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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26.08.2014 - 6 N 48.14 - asyl.net: M22325
https://www.asyl.net/rsdb/M22325
Leitsatz:

Die vom Staat Afghanistan per Gesetz getroffene Sorgerechtsregelung, wonach ab einem bestimmten Alter dem Vater das alleinige Sorgerecht zusteht, verstößt in verfahrensrechtlicher Hinsicht gegen den ordre public. Der Verstoß liegt insoweit schon darin begründet, dass nach der afghanischen Rechtslage ein Verfahren, in dem im Einzelfall entschieden wird, welchem der Elternteile oder ob beiden Eltern oder anderen Personen das Sorgerecht zugesprochen wird, nicht stattfindet.

Schlagwörter: Afghanistan, alleiniges Sorgerecht, ordre public, afghanisches Recht, Kindeswohl, persönliche Anhörung, Anhörung, Kindernachzug,
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, AufenthG § 32 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Grundsätzlich ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels bei der Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis aus Rechtsgründen erteilt oder versagt werden muss, auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz abzustellen. Dies gilt im Grundsatz auch für den Nachzugsanspruch von Kindern. Sofern diese Ansprüche allerdings an eine Altersgrenze geknüpft sind - wie hier die Vollendung des 16. Lebensjahres -, ist für die Einhaltung der Altersgrenze ausnahmsweise auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Wenn die Altersgrenze im Laufe des Verfahrens überschritten wird, folgt daraus, dass die übrigen Anspruchsvoraussetzungen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze vorgelegen haben müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zu Gunsten des Betroffenen können grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Insoweit bedarf es mithin bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, einer auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogenen Doppelprüfung. Das bedeutet, die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Nachzugsanspruch müssen sowohl im Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres des Betreffenden vorgelegen haben als auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts vorliegen (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17/08 -, BVerwGE 133, 329 f., Rn. 10 bei juris). Da der Kläger zu 1. das 16. Lebensjahr bereits am 7. April 2012 vollendet hat, ist bei ihm die angesprochene Doppelprüfung erforderlich (a.). Für den Kläger zu 2., der das 16. Lebensjahr erst am 1. Januar 2015 vollenden wird, ist auf den gegenwärtigen Zeitpunkt für die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen abzustellen (b.).

a. aa. Nach der im Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres durch den Kläger zu 1. geltenden Fassung des § 32 Abs. 3 AufenthG war dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Niederlassungserlaubnis besitzt. An dieser Voraussetzung fehlt es aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen. Das kraft Gesetzes bestehende alleinige Sorgerecht des Vaters des Klägers zu 1. verstößt gegen den ordre public. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, auf die sich das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung bezieht, liegt bei der Anerkennung ausländischer Sorgerechtsentscheidungen in materieller Hinsicht ein Verstoß gegen den ordre public (erst dann) vor, wenn die Entscheidung wegen ihres Inhalts im Ergebnis mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Familien- und Kindschaftsrechts offensichtlich unvereinbar ist (materiell-rechtlicher ordre public). Dabei steht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt der Prüfung. Jede Regelung des Sorgerechts wirkt sich auf das Wohl des Kindes aus und muss daher das Kind in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen. Ein Verstoß gegen den ordre public kann sich auch aus dem der anzuerkennenden Entscheidung vorangegangen Verfahren ergeben, also der Art und Weise ihres Zustandekommens. Dies ist der Fall, wenn die ausländische Entscheidung aufgrund eines Verfahrens ergangen ist, das von den Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maße abweicht, dass sie nach der deutschen Rechtsordnung nicht als in einem geordneten, rechtsstaatlichen Verfahren ergangen angesehen werden kann (verfahrensrechtlicher ordre public). Eine am Kindeswohl orientierte Sorgerechtsentscheidung erfordert daher auch eine Verfahrensgestaltung, die eine hinreichende Berücksichtigung der grundrechtlichen Stellung des betroffenen Kindes garantiert. Das Sorgerechtsverfahren ist unter Berücksichtigung des Alters des Kindes, des Entwicklungsstandes und seiner seelischen Verfassung so zu gestalten, dass der Entscheidungsträger möglichst zuverlässig die Grundlagen einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann. Das erfordert jedenfalls bei Jugendlichen grundsätzlich eine persönliche Anhörung und bei jüngeren Kindern zumindest ein funktionales Äquivalent, durch das ihnen Gelegenheit gegeben wird, ihre Interessen auf altersgerechte Weise zu formulieren und in das Verfahren einzubringen (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 - 10 C 11/12 -, BVerwGE 145, 172 ff., Rn. 21 bei juris). Eine Sorgerechtsentscheidung, die in einem Verfahren zustande gekommen ist, das den ordre public verletzt, kann nur dann ausnahmsweise anerkannt werden, wenn die Nichtanerkennung das Kindeswohl gefährdet (BVerwG, a.a.O., Rn. 23 bei juris).

Anhand dieser Maßstäbe verstößt die vom Staat Afghanistan per Gesetz getroffene Sorgerechtsregelung, wonach ab einem bestimmten Alter dem Vater das alleinige Sorgerecht zusteht, jedenfalls in verfahrensrechtlicher Hinsicht gegen den ordre public. Der Verstoß liegt insoweit schon darin begründet, dass nach der afghanischen Rechtslage ein Verfahren, in dem im Einzelfall entschieden wird, welchem der Elternteile oder ob beiden Eltern oder anderen Personen das Sorgerecht zugesprochen wird, nicht stattfindet. Das insoweit allein maßgebliche (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) Vorbringen im Berufungszulassungsverfahren rechtfertigt keine andere Einschätzung.

Ein Verstoß gegen den von der Berufungszulassung angeführten "völkerrechtlichen Grundsatz der Respektierung und Berücksichtigung der ausländischen Rechtslage" liegt schon deshalb nicht vor, weil ein solcher Grundsatz seine Grenzen gerade am ordre public findet. Daher ist es insoweit auch nicht entscheidungserheblich, dass im Fall des Bundesverwaltungsgerichts eine familiengerichtliche bzw. behördliche Sorgerechtsentscheidung zugrundelag, während hier eine gesetzliche Sorgerechtszuweisung in Rede steht. Maßgeblich ist allein, dass es an einer am konkreten Kindeswohl orientierten Einzelfallentscheidung fehlt.

Der Hinweis der Berufungszulassung auf Artikel 16 Abs. 1 Buchstabe b) und Artikel 16 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung geht fehl. Die darin aufgeführten Ausschlussgründe setzen denklogisch voraus, dass die anspruchsbegründenden Voraussetzungen nach Artikel 4 der Richtlinie erfüllt sind. Daran fehlt es. Gemäß Artikel 4 Abs. 1 Buchstabe c) Satz 1 der Richtlinie gestatten die Mitgliedstaaten den minderjährigen Kindern die Einreise und den Aufenthalt, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Im Sinne dieser Bestimmung besitzt ein Elternteil das Sorgerecht nur, wenn er allein sorgeberechtigt ist (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012, a.a.O., Rn. 16 bei juris). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt, da der Anerkennung der afghanischen Sorgerechtsregelung der verfahrensrechtliche ordre public entgegensteht (vgl. auch BVerwG, a.a.O., Rn. 17 bei juris).

Soweit die Berufungszulassung geltend macht, das Verwaltungsgericht sei seiner Amtsaufklärungspflicht nicht ausreichend nachgekommen, es habe zumindest eine Überprüfung des Alters der Kinder, deren Entwicklungsstand sowie der seelischen Verfassung über die Deutsche Botschaft veranlassen und durchführen lassen können, rechtfertigt auch das keine andere Einschätzung. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts war nicht erforderlich, weil es infolge der nicht anzuerkennenden Sorgerechtsregelung in Afghanistan an den gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen fehlt. Einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht insoweit bedurfte es zudem auch deshalb nicht, weil es nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts ist, eine eigenständige Sorgerechtsentscheidung zu treffen oder die defizitäre Sorgerechtsentscheidung einer ausländischen Stelle zu ersetzen oder zu "reparieren". Die Sorgerechtsentscheidung obliegt vorliegend allein den zuständigen afghanischen Stellen.

bb. Auch im gegenwärtigen Zeitpunkt kann der Kläger zu 1. nicht die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis verlangen. Nach § 32 Abs. 3 AufenthG in der seit dem 6. September 2013 geltenden Fassung soll einem minderjährigen Kind bei gemeinsamem Sorgerecht eine Aufenthaltserlaubnis nach den Absätzen 1 und 2 auch zum Nachzug zu einem sorgeberechtigten Elternteil erteilt werden, wenn der andere Elternteil sein Einverständnis mit dem Aufenthalt des Kindes im Bundesgebiet erklärt hat oder eine entsprechend rechtsverbindliche Entscheidung der zuständigen Stelle vorliegt. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich des Klägers zu 1. jedenfalls deshalb nicht vor, weil nicht beide Eltern sorgeberechtigt sind.

Daran ändert auch nichts, dass die alleinige Sorgerechtsübertragung auf den Vater nach afghanischem Recht gegen den ordre public verstößt. Der festgestellte Verstoß gegen den ordre public führt nicht dazu, dass an dessen Stelle etwa die deutsche Sorgerechtsregelung tritt, wonach grundsätzlich beiden Elternteilen das Sorgerecht zusteht. Welche Sorgerechtsentscheidung dem Kindeswohl entspricht, ist bei dem hier gegebenen verfahrensrechtlichen Verstoß gegen den ordre public vielmehr offen. Zudem geht die Regelung in § 32 Abs. 3 AufenthG von einem tatsächlich bestehenden und nicht von einem gleichsam fingierten gemeinsamen Sorgerecht aus.

Hinzu kommt, dass der Kläger zu 1., der das 16. Lebensjahr bereits vollendet hat, die dadurch erforderlichen Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt. Danach muss er die deutsche Sprache beherrschen oder es muss gewährleistet erscheinen, dass er sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Hierfür ist nichts ersichtlich oder geltend gemacht, wie im Übrigen auch schon das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil ausgeführt hat. Die Berufungszulassung legt in dieser Hinsicht nichts dar.

Soweit sich die Berufungszulassung auf Artikel 24 Abs. 2 und Abs. 3 der Europäischen Grundrechte-Charta beruft, folgt auch hieraus nichts Abweichendes. Nach Absatz 2 der genannten Vorschrift muss bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Nach Absatz 3 hat jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind hier schon deshalb erkennbar gewahrt, weil die Nichtanerkennung der afghanischen Sorgerechtsregelung eine (in verfahrensrechtlicher Hinsicht) nicht am Kindeswohl orientierte Sorgerechtsentscheidung gerade verhindert. Unbeschadet dessen legt die Berufungszulassung auch nicht dar, weshalb im vorliegenden Fall in materiellrechtlicher Hinsicht der begehrte Nachzug des Klägers zu 1. zu seinem Vater dem Kindeswohl entsprechen soll.

b. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger zu 2. nach § 32 Abs. 3 AufenthG in der aktuellen Fassung scheitert ebenfalls am danach vorausgesetzten gemeinsamen Sorgerecht seiner Eltern.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 1 AufenthG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Niederlassungserlaubnis besitzen. Hier besitzt zwar der nach afghanischem Recht allein personensorgeberechtigte Vater des Klägers zu 2. eine Niederlassungserlaubnis, der Anerkennung seines Sorgerechts steht jedoch der ordre public entgegen.

2. Besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, die über das in Fällen vergleichbarer Art übliche Maß hinausgehen, sind weder ersichtlich noch dargelegt. Die Frage, ob die afghanische Sorgerechtslage gegen den ordre public verstößt, stellt sich wie die unter 1. a. aa. dargelegten Gründe zeigen nicht als überdurchschnittlich rechtlich oder tatsächlich schwierig dar. [...]