VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 21.05.2014 - 6 L 380/14.A - asyl.net: M22356
https://www.asyl.net/rsdb/M22356
Leitsatz:

1. Es liegen derzeit keine von Amts wegen erkennbaren systemischen Mängel des spanischen Asylverfahrens zu Tage.

2. Die Teilnahme am sog. Refugee Strike in Berlin (Oranienplatz) und in diesem Zusammenhang erfolgte Zusagen des Senats von Berlin begründen für sich genommen keinen zwingenden humanitären Grund für einen Selbsteintritt Deutschlands in die Prüfung des hier gestellten Asylantrages.

3. Bei Abschiebungsanordnungen nach § 34a AsylVfG ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch zur Berücksichtigung von Abschiebungshindernissen i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in eigener Zuständigkeit berufen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: systemische Mängel, Asylverfahren, Spanien, Dublinverfahren, Abschiebungsanordnung, humanitäre Gründe, Refugee Strike, Oranienplatz,
Normen: AsylVfG § 34a, AufemthG § 60a, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn sie in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) erfolgen soll. Vorliegend geht es um die Abschiebung des Antragstellers nach Spanien, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union und insofern in einen kraft verfassungsrechtlicher Bestimmung sicheren Drittstaat (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG; § 26a Abs. 2 AsylVfG). Darüber hinaus ergibt sich die Zuständigkeit Spaniens aus § 27a AsylVfG i.V.m. den Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO), denn Spanien hat mit Schreiben der dortigen Behörde vom 10. April 2014 seine Zuständigkeit bezüglich des Asylverfahrens des Antragstellers anerkannt. Im Übrigen hat der Antragsteller im Verwaltungsverfahren selbst eingeräumt, von Marokko kommend nach Spanien (Melilla und sodann auf das spanische Festland) gereist zu sein. Die in Anknüpfung an das in Deutschland 2013 gestellte Schutzgesuch des Antragstellers begründete Zuständigkeit Spaniens besteht auch nach Art. 49 Satz 3 der Verordnung (EU) 604/2013 (ABl. EU L 180 S. 31; "Dublin III-VO") fort.

Dem vermag der Antragsteller nicht mit Erfolg entgegen zu halten, dass er in Spanien keinen Asylantrag gestellt und dort "Leute von der kamerunischen Regierung gesehen" habe, die ihn gesucht hätten. Der Antragsteller verkennt, dass er sich den im Dublin-System zuständigen Mitgliedstaat nicht nach eigenem Gutdünken aussuchen kann. Immerhin hat der Antragsteller weder beim Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren irgendein konkretes Vorkommnis oder einen bestimmten Umstand angeführt, weshalb es ihm nicht mehr zumutbar gewesen sei, in Spanien zu verbleiben und z.B. die dortigen Behörden um Schutz vor den Kamerunern zu ersuchen, die ihn gesucht haben sollen. Er lässt nicht erkennen, dass und inwieweit er sich zur Durchsetzung seiner vermeintlichen Rechte vergeblich Gehör bei den zuständigen spanischen Stellen verschafft, sich ggf. auch vergeblich um gerichtliche Hilfe und evt. um anwaltliche Unterstützung bemüht hat, wie es ihm in Deutschland aber offensichtlich mühelos möglich ist.

Es liegen auch keine Gründe für einen nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (jetzt Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO) zulässigen Selbsteintritt Deutschlands in das Asylverfahren des Antragstellers zu Tage. Der Antragsteller hat insbesondere keinen subjektiven, öffentlich-rechtlichen Anspruch darauf, dass Deutschland nach freiem Ermessen von der dort vorgesehen Möglichkeit eines Selbsteintritts in sein Asylverfahren Gebrauch macht (vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 -, juris); eine Überstellung in den nach den Kriterien des im vorliegenden Fall weiter maßgeblichen Kapitels III der Dublin II-Verordnung ermittelten zuständigen Mitgliedstaat – hier nach Spanien – scheidet lediglich dann aus, wenn diese Überstellung den Betreffenden der tatsächlichen Gefahr aussetzte, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh unterworfen zu sein (so bereits EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 und C-493/10 -, juris). Dabei stehen einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems nicht schon (irgend)eine Verletzung von EU-Recht, vereinzelte Verstöße gegen sonstige Grundrechte sowie anderweitige Missstände unterhalb der Schwelle "systemischer Mängel" entgegen (vgl. Thym, Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen nach Italien, ZAR 2013, S. 331, unter Bezugnahme u.a. auf EGMR, Beschluss vom 2. April 2014 - Nr. 27725/10 -, ZAR 2013, 336), sondern einzig außergewöhnlich zwingende humanitäre Gründe, wie es in Art. 15 Dublin II-VO bzw. jetzt in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO bereits angelegt ist. Insoweit relevante systemischen Mängel des spanischen Asylverfahrens sind weder vorgebracht worden noch sonst ersichtlich. Insbesondere vermögen die ausführlichen Ausführungen des Antragstellers zu den angeblich defizitären Aufnahmebedingungen auf den Kanarischen Inseln sowie die von ihm angesprochene Abschiebung von mehr als 70 aus Marokko auf die Insel Tienda gelangten Personen im Jahre 2012 nichts herzugeben, zumal der Antragsteller sich dort niemals aufgehalten hat und es ohnehin auf die Verhältnisse im gesamten Gebiet des Mitgliedstaates Spanien ankommt. Falls der Antragsteller in Spanien tatsächlich keinen Asylantrag gestellt haben sollte, was ihm dort – genauso wie in Deutschland – wohl erst ein Bleiberecht während der Prüfung des Schutzgesuchs eröffnen würde, kann er dies jedenfalls nach seiner Rückführung dorthin nachholen; es liegt zumindest kein stichhaltiger Anhalt dafür vor, dass ihm eine solche Möglichkeit vorenthalten würde. Daher verbleibt es bei der dem Konzept gegenseitigen Vertrauens des Dublin-Verordnungsgebers zugrunde liegenden Annahme, dass – auch – Spanien seine unionsrechtlichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers erfüllt.

Außergewöhnlich zwingende humanitäre Gründe für seine Person hat der Antragsteller zur Rechtfertigung einer Selbsteintrittsverpflichtung Deutschlands hinsichtlich seiner konkreten Situation nicht vorgebracht, geschweige denn glaubhaft gemacht, und sind bei ihm auch sonst in Bezug auf Spanien nicht erkennbar. Er lässt nicht nachvollziehen, dass und inwieweit er eine besondere Schutzbedürftigkeit aufweist, die für ihn ein höheres Maß an Fürsorge begründet als sie Asylantragstellern in Spanien bei zumutbarer Eigenanstrengung gemeinhin zuteil wird.

Dies gilt insbesondere vor dem – nicht weiter belegten – Hintergrund, dass der Antragsteller Teilnehmer des sog. "Refugee Strike" in Berlin (Oranienplatz) gewesen und ihm – von der Berliner Integrationssenatorin – zugesagt worden sei, "die Umverteilung nach Berlin zu akzeptieren und Duldungen zu erteilen". Abgesehen davon, dass die Übereinstimmung des angeblich Zugesagten mit dem hier anwendbaren Unions- und mit nationalem Asylrecht nur unter der Voraussetzung einer – angesichts des Gleichbehandlungsgebots (Art. 3 Abs. 1 GG) wohl nur aus politischen Gründen zu rechtfertigenden – Selbsteintrittsentscheidung denkbar erscheint, ist jedenfalls das – nach § 5 Abs. 1 AsylVfG einzig zuständige – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – auch in Ansehung des Antragsvorbringens – von seiner Dublin-Entscheidung vom 15. April 2014 bisher nicht abgerückt. Es ist im gewaltengeteilten Rechtsstaatssystem Deutschlands aber nicht Aufgabe des Gerichts, eine allenfalls vage in Aussicht gestellte (politische) Absichtserklärung über die unionsrechtlich verbindliche Zuständigkeitsbestimmung zu stellen, wenn sich diese – wie hier – als rechtmäßig erweist.

Im Übrigen berührt die – allein mitgliedstaatliche – Frage nach der Residenzpflicht ("Umverteilung nach Berlin"; vgl. §§ 44 - 54 AsylVfG) die unionsrechtliche Frage nach der Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrages nicht. Soweit dem Antragsteller – aus welchen Gründen und durch wen auch immer – eine "Duldung" erteilt werden sollte, stünde dieser Umstand der Rücküberstellung des Antragstellers frühestens in dem Zeitpunkt entgegen, in dem sie wirksam wird, was bisher nicht der Fall ist.

Der Antragsteller hat zuletzt kein die Rücküberstellung hinderndes Abschiebungshindernis i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht, das von der Antragsgegnerin – und nicht erst von der mit einer Vollziehung zu beauftragenden Ausländerbehörde – angesichts des insoweit eindeutigen Wortlauts ("sobald feststeht, dass sie [die Abschiebung] durchgeführt werden kann") bereits bei der auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu stützenden Entscheidung und bis zur Durchführung der Rücküberstellung beachtet werden muss.

Weder die mit der Klage- und Antragsschrift angeführten Beschwerden (Kopfschmerzen, Sehstörungen; Hepatitis A, Hepatitis B; Schmerzen im Brust-/Herzbereich) noch die unter dem 19. Mai 2014 geltend gemachte seelische Erkrankung (Depression; PTBS) belegen eine insoweit maßgebliche Reise-/Transportunfähigkeit.

Aus dem zum Beleg vorgelegten Ärztlichen Attest einer Allgemeinmedizinerin vom 27. Januar 2014 ergibt sich lediglich, dass dem Antragsteller hinsichtlich seiner Beschwerden weitere Untersuchungen empfohlen worden sind; es heißt dort ausdrücklich, dass keine Reiseunfähigkeit bestehe.

Nach Maßgabe des Ärztlichen Attestes einer Allgemeinmedizinerin vom 30. April 2014 liegen ebenfalls keine Gründe für eine Reiseunfähigkeit vor; es wird dort außer retrosternalem Druckschmerz und einer T-Elevation hinsichtlich der körperlichen Untersuchung, einer Röntgenuntersuchung sowie eines EKG´s kein Befund festgestellt. Auch aus dem Bericht über die transthorakale Echokardiographie vom 6. Mai 2014 folgt kein auf eine Erkrankung des Antragstellers weisender Befund; es heißt dort vielmehr, dass die vom Antragsteller angeführten Beschwerden im Rahmen akuter Stresssituation erklärbar sind und eine Untersuchung wegen Verdachts einer PTBS dringend empfohlen werde.

Schließlich belegt auch die zuletzt vorgelegte "Nervenärztliche psychotherapeutische kurzgutachterliche Stellungnahme" eines Arztes für Neurologie und Psychiatrie vom 17. Mai 2014 keine im vorliegenden Verfahren durchgreifende Reise-/Transportunfähigkeit des Antragstellers. Die dort wiedergegebene Legende lässt sich mit den aus allen anderen erkennbaren Umständen zu gewinnenden Erkenntnissen über die Situation des Antragstellers schlechterdings nicht vereinbaren, so dass der unter dem Eindruck einer drohenden Rücküberstellung gezielt für das vorliegende Verfahren erstellten Stellungnahme mit im Eilrechtsschutzverfahren hinreichender Wahrscheinlichkeit in der Sache eher Gefälligkeitscharakter beizumessen ist.

Es ist nämlich fragwürdig, dass der aus ärztlicher Sicht noch im Januar 2014 – ausdrücklich – als reisefähig erachtete Antragsteller ausgerechnet jetzt und nach einem bereits mindestens halbjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet in einer Weise seelisch erkrankt sein soll, die einer Rücküberstellung nach Spanien entgegen steht. Der Stellungnahme vom 17. Mai 2014 fehlt es augenscheinlich – die Exploration soll zudem in den Kanzleiräumen der Antragstellerbevollmächtigten durchgeführt worden sein – an der fachlich erforderlichen und unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles deutlich gebotenen kritischen Hinterfragung des Antragstellervorbringens auf etwaige verfahrensangepasste Legendenbildung. Hatte der Antragsteller im Zusammenhang mit dem "Refugee Strike", an dem er immerhin teilzunehmen vermochte, bereits ein Bleiberecht im Bundesgebiet zu erwirken gesucht, auf das er offenbar selbst sonst keinen Anspruch zu haben glaubte, hatte er trotz der jetzt behaupteten und auch auf Grenzerfahrungen in seiner Heimat zurückzuführenden schwersten seelischen Belastungen die Grenzbefestigungsanlagen zwischen Marokko und Melilla überwinden können, und hatte er sich ausweislich der spanischen Wiederaufnahmeerklärung dort unter einem anderen Namen ("Louis Yon") registrieren lassen, sich also bei lebensnaher Betrachtung schon dort verfahrenstaktisch verhalten, sprechen die Umstände derzeit deutlich dafür, dass die dem Arzt gegenüber behauptete Vorstellung, eine Rückführung nach Spanien sei derart unerträglich, dass er – der Antragsteller – lieber streben wolle, taktisch motiviert ist. Diese Schlussfolgerung rechtfertigt sich überdies auf Grund der vom Arzt angenommenen "etwas überdurchschnittlich(en Intelligenz)" des englischsprachigen Antragstellers, der offensichtlich gezielt über Spanien bis ins Bundesgebiet gereist ist, ohne irgendwelche nachvollziehbare Gründe für die Wahl des Zufluchtsorts anzuführen. Im Übrigen schließt die Stellungnahme vom 17. Mai 2014 mit der Empfehlung einer Vorstellung des Antragstellers bei einem Kassenarzt zwecks Veranlassung einer medikamentösen Behandlung und Überprüfung eines stationären Behandlungsbedarfs, was ebenfalls keine (akute) Reise-/Transportunfähigkeit belegt. [...]