LSG Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2014 - L 9 R 4742/12 - asyl.net: M22376
https://www.asyl.net/rsdb/M22376
Leitsatz:

Angehörige eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaft haben (auch) nach der Rückkehr in ihr Heimatland das Recht zur freiwilligen Versicherung in der deutschen Rentenversicherung. Dieses Recht steht der Erstattung gezahlter Versicherungsbeiträge zur deutschen Rentenversicherung entgegen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Rentenversicherung, Sozialversicherung, Versicherungsbeiträge, Rentenbeiträge, Erstattung, Wanderarbeitnehmer, Systeme sozialer Sicherheit, soziale Sicherheit, Griechenland, Versicherungspflicht, freiwillige Versicherung, Unionsbürger,
Normen: SGB VI § 210 Abs. 1 Nr. 1, SGB VI § 210, VO 1408/71 Art. 89,
Auszüge:

[...]

Die Erstattung rechtmäßig gezahlter Beiträge zur Rentenversicherung richtet sich nach § 210 SGB VI. Da der am 13.06.1968 geborene Kläger die Regelaltersgrenze noch nicht erreicht hat und kein Überlebender eines Versicherten im Sinne des § 210 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI ist, kommt für den geltend gemachten Erstattungsanspruch nur § 210 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI in Betracht. Danach werden Versicherten, die nicht versicherungspflichtig sind und nicht das Recht zur freiwilligen Versicherung haben, auf Antrag Beiträge erstattet. Weitere Voraussetzungen sind, dass seit dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht 24 Kalendermonate abgelaufen sind und seither nicht erneut Versicherungspflicht eingetreten ist (§ 210 Abs. 2 SGB VI).

Der Kläger hat den erforderlichen Antrag am 12.03.2009 gestellt. Anzuwenden ist damit der zum 01.01.2008 in Kraft getretene § 210 SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) vom 20.04.2007 (BGB I, 554 ff. – vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 10.07.2012 – B 13 R 26/10 R, in Juris).

Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen einer Erstattung von Beiträgen nach § 210 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI: Die Regelung ist auf ihn anwendbar und regelt abschließend die Berechtigung zur Erstattung wirksam gezahlter Beiträge. Der Kläger ist Versicherter im Sinne dieser Vorschrift. Seine griechische Staatsbürgerschaft ist insoweit ohne Belang. Denn er hat nach dem vorliegenden, dem Bescheid vom 29.05.2009 beigefügten Versicherungsverlauf Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund abhängiger Beschäftigung im Zeitraum vom 01.05.1999 bis 30.06.2008 (unterbrochen durch den Bezug von Sozialleistungen in der Zeit vom 22.06.2002 bis 06.07.2002) geleistet und war kraft Gesetzes gemäß § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI als Beschäftigter versicherungs - pflichtig. Die nach § 162 SGB VI zu erhebenden Beiträge, die gemäß § 168 Abs. 1 SGB VI von den Versicherten und den Arbeitgebern je zur Hälfte getragen werden, sind im Rahmen des Gesamtsozialversicherungsbeitrages eingezogen und dem Kläger auf dessen Versicherungskonto gutgeschrieben worden. Er war nach seiner Ausreise nach Griechenland in der BRD auch nicht mehr versicherungspflichtig. Ob er in Griechenland der Versicherungspflicht unterlag oder unterliegt, kann dahinstehen, denn jedenfalls steht ihm als griechischer Staatsbürger das Recht zur freiwilligen Versicherung zu. Das Recht zur freiwilligen Versicherung folgt zwar nicht unmittelbar aus § 7 SGB VI. Denn danach sind grundsätzlich alle Deutschen ohne Rücksicht auf ihren gewöhnlichen Aufenthalt und im Übrigen alle Nichtdeutschen im Geltungsbereich des Gesetzes zur freiwilligen Versicherung berechtigt. Die freiwillige Versicherung setzt aber eine Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit nicht voraus. Zu ihr berechtigt sind deshalb gemäß § 3 Nr. 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) grundsätzlich alle Personen ohne Ansehen der Staatsangehörigkeit, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 30 SGB I) im Geltungsbereich des SGB haben (vgl. Gürtner in Kasseler Kommentar, 81. EL 2014, § 7 SGB VI Rn. 3). Gemäß § 6 SGB IV bleiben die Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt. Zur freiwilligen Versicherung sind daher auch alle Personen berechtigt, die nach zwischen- oder überstaatlichem Recht wenigstens bzgl. der Berechtigung zur freiwilligen Versicherung dem oben genannten Personenkreis gleichgestellt sind. Eine solche überstaatliche Regelung mit der Eröffnung des Rechts auf eine freiwillige Versicherung enthält das Recht der Europäischen Union.

Gemeinschaftsrechtlicher Maßstab für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (ausgehend vom Antrag am 12.03.2009) ist Art. 89 der "alten" Wanderarbeitnehmerverordnung EWG Nr. 1408/71, weil die Nachfolgeverordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 29.04.2004 (ABl. 2004 Nr. L 166, 1 ff) gemäß deren Art. 91 Satz 2 erst ab dem Inkrafttreten einer Durchführungsverordnung galt. Die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist aber erst am 01.05.2010 in Kraft (Art. 97 der VO <EG> Nr. 987/2009) getreten (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, SozR 4-4200 § 7 Nr. 21). Danach sind Besonderheiten bei der Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten im Anhang VI aufgeführt. Dort heißt es unter E (Deutschland) Nr. 4:

§ 7 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) wird auf die Staatsangehörigkeit der übrigen Mitgliedstaaten und die in deren Gebiet wohnenden Staatenlosen und Flüchtlinge wie folgt angewandt:

Freiwillige Beiträge zur deutschen Rentenversicherung dürfen bei Erfüllung der allgemeinen Voraussetzungen entrichtet werden, wenn

a) die betreffende Person ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hat;

b) die betreffende Person ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat und zu irgendeinem Zeitpunkt vorher in der deutschen Rentenversicherung pflichtversichert oder freiwillig versichert war;

c) der Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet eines Drittstaates hat, in der deutschen Rentenversicherung für wenigstens 60 Monate Beiträge entrichtet hat oder nach § 232 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) zur freiwilligen Versicherung berechtigt ist und nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nicht pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.

Damit ist dem Kläger gemäß § 6 SGB IV und der Regelung nach Anhang 6 unter E Nr. 4 das Recht zur freiwilligen Versicherung nach § 7 SGB VI eingeräumt worden, weil Griechenland 1981 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der späteren Europäischen Union, beigetreten war, der Kläger die Staatsangehörigkeit von Griechenland besitzt, dort seinen Wohnsitz hat und vor seiner Rückkehr nach Griechenland in der deutschen Rentenversicherung pflichtversichert gewesen war, wie oben bereits festgestellt wurde. Er erfüllt auch die allgemeinen Voraussetzungen. Damit kann nur gemeint sein, dass die Berechtigung des im EU-Ausland lebenden, aber in der deutschen Rentenversicherung Versicherten nicht weitergehen kann als die der in § 7 SGB VI (in der im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung) genannten Deutschen. Danach ist zu berücksichtigen, dass eine freiwillige Versicherung erst für die Zeit ab dem vollendeten 16. Lebensjahr an möglich ist (§ 7 Abs. 1 SGB VI) und dass – gemäß § 7 Abs. 2 SGB VI in der bis 10.08.2010 anzuwendenden Fassung – bei versicherungsfreien oder -befreiten Personen eine freiwillige Versicherung nur dann möglich war, wenn diese die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die allgemeine Wartezeit, die gemäß § 50 Abs. 1 SGB VI fünf Jahre beträgt, hatte der Kläger im Zeitpunkt der Antragstellung mit den festgestellten Beitragszeiten (vgl. § 51 Abs. 1 SGB VI) erfüllt. Schließlich war dem Kläger auch keine Vollrente wegen Alters bewilligt, er bezog eines solche Rente auch nicht (§ 7 Abs. 3 SGB VI), weshalb er die weiteren Voraussetzungen des § 7 SGB VI (und damit die allgemeinen Voraussetzungen der VO EWG Nr. 1408/71) für eine freiwillige Versicherung erfüllte. Die Erstattung von Beiträgen nach § 210 SGB VI ist damit ausgeschlossen.

Dabei genügt im Übrigen das bloße Bestehen der Berechtigung zur freiwilligen Versicherung, unabhängig davon, ob er über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt und welche rentenrechtlichen Auswirkungen die freiwilligen Beiträge haben (vgl. Wehrhahn in Kasseler Kommentar, a.a.O., § 210 Rn. 6).

Eine andere Rechtslage ergäbe sich im Übrigen auch nicht nach dem zum 11.08.2010 zeitgleich zur Abschaffung des § 7 Abs. 2 SGB VI eingeführten § 210 Abs. 1a Satz 1 SGB VI und /oder mit Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004. Denn auch nach § 210 Abs. 1a Satz 1 SGB VI werden Beiträge auf Antrag des Versicherten nur erstattet, wenn die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt ist. Das Recht auf eine freiwillige Versicherung ergibt sich inhaltsgleich aus VO (EG) Nr. 883/2004, Art. 83 i.V.m. mit Anhang XI Nr. 4 (und nicht aus Nr. 2, wie die Beklagte vorgetragen hat).

Soweit der Kläger aus den Formulierungen überstaatlichen Rechts ("Freiwillige Beiträge zur deutschen Rentenversicherung dürfen … entrichtet werden" bzw. "freiwillige Rentenbeiträge bezahlen") schließen will, dies sei nicht gleichbedeutend mit dem Recht zu einer freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung, trifft dies nicht zu. Die Formulierung im Anhang der VO (EWG) 1408/71 trägt lediglich den Formulierungen in den Vorgängerregelungen zu § 7 SGB VI, nämlich § 1233 Abs. 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung und § 10 Abs. 1 Angestelltenversicherungsgesetz Rechnung, wonach die hiernach berechtigten Personen "freiwillige Beiträge entrichten" konnten. Eine Änderung ist mit der sprachlichen Neufassung in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, der zum 01.01.1992 und damit während der Geltung der VO EWG Nr. 1408/71 in Kraft getreten war, nicht eingetreten (Boecken, GK SGB VI, Stand Juli 2014, § 7 Rn 4 und Vorbem. Rn 92ff.). Mit dieser sprachlichen Änderung wird insbesondere keine Aussage über das Zustandekommen (die Begründung) einer freiwilligen Versicherung getroffen, wofür neben einer entsprechenden Willenserklärung auch die Entrichtung von Beiträgen beim Rentenversicherungsträger als Realakt erforderlich ist (Boecken a.a.O.). [...]