. Auch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für diese Auslegung. Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG werden Ausländer, die in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem Deutschen leben, im Hinblick auf die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis in zeitlicher Hinsicht begünstigt, weil in dieser Lebenskonstellation von einer gesteigerten und beschleunigten Integration des Ausländers auszugehen ist (so auch Hailbronner, AuslR, Stand Juni 2014, § 28 AufenthG Rn. 40). Damit ist es vorliegend ausreichend, dass die Kläger den vorhergehenden dreijährigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vorweisen können. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG müssen sie nicht zwingend besitzen. Denn das Zusammenleben mit einem deutschen Familienangehörigen wirkt unabhängig von der Art der erteilten Aufenthaltserlaubnis in gleicher Weise integrativ (Oberhäuser in Hofmann/Hoffmann, HK-AuslR, 1. Aufl. 2008, § 28 AufenthG Rn. 38).

Unschädlich ist es im vorliegenden Fall auch, dass der Familiennachzug zunächst zu einem ausländischen Staatsangehörigen (dem Vater der Kläger) erfolgt ist. Denn dieser ist durch Einbürgerung zum deutschen Staatsangehörigen geworden und hatte bereits zum Zeitpunkt des Familiennachzugs alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt (vgl. hierzu auch Oberhäuser in Hofmann/Hoffmann, HK-AuslR, 1. Aufl. 2008, § 28 AufenthG Rn. 38). Anlass für die Vermutung, dass ein Ausländer, der zu einem Deutschen nachzieht, um in einer familiären Lebensgemeinschaft mit diesem zu leben, sich schneller integriert, ist die Lebenserfahrung, dass der enge Kontakt und Einfluss des Deutschen die Integration regelmäßig bestärkt und beschleunigt. Diese Vermutung knüpft nicht an den rein formalen Status der deutschen Staatsangehörigkeit an, sondern an die tatsächlichen Umstände der individuellen familiären Lebensgemeinschaft. Es ist im Rahmen des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG daher nicht zwingend erforderlich, dass derjenige, zu dem der Familiennachzug erfolgt ist, von Beginn des dreijährigen Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis und des gemeinsamen Zusammenlebens im Bundesgebiet an die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Ebenso genügt es, wenn die deutsche Staatsangehörigkeit bis zum Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis erworben worden ist, das betroffene Familienmitglied – wie vorliegend der Vater der Kläger – aber bereits seit mindestens drei Jahren des gemeinsamen Zusammenlebens alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt und eine zügigere Einbürgerung nur deshalb nicht erfolgen konnte, weil es bei den ausländischen Behörden im Rahmen der Entlassung aus der ausländischen Staatsangehörigkeit zu Verzögerungen gekommen ist. Denn die Vermutung einer beschleunigten und gesicherten Integration des nachgezogenen Familienmitglieds beim familiären Zusammenleben mit einem Deutschen, hat ihren Ursprung nicht in einem bloßen formalen Anknüpfungspunkt, sondern in den tatsächlichen Lebensumständen. Die gesteigerte Integrationsvermutung beruht nicht auf dem Innehaben eines deutschen Passes, sondern auf dem vermuteten positiven Einfluss auf die Integration des Nachgezogenen durch einen Deutschen. Von einem solchen positiven Einfluss ist beim Vater der Kläger, der schon seit dem Jahre 2008 die wesentlichen Voraussetzungen der Einbürgerung erfüllt und lediglich aus formalen Kriterien noch nicht eingebürgert worden war, auszugehen. Zuletzt spricht auch die von Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Stärkung der Einheit und des Zusammenhalts der Familie für die hier vorgenommene Auslegung. Denn wird ein Mitglied einer familiären Lebensgemeinschaft durch Einbürgerung statusrechtlich "aufgewertet", so legt es Art. 6 Abs. 1 GG nahe, möglichst auch bei den anderen Familienangehörigen eine "Höherstufung" vorzunehmen. Wird demnach dasjenige Familienmitglied aus einer familiären Lebensgemeinschaft, das den anderen Familienmitgliedern den bisherigen Familiennachzug vermittelt hat, eingebürgert, so ist es folgerichtig, auch die anderen ausländischen Familienangehörigen durch Erteilung einer Niederlassungserlaubnis statusrechtlich aufzuwerten (VG Stuttgart, B.v. 2.11.2010 – 11 K 437/09 – juris Rn. 13).

bb) Zudem sind auch die übrigen Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei den Klägern erfüllt. Die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen – ihrem Vater – besteht fort, es liegt weder bei der Klägerin zu 1 noch beim Kläger zu 2 ein Ausweisungsgrund vor und beide Kläger verfügen über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache. Ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache liegen vor, wenn sich der Ausländer im täglichen Leben einschließlich der Kontakte mit Behörden in seiner deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden vermag und mit ihm ein seinem Alter und Bildungsstand entsprechendes Gespräch geführt werden kann. Dazu gehört auch, dass der Ausländer einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen, verstehen und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann. Diese Voraussetzungen liegen bei den Klägern vor. Die Klägerin zu 1 besucht seit dem Jahr 2008 eine deutsche Schule und absolvierte am 18. Juli 2014 den qualifizierenden Abschluss der Mittelschule. Im Fach Deutsch erzielte sie die Note "gut". Auch der Kläger zu 2 verfügt über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache. Er besucht seit dem Jahr 2008 eine deutsche Schule und hat im Jahreszeugnis der 5. Jahrgangsstufe zumindest die Note "ausreichend" erzielt.

cc) Anhaltspunkte dafür, dass ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, der eine Ausnahme von der Regelerteilung des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründen könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

c) Daneben steht der Klägerin zu 1 ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auch aus § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu, der neben § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Anwendung kommen kann.

aa) Mit § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat der Gesetzgeber einen privilegierten Erwerbstatbestand geschaffen, der minderjährigen Ausländern unter erleichterten Voraussetzungen einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zugesteht. Ist ein minderjähriger Ausländer im Zeitpunkt der Vollendung seines 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 6 des AufenthG, so ist ihm eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, ohne dass weitere Voraussetzungen – insbesondere die des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG – erfüllt sein müssen. Dies bedeutet aber nicht, dass mit § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Tatbestand vorliegt, der in einschlägigen Fällen als lex specialis andere Rechtsgrundlagen nach dem AufenthG verdrängt. Denn § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG privilegiert minderjährige Ausländer unter den dort genannten Voraussetzungen. Daraus lässt sich folgern, dass dieser Tatbestand andere Rechtsgrundlagen, vor allem § 9 Abs. 2 AufenthG, nicht ausschließt, sondern deren Anwendbarkeit neben dem Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gestattet (ebenso Hailbronner, AuslR, Stand Juni 2014, § 35 AufenthG Rn. 5; Oberhäuser in Hofmann/Hoffmann, HK-AuslR, 1. Aufl. 2008, § 35 AufenthG Rn. 4; Tewocht in Kluth/Heusch, Beck´scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand 1. März 2014, § 35 AufenthG Rn. 3; zum vergleichbaren Verhältnis des Privilegierungstatbestands des § 28 Abs. 2 AufenthG zu § 9 Abs. 2 AufenthG und dessen Anwendbarkeit siehe BayVGH, U.v. 3.6.2014 – 10 B 13.2426 – juris Rn. 20 ff.). Auch nach dem Wortlaut der Regelung in § 9 Abs. 2 AufenthG sind Minderjährige von deren Anwendung nicht ausgeschlossen. Sind demnach die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht gegeben, zum Beispiel, weil – wie vorliegend – der minderjährige Ausländer das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erfüllt der Betroffene aber sämtliche Voraussetzungen des insgesamt strengeren § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, so steht ihm auch ein Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis aus dieser Norm zu. Ebenso wenig schließt § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 2 AufenthG aus (BayVGH, U.v. 3.6.2014 a.a.O.).

bb) Die Klägerin zu 1 erfüllt alle Tatbestandsvoraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Sie besitzt seit dem 18. Juni 2008 und damit seit mehr als fünf Jahren eine Aufenthaltserlaubnis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Ihr Lebensunterhalt ist gesichert, weil das Einkommen der Eltern, in deren Haushalt sie noch lebt, für die ganze Familie ausreicht (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG wird nach § 9 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen, weil sich die Klägerin zu 1 noch in Ausbildung befindet. Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung stehen nicht entgegen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Derartige Gründe wurden von der Beklagten weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 und 6 AufenthG müssen nicht vorliegen, weil die Klägerin zu 1 noch keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Des Weiteren verfügt die Klägerin zu 1 über die von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG geforderten ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache (siehe hierzu bereits unter 2. b) bb)). Ebenso verfügt die Klägerin zu 1 über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG). Diese Voraussetzung ist nachgewiesen, wenn der Ausländer einen Integrationskurs erfolgreich abgeschlossen hat (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Der Gesetzgeber lässt es aber auch ausreichen, wenn ein Schulabschluss nachgewiesen wird (BT-Drs. 15/420 S. 72; ebenso auch Nr. 9.2.1.8 AufenthG-VwV). Durch den erfolgreichen qualifizierenden Abschluss der Mittelschule hat die Klägerin zu 1 die geforderten Grundkenntnisse nachgewiesen. Zuletzt verfügt sie über ausreichenden Wohnraum gem. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 AufenthG. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder wohnt sie in einer 84,77 m² großen Wohnung. Eine Wohnung mit einer derartigen Wohnfläche bietet auch für eine vierköpfige Familie ausreichenden Wohnraum.

d) Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Kläger zu 2 seinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach Auffassung der Kammer nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG stützen könnte, weil er die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG nicht erfüllt. Der Kläger zu 2 hat weder einen Integrationskurs erfolgreich absolviert noch kann er einen Schulabschluss vorweisen. Er besucht derzeit die 6. Klasse einer Mittelschule. Die bis zu diesem Zeitpunkt in der Schule vermittelten Kenntnisse hinsichtlich der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet decken ausweislich der Lehrpläne des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst die einschlägigen Materien noch nicht in einer derartigen Breite und Tiefe ab, dass auch nur von dem Vorhandensein von Grundkenntnissen die Rede sein kann. Während die Lehrpläne beispielsweise im Bereich des sozialkundlichen Grundwissens für die 5. und 6. Jahrgangsstufe das Zusammenleben der Menschen als wesentliche Lehrinhalte vorschreiben, werden Thematiken wie die Demokratie in Deutschland, politische Prozesse sowie politisches Engagement hauptsächlich erst in den Jahrgangsstufen 7 und 8 besprochen. Diese Materien gehören aber (auch) zum wesentlichen Kern der Grundkenntnisse der Gesellschafts- und Rechtsordnung im Bundesgebiet, die der Kläger in der Schule jedoch noch nicht vermittelt bekommen haben kann. Sollte er sich die entsprechenden Kenntnisse auf andere Weise angeeignet haben, so hätte es ihm freigestanden, dies durch Absolvieren des Integrationskurses nachzuweisen. [...]