VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 10.10.2014 - 3 A 929/12 As - asyl.net: M22344
https://www.asyl.net/rsdb/M22344
Leitsatz:

1. § 73c AsylVfG ist mit § 73 Abs. 3 AsylVfG a. F. im Wesentlichen inhaltsgleich.

2. Nach § 73c Absatz 1 AsylVfG ist die Feststellung der Voraussetzungen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zwingend zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist.

3. Nach § 73c Abs. 2 AsylVfG ist die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, wenn deren Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

4. Das Gericht hat auch bei Berücksichtigung neuerer Erkenntnisquellen weiterhin durchgreifende Zweifel an der Erreichbarkeit einer medizinischen Behandlung in Armenien für mittellose oder gering verdienende Personen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, medizinische Versorgung, Armenien, Mittellosigkeit,
Normen: AsylVfG § 73c, AsylVfG § 73 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, AsylVfG § 73c Abs. 2,
Auszüge:

[...]

1. Maßgebende Rechtsgrundlage ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes [AsylVfG]) nunmehr § 73c AsylVfG. Denn § 73 Abs. 3 AsylVfG a. F., wonach fehlerhafte Entscheidungen zu § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG zwingend zurückzunehmen waren, ist durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 28. August 2013 (BGBl. I, S. 3474) dahingehend geändert worden, dass im Zusammenhang mit der Rücknahme einer Anerkennung als Asylberechtigter oder einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch über die Voraussetzungen subsidiären Schutzes und der nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu entscheiden ist. § 73c AsylVfG ist mit § 73 Abs. 3 AsylVfG a. F. im Wesentlichen inhaltsgleich. Nach dessen Absatz 1 ist die Feststellung der Voraussetzungen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zwingend zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist; nach § 73c Abs. 2 ist die Feststellung zu widerrufen, wenn deren Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

2. Die Voraussetzungen der Rücknahme nach § 73c Abs. 1 AsylVfG liegen im vorliegenden Fall nicht vor. Danach ist allein maßgebend, dass die Voraussetzungen des Abschiebungsverbots objektiv nicht vorliegen oder die Feststellungen von vorneherein fehlerhaft gewesen sind (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 73c Rn. 3; Bergmann, in: Renner/Bergmann/ Dienelt, 10. Aufl. 2013, § 73 Rn. 25; abstellend auf ursprüngliche Rechtswidrigkeit Wolff, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 2008, § 73 Rn. 48 je mwN.).

Die Feststellungen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind im vorliegenden Fall nicht fehlerhaft. Der aufgehobene Bescheid ist im Ergebnis nicht deshalb rechtswidrig (gewesen), weil er durch falsche Angaben der Klägerin bezüglich ihrer Staatsangehörigkeit erwirkt worden ist. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind wegen der Erkrankung der Klägerin unabhängig vom Umstand, dass sie armenische Staatsangehörige ist, nach wie vor gegeben.

a) Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich das Gericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Die Gefahr im Sinne dieser Vorschrift kann hinsichtlich ihres Entstehungsgrundes nicht einschränkend ausgelegt werden. Eine Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben liegt auch vor, wenn sie durch die bereits vorhandene Krankheit konstitutionell mit bedingt ist. Erforderlich aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen der genannten Bestimmung ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben fuhrt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 -, juris Rn. 15 mwN.).

Eine solche Gefahr kann sich zudem daraus ergeben, dass der Ausländer die erforderliche medizinische Behandlung aus individuellen (finanziellen oder sonstigen) Gründen tatsächlich nicht erhalten kann (vgl. BVerwG, v. 29. April 2002 - 1 B 59.02, 1 PKH 10.02 - juris Rn. 8; Urt. v. 19. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, juris LS und Rn. 9).

b) Ausweislich des vom Gericht eingeholten (ergänzenden) amtsärztlichen Gutachtens vom 1. Februar 2013 (Antwort zu Frage 6 [Seite 6]) hätte im vorliegenden Fall ein Abbruch der Behandlung der Klägerin mit großer Wahrscheinlichkeit gravierende gesundheitliche Folgen. Dies würde sich in der Verstärkung des Krankheitsbildes äußern bis hin zur Suzidialität. Sollte nur die medikamentöse Behandlung weiter erfolgen, würde dies nichts ändern, da es dem ärztlichen Urteil unterliege, welche Medikamente der Klägerin zu verordnen wären. Letztlich seien fachärztliche Behandlung und Medikamentation nicht zu trennen.

c) Auch wenn die Klägerin armenische Staatsangehörige ist, kann sie entgegen der Auffassung der Beklagten die erforderliche Behandlung in Armenien nach Überzeugung des Gerichts nicht erreichen. Darauf hat bereits der Prozessbevollmächtigte auch vorprozessual ausführlich hingewiesen.

Das Gericht hat in ständiger Rechtsprechung dargelegt, dass es durchgreifende Zweifel an der Erreichbarkeit einer medizinischen Behandlung in Armenien für mittellose oder gering verdienende Personen hat. Bereits in seinem Urteil vom 6. Mai 2011 – 8 A 1099/08 – (juris über BAMF bzw. BAMF-MILO, Umdruck, S. 5 ff.), hat es dazu ausgeführt:

"2. Nach diesen Maßstäben hat der Kläger wegen seiner Erkrankungen Anspruch auf positive Feststellungen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zwar spricht die vom Bundesamt im Bescheid zitierte Stellungnahme des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft in Eriwan vom 9. Januar 2002 dafür, dass die Erkrankung des Klägers in Armenien wohl adäquat behandelbar sein wird. Das Gericht ist aber bei Auswertung der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen zum Ergebnis gekommen, dass die notwendige medizinische Behandlung aus finanziellen Gründen für ihn nicht erreichbar ist (vgl. zum Folgenden auch VG Ansbach, Urt. v. 14. Juli 2010 – AN 15 K 10.30095 – (juris), Ausdruck, S. 16 mwN.).

a) Nach einer Analyse des Bundesasylamtes der Republik Österreich vom 13. Oktober 2009 zur "Medizinische Infrastruktur in Armenien" sei zwar eine medizinische Grund- und Notversorgung - wenn auch nicht auf westeuropäischem Niveau - gewährleistet. Es gebe aber eklatante Probleme beim "Unterschied zwischen gebührenfreier Theorie und kostenpflichtiger Praxis". Zwar soll die medizinische Versorgung für einen Großteil der Bevölkerung kostenlos sein, die tatsächliche Behandlung hänge aber stark vom finanziellen Hintergrund des Patienten ab. Obwohl die Finanzmittel zur Gesundheitsversorgung kontinuierlich aufgestockt würden, sei es den Kliniken nicht möglich, ohne Zuzahlung der Patienten auszukommen (aaO, S. 4, 11). Patienten müssen ihre Verpflegung selbst in die Klinik mitnehmen. Auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) führt in ihrem Länderinformationsblatt Armenien (Stand: 2010) aus, dass die primäre medizinische Versorgung für einen Großteil der Bevölkerung sehr schwierig geworden sei. Dieser Teil der Bevölkerung sei nicht in der Lage, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen. Trotz Reformen werde erwartet, dass die Krankenhäuser Pauschalsätze erheben würden. Alle Medikamente seien von den Patienten selber zu bezahlen. Die von der Gutachterin Dr. Tessa Savvidis für die Schweizer Flüchtlingshilfe befragten Ärzte bestritten, dass im Bedarfsfall die Kostenübernahme durch den Staat annähernd zuverlässig sei (SFH, Armenien: Behandlung eines behinderten Kindes v. 19. November 2008). Die Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes stehen diesen Befunden nicht entgegen. Zwar gebe es ein Gesetz über die kostenlose medizinische Behandlung. Jedoch seien weder die Kliniken noch Berechtigte über die Vorschriften ausreichend unterrichtet. Zudem seien die Kliniken finanziell unzureichend ausgestattet. Auch in Fällen, wo sie zur kostenlosen Behandlung verpflichtet seien, seien sie gezwungen, Geld zu nehmen. Medikamente seien im Allgemeinen billiger als in Deutschland (AA, Lagebericht v. 8. November 2010, S. 15). Zwar führt die deutsche Botschaft in Eriwan in seiner amtlichen Auskunft an das Bundesamt im vorliegenden Fall aus, der armenische Gesundheitsminister und die Stadt Eriwan seien im Einzelfall befugt, eine kostenlose Krankenhausbehandlung durch Einweisung in bestimmte Krankenhäuser anzuordnen. Dies setze aber einen Antrag des Patienten voraus. Darüber hinaus sei in besonders dringenden Fällen ohne Ansehung der finanziellen Lage des Patienten ein Krankenhausaufenthalt mit Basisleistungen garantiert. Allerdings besteht danach kein Anspruch auf die Behandlung. Zudem ist der Auskunft auch nicht zu entnehmen, wie schnell über einen solchen Antrag entschieden würde und ob die garantierten Basisleistungen die nachhaltige Behandlung der Erkrankungen des Klägers umfasst. Deshalb kann im vorliegenden Fall die Gefahr der durchgreifenden Verschlechterung des Krankheitsbildes des Klägers nicht ausgeschlossen werden. Es wäre unzumutbar, ihn lediglich darauf zu verweisen, dass der armenische Staat ihn vielleicht unterstützen könnte. Dies gilt umso mehr, als der armenische Staat nach den zitierten Auskünften bereits im "Normalfall" nicht in der Lage ist, eine ausreichende gesundheitliche Versorgung des bedürftigen Teils der Bevölkerung sicherzustellen. Auch die dem Gericht von Frau Dr. Savvidis informell zur Verfügung gestellte Stellungnahme der WHO vom Juni 2010 ("Is there a role for user charges? Thoughts on health system reform in Armenia" von Matthew Jowett und Elizabeth Danielyan; auch abrufbar unter www.who.com) stützt diese Annahmen. […]."

d) Daran hält das Gericht bei Berücksichtigung aktueller Quellen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Armenien: Medizinische Versorgung [a-8562-1] vom 18. Dezember 2013 -; IOM, Länderinformationsblatt Armenien (August 2013), S. 21 ff.) fest (vgl. zuletzt Beschluss des erkennenden Gerichts vom 1. Oktober 2014 – 3 B 780/14 As, Umdruck S. 7 f.; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 13. Juli 2011 – 7 K 1529/10.F.A –, juris, Rn. 18; VG Köln, Urt. vom 13. Juni 2014 - 25 K 7142/12.A -, abrufbar bei www.asyl.net, Umdruck, S. 7 ff.).

Nach diesen Erkenntnisquellen mag zwar die Erkrankung der Klägerin in Armenien im Prinzip behandelbar sein. Sie ist aber für sie aus Kostengründen unerreichbar. Nach den im Verfahren eingeholten Angaben der Deutschen Botschaft in Eriwan vom 15. Oktober 2013 müsste die Klägerin die Medikamente selbst bezahlen, da diese nicht auf der National Essential Drug List stehen. Die erforderlichen Medikamente kosteten zwischen 3,67 € und 92,10 €. Eine stationäre Behandlung würde täglich umgerechnet 10,-- € kosten. Nach amtsärztlichem Urteil ist die Klägerin jedenfalls nach hiesigen Maßstäben zudem arbeitsunfähig (Gutachten, Antwort zu Frage 8 [S. 7]). Sie hat substantiiert vorgetragen, dass sie von ihren Eltern oder einer Tante nicht unterstützt werden könnte. Auch im aufgehobenen Bescheid vom 21. Juni 2010 ist auf Seite 7 das Bundesamt davon ausgegangen, dass die Klägerin "im Hinblick auf ihren bisherigen Werdegang, ihrer langjährigen Untätigkeit und insbesondere ihrer Erkrankung" in Armenien erwerbslos wäre. Dies gilt heute umso mehr, als nach dem letzten Lagebericht die wirtschaftlichen Verhältnisse in Armenien weiterhin schwierig sind. 32 % der Armenier leben unter der Armutsgrenze (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 7. Februar 2014, S. 16), das Durchschnittseinkommen lag in Armenien 2013 bei umgerechnet ca. 290,-- €. Die offizielle Arbeitslosenstatistik geht von einer Arbeitslosenrate von 16 bis 19 % aus, nach "halboffiziellen" Angaben soll sie bei 35 % liegen (vgl. Germany Trade and Invest – GTAI - (Strohbach), Wirtschaftstrends Armenien (2013/14), S. 11).

Nach dem letzten Länderinformationsblatt Armenien der IOM vom 31. August 2013 (S. 31) kamen Ende 2012 auf eine offene Stelle 38 Bewerber. Dies ist trotz Verbesserungen und Steigerungen des Bruttoinlandsprodukts um jährlich ca. 3,5 % (2012/2013; vgl. GTAI, aaO, S. 4) in den vergangenen Jahren nicht ausreichend. Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass in Deutschland laut Angaben des Statistischen Bundesamtes auf eine offene Stelle derzeit (August 2014) ca. vier Bewerber (2,15 Millionen Erwerbslose und 518.000 offene Stellen) kommen.

3. Die Voraussetzungen des Widerrufs mit Wirkung für die Zukunft des – ursprünglich rechtmäßigen - Bescheides vom 21. Juni 2010 nach Maßgabe des § 73c Abs. 2 AsylVfG liegen gleichfalls nicht vor, da die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach den Ausführungen zu 2. auch künftig vorliegen. Der Amtsarzt hat bereits in seinem Gutachten vom 22. Dezember 2011 ausdrücklich darauf hingewiesen, es sei "zu befürchten", dass die Klägerin "sehr langfristig psychiatrisch behandlungsbedürftig" bleiben werde. Im ergänzenden Gutachten vom 1. Februar 2013 für das Gericht hat er ausgeführt (Gutachten, S. 5 [zu Frage 3]), es sei nicht absehbar, dass die Klägerin keine Medikamente mehr benötige. [...]