OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 05.06.2014 - 3 S 71.13 - asyl.net: M22353
https://www.asyl.net/rsdb/M22353
Leitsatz:

1. Die zwangsweise Durchsetzung einer Anordnung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 82 Abs. 4 Satz 2 AufenthG richtet sich nach den landesrechtlichen vollstreckungsrechtlichen Regelungen.

2. Ob zur Durchsetzung der in § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG normierten Verpflichtung die Androhung eines Zwangsgeldes untunlich ist oder nicht zum Ziel führt und daher die Androhung unmittelbaren Zwanges gerechtfertigt ist (§ 12 VwVG), richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Hierbei darf auch der Zeitfaktor berücksichtigt werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: persönliches Erscheinen, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Zwangsgeld, Zwangsmittel, zwangsweise Vorführung bei Auslandsvertretung, Androhung, Androhung eines Zwangsgeldes, Androhung unmittelbaren Zwangs, Zwangsandrohung, Auslandsvertretung, Botschaft, Heimreisepapiere, Unmittelbarer Zwang,
Normen: AufenthG § 82 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 82, VwVG § 12,
Auszüge:

[...]

1. Der Antragsgegner macht mit seiner Beschwerde zutreffend geltend, dass die mit Bescheid vom 9. September 2013 verfügte Androhung unmittelbaren Zwangs rechtmäßig ist. Der Antragsgegner hat hier nicht das falsche Zwangsmittel angedroht.

Allerdings stellt § 82 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, wonach die Anordnung des persönlichen Erscheinens bei den in § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG genannten Stellen zwangsweise durchgesetzt werden kann, wenn der Ausländer ihr nicht nachkommt, entgegen der Beschwerde keine vollstreckungsrechtliche Spezialvorschrift dar, die einen Rückgriff auf allgemeine vollstreckungsrechtliche Vorschriften ausschließt.

Die Anordnung des persönlichen Erscheinens durch die Ausländerbehörde ist als Grundverwaltungsakt anzusehen, der dem betroffenen Ausländer eine zunächst durch ihn selbst zu erfüllende Verpflichtung auferlegt. Soweit § 82 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vorsieht, dass diese Verpflichtung bei Nichtbefolgung zwangsweise durchgesetzt werden kann, lässt sich schon dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen, dass dies allein oder zumindest vorrangig im Wege unmittelbaren Zwanges zu geschehen hat (so auch OVG Münster, Beschluss vom 28. November 2006 - 19 B 1789/06 -, juris Rn. 9; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 82 Rn. 127; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 82 AufenthG Rn. 61; Albrecht, in: Storr/Wenger u.a., Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 82 AufenthG Rn. 20; a.A. ohne Begründung für die ebenfalls in § 82 Abs. 4 Satz 2 AufenthG normierte ärztliche Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit Sadler, Verwaltungsvollstreckungsgesetz, Verwaltungszustellungsgesetz, Kommentar, 8. Auflage, § 12 VwVG Rn. 40, 7. Spiegelstrich). Insoweit unterscheidet sich § 82 Abs. 4 Satz 2 AufenthG z.B. von § 44 Abs. 2 Satz 1 WPflG, dessen Wortlaut bei einem Fernbleiben des Wehrpflichtigen ausdrücklich die Anordnung seiner Vorführung ermöglicht. Im Hinblick darauf, dass einer den vorrangigen Rückgriff auf unmittelbaren Zwang erlaubenden spezialgesetzlichen Rechtsgrundlage besondere Grundrechtsrelevanz zukommt, bedarf es hierfür einer klaren und eindeutigen gesetzlichen Regelung.

Auch die Gesetzgebungsgeschichte führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar wurde im Zusammenhang mit der Änderung der Vorgängerregelung (§ 70 Abs. 4 AuslG) durch den Innenausschuss des Deutschen Bundestages eine Fassung empfohlen, die die Möglichkeit eröffnete, die Pflicht zur Vorsprache im Wege des unmittelbaren Zwanges durchzusetzen (vgl. BT-Drs. 13/5986 S. 13). Dieser Passus ist jedoch gerade nicht in die endgültige Fassung des § 70 Abs. 4 AuslG übernommen worden (vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Änderung ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 29. Oktober 1997, BGBl I S. 2584). Im Übrigen war die von dem Innenausschuss empfohlene Fassung ohnehin nur als Ermessensvorschrift ausgestaltet.

Soweit der Antragsgegner schließlich meint, die Begründung zum Entwurf des Zuwanderungsgesetzes lasse erkennen, dass der Gesetzgeber in § 82 Abs. 4 AufenthG eine selbständige vollstreckungsrechtliche Regelung zur Durchführung unmittelbaren Zwanges habe schaffen wollen, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Der von dem Antragsgegner angeführten Passage (BT-Drs 15/420 S. 97 oben) lässt sich lediglich entnehmen, dass der Verweis auf die Vorschriften des Bundesgrenzschutzgesetzes (heute: Bundespolizeigesetz) allein dazu dienen sollte, eine Rechtsgrundlage für die zwangsweise Vorführung zu schaffen. Insoweit hat der Gesetzgeber lediglich eine Konkretisierung für denjenigen Fall vorgenommen, dass die Ausländerbehörde unter den zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln (Zwangsgeld oder unmittelbarer Zwang) ausgewählt und sich entschieden hat, unmittelbaren Zwang anzuwenden (vgl. Franßen-de la Cerda, in: Jakober/ Welte u.a., Aktuelles Ausländerrecht, § 82 AufenthG Rn. 290).

Da § 82 Abs. 4 AufenthG keine allgemeinen vollstreckungsrechtlichen Bestimmungen normiert, die sich auf eine Durchsetzung der Anordnung mit Zwangsmitteln beziehen, ist auf die vollstreckungsrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Landesrechts zurückzugreifen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. September 2012 - 3 M 154.11 -, juris Rn. 3).

Die Androhung unmittelbaren Zwanges setzt gemäß § 5a BlnVwVfG, § 12 VwVG im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit regelmäßig voraus, dass die insoweit milderen Zwangsmittel der Ersatzvornahme (§ 10 VwVG) bzw. des Zwangsgeldes (§ 11 VwVG) nicht zum Ziel führen oder untunlich sind.

Untunlichkeit des Zwangsgeldes bzw. der - hier mangels vertretbarer Handlung nicht in Betracht kommenden - Ersatzvornahme im Verhältnis zu unmittelbarem Zwang hat die obergerichtliche Rechtsprechung bejaht, wenn deren Einsatz zwar Erfolg versprechend sei, der unmittelbare Zwang sich aber im konkreten Fall als wirksamer darstelle (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 14. April 2011 - 8 B 10278/11 -, juris Rn. 20; ähnlich Engelhardt/App, Verwaltungsvollstreckungsgesetz - Verwaltungszustellungsgesetz, Kommentar, 9. Auflage, § 12 VwVG Rn. 9). Im Verhältnis zum Zwangsgeld ist eine Ersatzvornahme als untunlich im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 2 VwVG bzw. entsprechender landesrechtlicher Vorschriften angesehen worden, wenn sie schlechterdings oder auch nur in hohem Maße unangemessen oder unzweckmäßig sei (so OVG Greifswald, Beschluss vom 11. Juni 2012 - 3 O 24/12 -, juris Rn.18; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. März 2007 - OVG 2 B 10.06 -, juris; OVG Weimar, Urteil vom 24. September 2003 - 1 KO 404/02 -, juris Rn.49; VGH Kassel, Beschluss vom 19. April 1989 - 3 TM 668/89 -, juris Rn. 8).

Ein Zwangsmittel führt nicht zum Ziel, wenn es in der Vergangenheit bereits versagt hat oder aber dessen Erfolglosigkeit von vornherein offenkundig ist (vgl. Sadler, Verwaltungsvollstreckungsgesetz, Verwaltungszustellungsgesetz, Kommentar, 8. Auflage, § 12 VwVG Rn. 26 f.). Insoweit dürfte es regelmäßig nicht ausreichen, dass - z.B. aufgrund früherer Erfahrungen - die bloße Vermutung nahe liegt, der Ausländer werde sich von einem Zwangsmittel dieser Art nicht anhalten lassen, seinen Verpflichtungen nachzukommen (so aber Franßen-de la Cerda, in: Jakober/ Welte u.a., Aktuelles Ausländerrecht, § 82 AufenthG Rn. 291).

Schließlich können auch beide Voraussetzungen für eine Androhung unmittelbaren Zwanges vorliegen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn unmittelbarer Zwang zur Abwehr drohender Gefahren für bedeutende Rechtsgüter nötig ist (vgl. Sadler, a.a.O., Rn. 38).

Gemessen daran durfte der Antragsgegner darauf abstellen, dass die Androhung eines Zwangsgeldes hier offenkundig nicht zum Erfolg führen wird. Insoweit kann bei der Auswahl des Zwangsmittels - worauf der Antragsgegner zutreffend hingewiesen hat - im Einzelfall auch der Zeitfaktor berücksichtigt werden (ebenso Funke-Kaiser, GK-AufenthG § 82 Rn. 127). Der seit längerem vollziehbar zur Ausreise verpflichtete Antragsteller hat in der Vergangenheit mehrfach hinlänglich und unmissverständlich deutlich gemacht, dass er nicht bereit ist, aufenthaltsrechtliche Vorschriften zu befolgen und seiner Verpflichtung zur Beschaffung von Heimreisepapieren nachzukommen. So ist er ohne Erlaubnis einer Beschäftigung nachgegangen, hat trotz mehrfacher Aufforderungen keinen gültigen Pass vorgelegt, hält sich weiterhin unerlaubt im Bundesgebiet auf, hat widersprüchliche Angaben zum Verbleib seines Passes gemacht (dieser sei zu Hause, bei einem Freund, er habe ihn verloren), Zusagen nicht eingehalten (er werde einen neuen Pass beantragen und sich bei der Ausländerbehörde melden) sowie Aufforderungen, bei der Ausländerbehörde vorzusprechen, beharrlich und über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg ignoriert. Hinzu kommt, dass das Verhalten des Antragstellers jedenfalls den Straftatbestand des § 95 Abs.1 Nr.1 AufenthG erfüllt, auch wenn ihm wegen seiner Passlosigkeit und einer in zeitlicher Hinsicht nicht absehbaren Abschiebung eine Duldung erteilt werden müsste.

Unter diesen Umständen, die der Antragsgegner in dem angegriffenen Bescheid sowie im erstinstanzlichen vorläufigen Rechtsschutzverfahren bzw. im Beschwerdeverfahren angeführt und gewürdigt hat, wodurch die in dem Bescheid getroffene Ermessensentscheidung in zulässiger Weise ergänzt worden ist (vgl. § 114 Satz 2 VwGO), war es hier verhältnismäßig, zur Durchsetzung der gegenüber dem Antragsteller nach § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verfügten Anordnung unmittelbaren Zwang ohne vorherigen Rückgriff auf ein Zwangsgeld anzudrohen. [...]