VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 21.07.2014 - 3 A 3471/13 - asyl.net: M22365
https://www.asyl.net/rsdb/M22365
Leitsatz:

Asylberechtigung und Flüchtlingsanerkennung für einen Flüchtling aus dem Sudan, der jahrelang in Libyen gelebt hat und dort wie auch in der Bundesrepublik für die JEM in herausgehobener Position exilpolitisch aktiv war.

Schlagwörter: Sudan, JEM, Justice and Equality Movement, Darfur, Exilpolitik, Selbsteintritt, Libyen, sichere Drittstaaten, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe,
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1, GG Art. 16a, AsylVfG § 28 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. November 2013 ist bezüglich des Klägers zu 1) rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Er hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Der Anerkennung des Klägers zu 1) als Asylberechtigte steht entgegen der Auffassung des Bundesamtes nicht bereits die Drittstaatenregelung in § 26a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG entgegen, weil im vorliegenden Fall die Ausnahmevorschrift nach § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG zu Gunsten des Klägers zu 1) eingreift. Denn die Ausnahmevorschrift § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG ist auch dann anzuwenden, wenn sich Deutschlands Zuständigkeit aus sekundären oder besonderen Zuständigkeitskriterien der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (VO Dublin II) ergibt. Darunter fällt - wie hier - auch der Fall eines Selbsteintritts nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (VO Dublin II) (vgl. Hoffmann in Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, Handkommentar, AsylVfG § 26a Rdnr. 18; VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012 - 9 K 1279/10.A - zitiert nach juris). Ausweislich des Vermerks auf Bl. 103 der Verwaltungsakte des Bundesamtes war ein Dublin-Verfahren nicht möglich und im nationalen Verfahren zu entscheiden.

Hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigter kann offen bleiben, ob sich der Anspruch wegen der Ausübung des Selbsteintrittsrechts im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (VO Dublin II) aus Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergibt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band 3, § 27a AsylVfG Rdnr. 65 (Stand: Februar 2010) oder von einem einfachrechtlichen Anspruch vor dem Hintergrund des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) auszugehen ist; für Letzteren spricht, dass einerseits Art. 16a Abs. 5 GG mit Blick auf den Selbsteintritt die Absätze 1 bis 4 des Art. 16a GG sperrt, andererseits § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG den Ausschluss der Berufung auf Art. 16a Abs. 1 GG für den Fall der Einreise aus einem sicheren Drittstaat bei Zuständigkeitsbegründung nach Art. 3 Abs. 2 VO Dublin II aufhebt (vgl. hierzu Hoffmann in Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, Handkommentar, AsylVfG § 26a Rdnr. 18; Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Band 2, § 26a Rdnr. 126 (Stand: November 2009); Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 7. Auflage 2009, § 26a Rdnr. 133; Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 10. Auflage 2013, § 26a AsylVfG Rdnr. 10). Das Entscheidungsprogramm des § 31 Abs. 2 AsylVfG sieht insoweit keine Differenzierung vor (VG Aachen, Urteil vom 11.01.2012 - 9 K 1279/10.A - zitiert nach juris).

Eine Anerkennung des Klägers zu 1) als Asylberechtigter ist auch nicht nach § 27 Abs. 1 und 3 AsylVfG ausgeschlossen. Denn es ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht in einem sonstigen Drittstaat im Sinne des § 27 Abs. 1 AsylVfG vor politischer Verfolgung sicher war. Nach § 27 Abs. 1 AsylVfG wird ein Ausländer, der bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war, nicht als Asylberechtigter anerkannt. Hat sich der Ausländer in einem sonstigen Drittstaat, in dem ihm keine politische Verfolgung droht, vor der Einreise in das Bundesgebiet länger als drei Monate aufgehalten, so wird nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG vermutet, dass er dort vor politischer Verfolgung sicher war. Das gilt nicht, wenn der Ausländer glaubhaft macht, dass eine Abschiebung in einen anderen Staat, in dem ihm politische Verfolgung droht, nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen war (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG). Zwar hat der Kläger zu 1) jahrelang unbehelligt in Libyen gelebt, nachdem er sich 1994 zum Studium nach Tripolis begeben hatte. Auch nach Beendigung seines Studiums sowie nach Ende seiner jeweiligen Besuchsaufenthalte im Sudan in den Jahren 1998 und 2005 konnte er sein Leben in Libyen ohne Probleme mit den dortigen Sicherheitsbehörden fortsetzten, er heiratete im Jahr 2007; seine Tochter wurde 2008 ebenso in Tripolis geboren wie sein 2010 geborener Sohn. Diese anderweitige Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des § 27 AsylVfG war indes zum Zeitpunkt der Ausreise der Kläger im Juni 2011 nicht mehr gewährleistet. Denn das Leben der Kläger war zu jener Zeit durch militärische Kampfhandlungen zwischen Rebellengruppen und regierungstreuen Gaddafi-Truppen erheblich gefährdet. [...]

Die Bejahung einer politischen Verfolgung ist hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigter und bezüglich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Blick auf Verfolgungshandlung, geschütztes Rechtsgut und politischen Charakter der Verfolgung deckungsgleich.

Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. [...]

Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger zu 1) im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) glaubhaft gemacht, dass ihm bei einer Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu 1) zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft dargelegt, dass er im Jahr 2005 in Libyen der JEM als offizielles Parteimitglied beigetreten ist. Er hat sodann geschildert, dass er zunächst einfaches Parteimitglied gewesen sei und nach einem Jahr zum stellvertretenden Sachbearbeiter für soziale Belange in leitender Funktion aufgestiegen sei. Bei seinem Besuchsaufenthalt im Jahr 2005 im Sudan ist der Kläger zu 1) nach seinen glaubhaften Schilderungen wegen vermuteter oppositioneller Tätigkeit gegen das sudanesische Regime festgenommen worden. [...] Einer erneuten Festnahme konnte sich der Kläger zu 1) dadurch entziehen, dass er sich an bei wechselnden Familien aufgehalten habe und auf dem Landweg wieder nach Libyen gelangt sei.

Auch wenn diese Festnahme im Sudan bereits ca. neun Jahre zurückliegt und den sudanesischen Sicherheitsbehörden bei einer Rückkehr des Klägers zu 1) in den Sudan nicht mehr bekannt wäre, kann zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) nicht angenommen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Sudan vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre. Denn der Kläger würde aufgrund seiner exilpolitischen Tätigkeit für die JEM in leitender Funktion in der Bundesrepublik Deutschland in das Visier der sudanesischen Sicherheitskräfte geraten. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er der führende Vertreter der JEM in Niedersachsen ist. [...]

Auch wenn eine umfassende Beobachtung politischer Aktivitäten von Sudanesen im Ausland die finanziellen, technischen und personellen Möglichkeiten der sudanesischen Regierung überschreiten dürfte (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 10.10.2012 - W 2 K 12.30102 -), sind nach der Rechtsprechung und unter Auswertung der Erkenntnismittellage Mitglieder der Führungsebene der JEM mit ihrer exilpolitischen Tätigkeit derart exponiert, dass sie sich aufgrund ihrer Funktion und Stellung innerhalb der JEM und ihren Tätigkeiten aus den Kreis anonymer Mitglieder exilpolitischer Organisationen deutlich herausheben, was sie für die sudanesische Regierung als Oppositionspolitiker interessant erscheinen lässt. Dieser Personenkreis rückt bei einer unterstellten Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in den Blickpunkt sudanesischer Sicherheitskräfte und diesen Personen drohen asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen. Der Kläger zu 1) [gehört] zu diesem gefährdeten Personenkreis, weil davon auszugehen ist, dass die sudanesischen Behörden auf ihn wegen seiner herausgehobenen Funktion und Tätigkeit in der JEM, seiner Teilnahme an dem Sudanforum in Hermannsburg im Juni 2014, bei dem auch sudanesische Regierungsvertreter anwesend waren, aufmerksam geworden sind und er ihnen als Person bekannt ist. Auch wenn seine Aktivitäten im Internet gelegentlich als allein im Hinblick auf die von ihm erstrebte, Asylanerkennung intendiert anmuten mögen, ist der Kläger darüber sowohl namentlich als auch als Person zu identifizieren. [...]

Im vorliegenden Fall steht auch nicht die Vorschrift des § 28 AsylVfG Abs. 1 AsylVfG der Asylanerkennung entgegen. Zwar ist nach dieser Vorschrift "in der Regel" ein selbstgeschaffener Nachfluchtgrund, nämlich ein nach Einreise ins Bundesgebiet und auch dann erst nach Jahren der Inaktivität an den Tag gelegtes Verfolgungsgefahren im Heimatland auslösendes exilpolitisches Verhalten, nicht als Asylgrund anzuerkennen, falls es nicht auf einer schon im Heimatland erkennbar betätigten Überzeugung beruht, sofern eine solche nach Alter und Entwicklungsstand vom betreffenden Ausländer hätte erwartet werden können. Diese Vorschrift beruht auf der Rechtsprechung des BVerfG, (Beschluss vom 26.11.1986 - 2 BvR 1085/84 - BVerfGE 74, 51 = InfAuslR 1987, 56), wonach eine (ohne Not eines inneren identitätsprägenden Überzeugungsdrucks vorgenommene) risikolose Verfolgungsprovokation vom sicheren Hort des Aufnahmelandes Deutschland nach dem Sinn der Asylverheißung nicht als asylbegründend anzuerkennen sei. Gleichwohl hat auch das BVerfG in seiner Entscheidung seine Rechtsprechung selbst als eine allgemeine - nicht notwendig abschließende - Leitlinie bezeichnet, was der einfache Gesetzgeber in § 28 AsylVfG mit der Formulierung "in der Regel" aufgegriffen hat.

Das exilpolitische Engagement des Klägers erweist sich im vorliegenden Fall nicht als selbstgeschaffener Nachfluchtgrund, denn der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft bekundet, dass er nach seinem Eintritt in die JEM in Libyen im Jahr 2005 bei seinem Besuch im Sudan aus seiner politischen Einstellung keinen Hehl gemacht, indem er die Bevölkerung der von ihm besuchten Dörfer in seinem Sinne zu beeinflussen versucht hat.

Der Kläger zu 1) hat weiter Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger aus berechtigter Furcht vor Verfolgung wegen [seiner] politischen Überzeugung im Sudan als Flüchtling anzuerkennen (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG). Ihm droht bei einer Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, Das ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen zur Asylanerkennung, die hier hinsichtlich der Verfolgungshandlung entsprechend gelten.

Selbst wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung das Vorliegen der Voraussetzungen des § 27 AsylVfG durch den Aufenthalt in Libyen annehmen würde, stünde diese Annahme der Flüchtlingsanerkennung des Klägers nicht entgegen, denn die Vorschrift des § 27 AsylVfG über die Asylverweigerung bei anderweitiger Sicherheit wäre nur auf die Asylberechtigung nach Art. 16a GG, nicht aber auf die Flüchtlingsanerkennung anwendbar (VG Freiburg, Urteil vom 07.04.2014 - A 6 K 1287/12 - zitiert nach juris). [...]