SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Urteil vom 12.05.2014 - S 90 AY 136/13 - asyl.net: M22358
https://www.asyl.net/rsdb/M22358
Leitsatz:

Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 1a Nr. 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ist eine Kürzung der Leistungen nach § 3 AsylbLG möglich und nicht verfassungswidrig. Dies ist auch mit der Entscheidung des BVerfG vom 18. Juli 2012, Az. 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 vereinbar.

Soweit im Einzelfall keine Besonderheiten vorliegen, kann eine Kürzung der Leistungen nach § 3 AsylbLG - bemessen gemäß der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, Az. 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 - um die Beträge der Abteilungen 9 bis 11 erfolgen. Die Beträge der Abteilungen 1, 8 und 12 gehören jedoch zum unabweisbar Gebotenen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Leistungskürzung, Verfassungsmäßigkeit, verfassungswidrig, Bundesverfassungsgericht, Kürzung, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Übergangsregelung, Existenzminimum, unabweisbar gebotene Leistungen, Passpflicht, Mitwirkungspflicht, vollziehbar ausreisepflichtig, Passlosigkeit, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer,
Normen: AsylbLG § 1a Nr. 2, AsylbLG § 1a, AsylbLG § 3,
Auszüge:

[...]

Der zur Überprüfung gestellte Bescheid ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang rechtswidrig und dem Kläger wurden deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht. Der Kläger hat in dem ausgeurteilten Umfang gegen den Beklagten Anspruch auf Leistungsgewährung nach § 3 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 AsylbLG über die bereits erbrachten Leistungen nach § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AsylbLG hinaus.

Darüber hinaus hat er jedoch keinen weiteren Anspruch; denn es gilt die Anspruchseinschränkung des § 1a AsylbLG. Dazu muss der Kläger leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG sein und die weiteren Voraussetzungen des § 1a Nr. 1 oder Nr. 2 erfüllen. Das ist hier der Fall.

Der Kläger ist leistungsberechtigt nach § 1 Nr. 4 AsylbLG, weil er im Besitz einer Duldung nach § 60a AufenthaltsG ist. Zudem gehört er auch zum Personenkreis des § 1 Nr. 5 AsylbLG; denn er ist vollziehbar ausreisepflichtig. Er ist bestandskräftigem Bescheid vom 3.4.2008 ausgewiesen worden.

Die Voraussetzungen des § 1a Nr. 2 AsylbLG liegen ebenfalls vor. Danach müssen aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus vom Kläger zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. Das ist hier der Fall. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen sind Ausweisung und Abschiebung. Die Abschiebung ist aufgrund der Passlosigkeit des Klägers aktuell tatsächlich unmöglich. Die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe hat der Kläger zu vertreten. Der Kläger hat seinen zunächst noch gültigen Pass nicht vorgelegt und falsche Angaben über seine Identität gemacht und weigert sich nach Vorlage des inzwischen ungültig gewordenen Passes, an der Beschaffung eines gültigen Passes mitzuwirken und die notwendigen Erklärungen abzugeben, mit denen er einen gültigen libanesischen Pass bekommen könnte.

Als Rechtsfolge des § 1a AsylbLG erhält der Kläger Leistungen nach AsylbLG nur, soweit diese im Einzelfall unabweisbar geboten sind. Sein Anspruch auf Deckung des unabweisbar Gebotenen ist durch die vom Beklagten bereits erbrachten Leistungen für August bis Dezember 2012 noch nicht vollständig gedeckt. Der Beklagte hat dem Kläger nur Leistungen nach § 3 Abs. 2 S. 2 AsylblG in dem sich aus dem Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012, Az. 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, ergebenden Umfang gewährt. Dabei wurden zutreffend keine Geldleistungen der Abteilung 4 gewährt, da der Beklagte dem Kläger diese Bedarfe als Sachleistungen im Wohnheim gewährt. Leistungen nach § 3 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 AsylbLG hat der Beklagte dem Kläger lediglich i.H.v. 5 € monatlich aus der Abteilung 7 (Verkehr) gewährt. Jedoch ist es unabweisbar geboten, dem Kläger die vollständigen Leistungen aus den Abteilungen 7 (Verkehr – 23,55 €), 8 (Nachrichtenübermittlung – 33,04 €) und 12 (andere Waren und Dienstleistungen – 27,39 €) zu gewähren (siehe zu den Beträgen: Schwabe, Bernd-Günter, Einzelbeträge aus den Regelbedarfsstufen des SGB II und XII ab 1.1.2012, ZfF 2012, 1 ff). Das sind noch weitere 78,98 € monatlich über die bereits bewilligten Leistungen hinaus. Der Kläger bedarf nicht zuletzt zu der von ihm verlangten Kommunikation mit den Behörden der Leistungen der Abteilungen 7 und 8. Und die Leistungen der Abteilung 12 beinhalten insbesondere auch Leistungen betreffend Körperpflege und zur Beschaffung von Identitätspapieren, so dass deren Gewährung ebenfalls unabweisbar geboten ist. Jedoch decken die Leistungen der Abteilungen 9 (Freizeit, Unterhaltung, Kultur – 41,31 €), 10 (Bildung – 1,44 €) und 11 (Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen – 7,40 €) nach Ansicht der Kammer von ihrer Art her keinen unabweisbaren Bedarf. Die Kammer weicht diesbezüglich von den Entscheidungen des 15. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.12.2013, Az. L 15 AY 23/13 B und Beschluss vom 6.2.13, Az. L 15 AY 2/13 B.

Danach ist der unabweisbar gebotene Bedarf i.S.v. § 1a AsylbLG gleich der vom BVerfG in der Übergangs - regelung ausgeurteilte gem. § 3 Abs. 2 S. 2 und § 3 Abs. 1 S. 4 AsylbLG zu leistende Geldbetrag. Das vom BVerfG in dieser Übergangsregelung beschriebene Existenzminimum sei gleichzeitig die unabweisbar gebotene Leistung. Eine Unterschreitung des Existenzminimums sei ausgeschlossen.

Die Kammer folgt vielmehr insoweit der Rechtsansicht des 23. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.07.2013, Az. L 23 AY 10/13 B ER, als bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 1a Nr. 2 AsylbLG eine Kürzung der Leistungen nach § 3 AsylbLG möglich und nicht verfassungswidrig ist und dies auch mit der Entscheidung des BVerfG vom 18. Juli 2012, Az. 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 vereinbar ist. Die Kammer schließt sich den folgenden Ausführungen des 23. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 23.07.2013, Az. L 23 AY 10/13 B ER Rn. 21-25 (zitiert nach juris) an:

"Die Vorschrift des § 1a Nr. 2 AsylbLG verstößt … nicht gegen das Grundgesetz, es ist auch keine dahingehende verfassungskonforme Auslegung erforderlich, wonach Leistungsberechtigten selbst bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Absenkung der Leistungen das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum erhalten bleiben müsse und sich dieses entsprechend den vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2012 formulierten Übergangsregelungen berechnet (anderer Auffassung: LSG Berlin-Brandenburg, 15. Senat, Beschluss vom 06. Februar 2013, L 15 AY 2/13 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. April 2013 – L 20 AY 153/12 B ER; wie hier: Thüringisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. Januar 2013, L 8 AY 1801/12 B ER; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20. März 2013, L 8 AY 59/12 B ER). Das Bundesverfassungsgericht hat durch sein Urteil vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 2/11, abgedruckt in info also 2012, 225 und ZFSH/SGB 2012, 450) die Höhe der Geldleistungen bei der Bewilligung von Grundleistungen nach § 3 des AsylbLG für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet, unverzüglich eine Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu treffen. Bis zum In-Kraft-Treten dieser Neuregelung gilt eine vom Bundesverfassungsgericht geschlossene Übergangsregelung. Bis zum In-Kraft-Treten eines neuen Gesetzes müssen die zuständigen Behörden deshalb über die Bewilligung von Leistungen auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts entscheiden. An die Stelle der Geldleistungen nach den für verfassungswidrig erklärten Regelungen des § 3 Abs. 2 Satz 2 und § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG treten mit der Übergangsregelung die in §§ 5 und 6 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG) aufgeführten Geldbeträge. Dabei wird das soziokulturelle Existenzminimum während der Dauer der Übergangsregelung durch die Geldbeträge der Abteilungen 7 bis 12 der §§ 5 und 6 RBEG gesichert.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine ausdrückliche Entscheidung über § 1a AsylbLG nicht getroffen. Es hat im Rahmen seiner Entscheidung vielmehr die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG durch den Gesetzgeber betont, weshalb eine Verfassungswidrigkeit des § 1a Nr. 2 AsylbLG nur dann anzunehmen wäre, wenn der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung dieser Vorschrift das ihm zustehende Ausgestaltungsermessen überschritten hätte (vgl. Burkiczak, SGb 2012, 324, 325).

Der aufgrund des § 1a Nr. 2 AsylbLG reduzierte Leistungsanspruch wäre nur dann verfassungswidrig, wenn er nicht diejenigen Mittel zur Verfügung stellen würde, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Das menschenwürdige Dasein setzt sich nach dem Bundesverfassungsgericht aus der Gewährleistung der physischen Existenz des Menschen und einem Mindestmaß an Teilhabe am sozio-kulturellen Leben zusammen. Das Bundesverfassungsgericht billigt dem Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung dieser Gewährleistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Dieser Spielraum ist enger, soweit es sich um die physische Existenz bezieht, weiter soweit er die Teilhabe betrifft (BVerfGE 125, 175, Rdnr. 138).

Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers lässt nach Auffassung des Senats Raum für die Gewährung nur reduzierter Leistungen etwa bei Pflichtverletzungen, wie der Nichtmitwirkung bei der Ausreise. Aus dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ergibt sich kein von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängiger Anspruch (Berlit/Conradis/Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Auflage, S. 443). Der vorgenannte Gestaltungsspielraum kann sich vordringlich in der eingeschränkten Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auswirken.

Auch deutsche Sozialhilfeempfänger und legal in Deutschland lebende Ausländer sind entsprechenden Leistungskürzungen im Fürsorgerecht grundsätzlich ausgesetzt, wie sie zum Beispiel in den § 31 ff. SGB II, § 26, 41 Abs. 4 SGB XII geregelt sind. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (a.a.O.) weist zutreffend darauf hin, dass schon aus Gründen der Gleichbehandlung auch bei Leistungsbeziehern nach dem AsylbLG verhaltensbedingte Kürzungen der Leistungen möglich sein müssen. Dem steht nicht entgegen dass das Bundesverfassungsgericht ein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum aus migrationspolitischen Erwägungen ausgeschlossen hat (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 121). Der Regelung des § 1 a Nr. 2 AsylbLG liegen – anders als bei Nr. 1 – keine migrationspolitischen Erwägungen zugrunde (vgl. Deibel, Sozialrecht Aktuell, 2013, 110; Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl., Rn. 2 zu § 1a AsylbLG).

Eine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 1 a AsylbLG folgt auch nicht daraus, dass diese Vorschrift – anders als etwa § 31 a SGB II – eine zeitliche Begrenzung der Leistungsabsenkung nicht vorsieht. Einer solchen Befristung bedurfte es nicht, da der Ausländer, bei dem aus von ihm zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, durch ein ihm mögliches und zumutbares Verhalten selbst dafür sorgen kann, dass uneingeschränkte Grundleistungen nach § 3 AsylbLG bewilligt werden (Deibel, a.a.O., S. 109; LSG Niedersachsen- Bremen, a.a.O.). Dem Thüringischen Landessozialgericht (a.a.O.) ist beizupflichten, wenn es ausführt, dass die Ausgestaltung der Kürzungsvorschrift ohne zeitlichen Rahmen sich gerade aus der Verhaltensabhängigkeit der Kürzungsvorschrift rechtfertigt. Dem Antragsteller ist es durch sein eigenes Verhalten möglich, uneingeschränkte Geldleistungen zu erhalten; er sorgt durch sein eigenes andauerndes, ununterbrochenes Tun bzw. hier Unterlassen dafür, dass § 1 a Nr. 2 AsylbLG eingreift."

Da hier keine Besonderheiten ersichtlich sind, die einen Bedarf an Leistungen aus den Abteilungen 9 bis 11 für den Kläger ganz oder teilweise unabweisbar gebieten würden - wie z.B. ggf. bei Umgangsrechtswahrnehmung mit einem räumlich getrennt lebenden Kind - hat der Kläger keinen Anspruch auf weitere Leistungen nach dem AsylbLG über den zugesprochenen Umfang hinaus. [...]