OLG Karlsruhe

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Zitieren als:
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23.04.2014 - 1 AK 27/14 - asyl.net: M22384
https://www.asyl.net/rsdb/M22384
Leitsatz:

1. Ein Verstoß gegen Art.. 8 MRK führt dann zu einem Auslieferungshindernis, wenn der Kernbereich der Garantie verletzt ist (Fortführung von Senat StraFo 2007, 477 und NStZ 2005, 351).

2. Ein solcher Fall kann im Rahmen der Auslieferung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier Polen) aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zum Zwecke der Strafvollstreckung dann anzunehmen sein, wenn bereits in einem anderen Mitgliedstaat (hier Italien) eine gerichtliche Entscheidung getroffen wurde, dass der Verfolgte die gegen ihn die im Europäischen Haftbefehl aufgeführte Strafe in dem Mitgliedsstaat seines tatsächlichen Aufenthalts (hier: Italien) verbüßen darf.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Auslieferungshindernis, Auslieferung, Europäischer Haftbefehl, tatsächlicher Aufenthalt, Freiheitsstrafe, Vollstreckung,
Normen: EMRK Art. 8, IRG § 73 Abs. 2, IRG § 83b,
Auszüge:

[...]

Die Auslieferung des Verfolgten nach Polen aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in P. vom 12.05.2010 ist nicht zulässig.

Allerdings liegen die materiellen Auslieferungsvoraussetzungen vor. Die dem Verfolgten zur Last gelegten Taten erfüllen nach deutschem Strafrecht unbeschadet einer Einstufung als Katalogtaten nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb i.V. § 81 Nr. 4 IRG jedenfalls die Strafvorschriften der §§ 239, 223, 240, 53 StGB und stellen sich damit als auslieferungsfähige Straftaten im Sinne des § 81 Nr. 2 IRG dar.

Es besteht jedoch ein Auslieferungshindernis, weil eine Auslieferung des Verfolgten jedenfalls in der besonderen vorliegenden Fallkonstellation einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Verfolgten auf Achtung seines Privat- und Familienlebens darstellen würde (Art. 8 MRK i.V.m. § 73 Satz 2 IRG).

1. Gegenstand des Auslieferungsersuchens der polnischen Justizbehörden ist ein Europäischer Haftbefehl, welchem nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 13.06.2002 (RbEuHb) der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von justitiellen Entscheidungen zugrunde liegt. Nach Art. 1 Abs. 2 RbEuHb sind die Mitgliedstaaten danach grundsätzlich verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung bedeutet jedoch keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Vollstreckung des Haftbefehls. Nach dem System des Rahmenbeschlusses, wie es insbesondere Art. 4 RbEuHb zu entnehmen ist, können die Mitgliedstaaten den zuständigen Justizbehörden nämlich unter bestimmten Umständen erlauben, zu entscheiden, dass eine verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt werden muss. Dies gilt insbesondere für Art. 4 Nr. 6 RbEuHb, wonach es die vollstreckende Justizbehörde ablehnen kann, einen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn sich die gesuchte Person "im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat" und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken (siehe hierzu EuGH, Urteil vom 05.09.2012, C-42/11 - Lopes da Silva Jorge - NJW 2013, 141). Von dieser Möglichkeit haben die italienischen Justizbehörden aufgrund der Regelungen ihres nationalen Rechts vorliegend Gebrauch gemacht und angeordnet, dass der Verfolgte aufgrund seiner in Italien erfolgten Integration in die Gesellschaft die gegen ihn durch das Amtsgerichts M./Polen vom 12.11.2007 verhängte Freiheitsstrafe jedenfalls bezüglich des noch ausstehenden Strafrestes in Italien verbüßen soll.

2. Diese im Verhältnis zwischen Polen und Italien bestehende auslieferungsrechtliche Lage entfaltet für den Senat keine unmittelbare Bindung. Insoweit sieht das deutsche Recht in § 83b Abs.2 lit b IRG nur die Möglichkeit vor, eine Auslieferung eines Verfolgten, welcher im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, deshalb abzulehnen, weil sein schutzwürdiges Interesse an einer Vollstreckung im Inland überwiegt, insbesondere seine Resozialisierung im Inland besser gewährleistet ist (vgl. Senat NStZ-RR 2009, 107; EuGH, Urteil vom 17.07.2008, C-66/08 - Kozlowski - NJW 2008, 3201; ders., Urteil vom 05.09.2012, C-42/11 - Lopes da Silva Jorge - NJW 2013, 141, ders., Urteil vom 06.10.2009, C -123/08 - Wolzenburg - NJW 2010, 283; siehe hierzu auch den Rahmenbeschluss 2008/909/Ji des Rates vom 27.11.2008). Auf die Frage, ob eine Resozialisierung in einem Drittstaat noch besser als im Inland gewährleistet sein könnte, kommt es nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht an. Eine solche Bindungswirkung ergibt sich auch nicht aus dem Doppelbestrafungsverbot des § 83 Nr.1 IRG, weil es hier nicht um die Frage geht, ob innerhalb der Mitgliedstaaten dieselbe Tat mehrfach abgeurteilt und vollstreckt werden kann, sondern nur darum, in welchem Staat der Verfolgte eine in einem Mitgliedstaat verhängte Strafe - hier aus dem Urteil des Amtsgerichts M./Polen vom 12.11.2007 - verbüßen soll.

3. Im vorliegenden Verfahren besteht jedoch die Besonderheit, dass es nicht in erster Linie um die Frage geht, in welchem Staat ein Verfolgter seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat und seine Resozialisierung am besten gesichert ist, sondern hier wurde nach Aktenlage bereits zwischen zwei Mitgliedstaaten - Polen und Italien - im Rahmen der Auslieferung aufgrund eines im selben Verfahren erlassenen Europäischen Haftbefehls eine Regelung hierzu getroffen. Dass der Verfolgte sich insoweit der ihm in Italien drohenden Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts M./Polen vom 12.11.2007 hätte entziehen wollen, ist weder dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in P./Polen vom 12.05.2010 zu entnehmen noch erscheint eine solche Annahme als wahrscheinlich, da der Verfolgte bei seiner richterlichen Anhörung am 20.02.2014 vor dem Amtsgericht F. glaubhaft angegeben hat, nur wegen des Verkaufs eines Kraftfahrzeugs kurzzeitig nach Deutschland eingereist zu sein. Auch haben die polnischen Justizbehörden im Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in P./Polen vom 12.05.2010 keine Umstände mitgeteilt, aus welchem Grunde eine Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe in Italien nunmehr nicht mehr in Betracht kommen sollte.

Insoweit ist der Senat der Ansicht, dass jedenfalls in einem solchen Ausnahmefall eine Auslieferung des Verfolgten nach Polen auch und gerade im Hinblick auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts in S./Italien vom 18.11.2011 einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Verfolgten auf Achtung seines Privat- und Familienlebens darstellen (Art. 8 MRK) würde, so dass der Kernbereich dieser Garantie verletzt ist und damit ein Auslieferungshindernis besteht (§ 73 Satz 2 IRG). [...]