VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 19.08.2014 - 33 K 47.13 A - asyl.net: M22341
https://www.asyl.net/rsdb/M22341
Leitsatz:

Es ist gegenwärtig unwahrscheinlich, dass Tschetschenen und Angehörige anderer Minderheiten in der Russischen Föderation als Wehrpflichtige zum Militärdienst herangezogen werden.

Schlagwörter: Russische Föderation, Russland, Tschetschenen, Wehrpflicht, Militärdienst, Zweitantrag, Dublinverfahren,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 4 Abs. 1, AsylVfG § 3, AufenthG § 71a,
Auszüge:

[...]

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. Juli 2009 (dort S. 21, letzter Absatz) seien Tschetschenen, die auf freiwilliger Basis seit dem Jahre 2001 in die russische Armee aufgenommen würden, zwar seit 2007 auch als Wehrpflichtige einberufen worden (im Jahre 2007 insgesamt 691 tschetschenische Wehrpflichtige zu Einheiten des Verteidigungsministeriums und des Innenministeriums in Tschetschenien). Im Jahr 2008 sei hiervon jedoch wieder abgerückt worden. Die gleiche Aussage findet sich im anschließenden Lagebericht vom 4. April 2010 (dort Seite 21, 3. Absatz); im Lagebericht vom 7. März 2011 wird ausgeführt, dass seit Beginn der neunziger Jahre keine Wehrpflichtigen mehr in die russische Armee aufgenommen würden. Einberufungen fänden zwar statt (zuletzt Kadyrow-Erlass vom April 2010), beschränkten sich aber auf die Registrierung der tschetschenischen Wehrpflichtigen und Tauglichkeitsuntersuchungen. Aus dem Kontingent der Wehrpflichtigen würden offenbar regelmäßig Freiwillige ausgewählt und auf Vertragsbasis in Verbände der Armee in Tschetschenien aufgenommen. Grundsätzlich gelte aber, dass russische Wehrpflichtige in Tschetschenien nicht eingesetzt werden sollten, sondern nur Freiwillige (Lagebericht, a.a.O., S. 25, 3. Abs.). Die in das Verfahren eingeführte Studie "Russlands Militärreform: Herausforderung Personal" der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin vom November 2013 (nachfolgend: Studie) erläutert die Hintergründe für die seit Jahren unterbliebene bzw. nur sporadische Einberufung von Wehrpflichtigen aus dem südlichen Militärdistrikt durch den russischen Generalstab überzeugend dahingehend, dass Angst vor Terroranschlägen oder der Verbreitung islamistischen Gedankenguts in den Streitkräften bestehe und immer wieder, auch aufgrund ethno-kultureller Vorurteile, geltend gemacht werde, dass Soldaten aus dieser Region einen schlechten Einfluss auf die Disziplin der Truppe hätten (S. 26). Zwar ist mit Blick auf den personellen Bedarf der russischen Streitkräfte (die Rede ist von einem Bedarf von 153.000 Wehrpflichtigen im Jahre 2013 bei einer Jahrgangsstärke von ca. 600.000 Wehrpflichtigen) und die schwierige demographische Entwicklung (es wird mit einem Rückgang der Jahrgangsstärke bis zum Jahre 2015 auf eine Zahl von 470.000 Wehrpflichtigen gerechnet) offenbar beabsichtigt, schrittweise ab dem Jahre 2013 wieder Wehrpflichtige auch aus dem südlichen Militärdistrikt heranzuziehen (S. 24, 26). Für das Jahr 2013 war jedoch in einem ersten Schritt die Integration von lediglich 2.000 Wehrpflichtigen beabsichtigt, und zwar allein aus den slawischen Bevölkerungsteilen Dagestans, Kabardino-Balkariens und Nord-Ossetiens. Bereits aus diesen Gründen ist eine Einberufung des aus dem islamisch geprägten Tschetschenien stammenden und dem Islam angehörenden Klägers weiterhin unwahrscheinlich.

Diese Prognose wird durch den Umstand verstärkt, dass – ungeachtet der hohen Dunkelziffer gesetzwidriger Fälschungen ärztlicher Atteste – landesweit ungefähr ein Drittel des einberufenen Jahrgangs als untauglich für den Dienst in den Streitkräften eingestuft wird (Studie, S. 25, bezogen auf die Jahre 2011 und 2012), was vor allem an der noch immer allgemein schlechten Gesundheitsversorgung, aber auch an einer niedrigen Bildungsrate und einer hohen Suchtrate liege. Nach Art. 23 Nr. 1 Buchst. a des Föderalen Gesetzes Nr. 53 vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst sollen Bürger vom Militärdienst befreit werden, wenn sie aufgrund ihres Gesundheitszustandes als untauglich oder nur eingeschränkt tauglich für den Militärdienst beurteilt worden sind. Es spricht alles dafür, dass der Kläger in Anbetracht der vorgenannten Quote jedenfalls infolge seines reduzierten Gesundheitszustandes ausgemustert würde. [...]