VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 16.10.2014 - 4 A 108/13 - asyl.net: M22371
https://www.asyl.net/rsdb/M22371
Leitsatz:

Für Angehörige diskriminierter Minderheiten wie der Hindus oder Sikhs ist es noch schwieriger als für die übrige Bevölkerung, auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt eine existenzsichernde Arbeitsmöglichkeit zu finden.

Schlagwörter: Afghanistan, Sikhs, Tempel, Ältestenrat, Kabul, Abschiebungsverbot, Diskriminierung, Hindu, Existenzminimum, Abschiebungshindernis,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach Auffassung der Einzelrichterin ergibt sich aus der Auskunftslage, dass bei der Personengruppe der gesunden und arbeitsfähigen männlichen afghanischen Staatsangehörigen bei einer Rückkehr nach Kabul, wohin die Abschiebung regelmäßig erfolgt, eine extreme Gefahrensituation im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht besteht. Dies gilt auch dann, wenn der Rückkehrer beruflich nicht besonders qualifiziert ist und weder über nennenswertes Vermögen noch über Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte, die in Kabul leben, verfügt (vgl. auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 03. Juli 2013 - 9 LA 128/13 -, n.v., mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Allerdings ergibt sich vorliegend für den Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sikhs eine besondere Situation. Wegen der vielfältigen Diskriminierungen und Benachteiligungen für Sikhs in Afghanistan wird es dem Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland zur Überzeugung der Einzelrichterin voraussichtlich unmöglich sein, sich eine neue Existenz aufzubauen (vgl. auch für die ähnliche Situation von Hindus in Afghanistan: VG Stade, Urteil vom 25. April 2012 - 6 A 563/11 -, n.v.; VG Lüneburg, Urteil vom 18. Dezember 2007 - 1 A 124/06 - n.v.).

Aus der Auskunft der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vom 20. September 2011 ergibt sich, dass die afghanische Regierung zwar grundsätzlich in der Lage und willens ist, Hindus im Falle von Übergriffen zu schützen. Die soziale Lage der (rückkehrenden) Hindus muss hiernach jedoch als katastrophal bewertet werden. So ist die wirtschaftliche Situation der Hindus in Afghanistan generell sehr schwach. Die Mehrheit der Hindus arbeitet auf dem freien Markt und hat Schwierigkeiten, die Familie zu versorgen. In Kabul gibt es hinsichtlich der Verfügbarkeit von Wohnraum Probleme. Die Häuser einiger Hindus sind von Warlords okkupiert und nicht wieder freigegeben worden. Diejenigen, die aus dem Ausland nach Kabul zurückkehren, leben in Tempeln, da sie vor ihrer Flucht in ein anderes Land ihren gesamten Besitz - einschließlich des Hauses - veräußert haben. Eine Grundversorgung mit Lebensmitteln kann nicht garantiert werden. Da die Minderheiten der Sikhs und der Hindus in der Außendarstellung und ihren Forderungen gemeinsam auftreten, legt die Einzelrichterin die aus dieser Auskunft gewonnenen Erkenntnisse auch dem vorliegenden Klageverfahren eines Angehörigen der Sikhs zugrunde. Denn schließlich ist es insbesondere auch in den internationalen Berichten üblich, Hindus und Sikhs als eine Gruppe zu behandeln (vgl. ausführlich VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. September 2013 - A 11 S 689/13 -, juris).

Da der Kläger in Afghanistan weder über verwandtschaftliche Beziehungen außerhalb des Tempels noch über Grundbesitz verfügt, würde er allenfalls die Möglichkeit haben, ebenfalls erneut in einem der weitgehend zerstörten Tempeln Unterkunft zu finden. Die Lebensverhältnisse dort sind äußerst schwierig und unter hygienischen Gesichtspunkten teilweise unzumutbar. Das Finden einer Arbeitsmöglichkeit zur Existenzsicherung gestaltet sich angesichts des ohnehin hart umkämpften Arbeitsmarktes für Angehörige einer diskriminierten Minderheit wie den Hindus oder Sikhs noch schwieriger als für die übrige Bevölkerung (Gutachten Dr. Danesch vom 21. August 2008). Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in der Lage sein wird, durch die Aufnahme einer Arbeit seinen Lebensunterhalt zu sichern.

Hinzu kommt, dass noch nicht einmal die Rückkehr des Klägers in einen der Tempel gewährleistet ist. Die in Armut und Elend lebenden Sikhs haben sich in den Tempeln zusammengetan, um ihre wenige Habe miteinander zu teilen und so ein Überleben zu sichern. Dementsprechend hat auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 16. Oktober 2014 schlüssig dargelegt, dass eine Art Ältestenrat im Tempel darüber entscheidet, wer überhaupt in den Tempel einziehen darf. Der Kläger hat sich während seines Aufenthalts in Deutschland zwar nicht innerlich von seinem Glauben entfernt. Um sich in die hiesigen Verhältnisse zu integrieren, hat er jedoch davon abgesehen, sich die Haare wieder lang wachsen zu lassen. Rein äußerlich unterscheidet er sich daher also von seinen im Tempel lebenden Glaubensbrüdern. Zudem konnte der Kläger in Deutschland keinen engen Kontakt zu einer Sikh-Gemeinschaft pflegen, da es in der näheren Umgebung seines Wohnortes eine solche nicht gibt. Die Einzelrichterin teilt damit die Befürchtung des Klägers, seine Glaubensbrüder in Kabul könnten annehmen, der Kläger habe sich während seines Aufenthalts in Deutschland von ihnen entfremdet. Hinzu kommt, dass Rückkehrer aus Europa pauschal als "reich" betrachtet werden und der Kläger überdies zwischenzeitlich einen deutschen Hauptschulabschluss erworben hat. In der Summe kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die im Tempel lebenden Sikhs in Afghanistan bereit sein werden, ihre wenige Habe mit dem Kläger zu teilen (vgl. auch Dr. Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006). Da die in Kabul lebende Familie des Klägers selber auf Unterstützung aus dem Tempel angewiesen ist, kann der Kläger auch nicht auf deren Hilfe verwiesen werden.

Nach alldem ist die Beklagte zu verpflichten, zugunsten des Klägers ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. [...]