VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 23.04.2014 - 10 A 1242/12 - asyl.net: M22311
https://www.asyl.net/rsdb/M22311
Leitsatz:

1. Bei Klagen gegen einen sog. Dublin-Bescheid ist regelmäßig die Anfechtungsklage die statthafte Klageart.

2. Auf "Altfälle" findet auch nach In-Kraft-Treten der Dublin-III-VO weiterhin die Dublin-II-VO Anwendung.

3. Die Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG verpflichten jedenfalls dann zur Ausübung des sog. Selbsteintrittsrechts, wenn besondere Umstände dem Mitglied einer familiären Lebensgemeinschaft, das sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhält und zu dem der Asylbewerber eine außergewöhnlich enge Beziehung hat, ein Nachfolgen des Familienmitglieds in den Mitgliedstaat, in den der Asylbewerber überstellt werden soll, unzumutbar machen (hier: familiäre Lebensgemeinschaft mit einem minderjährigen Sohn, der seit 13 Jahren im Bundesgebiet lebt und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Anfechtungsklage, Dublin II-VO, Dublin III-Verordnung, Altfälle, Altfall, Selbsteintritt, familiäre Lebensgemeinschaft, Familienangehörige, Sonstige Familienangehörige,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, AsylVfG § 27a,
Auszüge:

[...]

a) Zu Unrecht hat die Beklagte festgestellt, dass die Asylanträge der Kläger unzulässig seien. Die Voraussetzungen des § 27a AsylVfG, auf dessen Grundlage die von der Beklagten getroffene Feststellung ergangen ist, liegen nicht vor. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften u. a. der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Für die Durchführung der vorliegenden Asylverfahren ist indes nicht wie von der Beklagten angenommen der ungarische Staat, sondern nach Maßgabe der Vorschriften der Dublin-II-VO die Beklagte selbst zuständig.

Die Dublin-II-VO findet auf den vorliegenden Fall noch vollumfänglich Anwendung, obwohl sie inzwischen durch Art. 48 UAbs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin-III-VO), aufgehoben worden ist. Die Dublin-III-VO ist indes (nur) auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die ab dem 1. Januar 2014 gestellt werden, und gilt – ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung – ab diesem Zeitpunkt (lediglich) für alle Gesuche um Aufnahme und Wiederaufnahme von Antragstellern, Art. 49 UAbs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO. Soweit Art. 49 UAbs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO normiert, dass für einen Antrag auf internationalen Schutz, der vor diesem Datum eingereicht wird, die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach den Kriterien der Dublin-II-VO erfolgt, kommt dieser Bestimmung bloß klarstellende Funktion zu (Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a Rn. 286). Die Kläger haben ihren ersten Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 3. Oktober 2011 in Ungarn gestellt. Das Übernahmeersuchen an den ungarischen Staat datiert vom 15. August 2012 und ist mithin ebenfalls vor dem maßgeblichen Stichtag ergangen.

Die Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger folgt aus dem Umstand, dass vorliegend das der Beklagten in Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO eingeräumte Ermessen ausnahmsweise auf Null reduziert ist. Gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin-II-VO kann jeder Mittgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Das Selbsteintrittsrecht ist an keine tatbestandlichen Voraussetzungen geknüpft und in das Ermessen des Mitgliedstaats gestellt (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, C-411/10 u. a., NVwZ 2012, 417, 418; Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rn. 174). Macht der Mitgliedstaat von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch, wird er hierdurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-II-VO, vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO. Im Falle der Kläger gebietet es die Schutzwirkung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, dass die Beklagte ihr Selbsteintrittsrecht ausübt und die Asylverfahren der Kläger in eigener Zuständigkeit durchführt. Im Einzelnen gilt Folgendes:

Art. 6 Abs. 1 und 2 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet, verpflichtet aber den Staat, bei Entscheidungen, die zur Beendigung des Aufenthalts eines Ausländers führen, die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, umfassend zu berücksichtigen. Dies gilt auch im Rahmen des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens nach der Dublin-II-VO. In diesem Zusammenhang führt die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie jedenfalls dann zu einer Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung ihres sog. Selbsteintrittsrechts, wenn besondere Umstände demjenigen Mitglied der familiären Gemeinschaft, zu dem der Ausländer eine außergewöhnlich enge Beziehung hat, ein Nachfolgen des Familienmitglieds in den Mitgliedstaat, in den der Ausländer überstellt werden soll, unzumutbar machen. Handelt es sich bei diesem Mitglied der Familiengemeinschaft um ein Kind, so ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen (vgl. zu diesen Rechtsgedanken BVerfG, Beschl. v. 5.6.2013, 2 BvR 586/13, NVwZ 2013, 1207, 1208 m. w. Nachw.; BVerwG, Urt. v. 30.7.2013, 1 C 15/12, Rn. 15 – zitiert nach juris).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) die elterliche Sorge über den minderjährigen Zeugen ... ausüben und sie eine schützenswerte familiäre Lebensgemeinschaft bilden, die unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls nicht getrennt werden darf.

Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) haben im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung erklärt, seit Aufhebung der Vormundschaft mit Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 14. Dezember 2012, also seit nunmehr über 16 Monaten, wieder selbst die elterliche Sorge über ihren Sohn auszuüben. Hierzu haben sie angegeben, dass sie sich schon zu der Zeit, als sie noch im Asylbewerberheim lebten, im Rahmen des Möglichen um den Zeugen ... gekümmert hätten. Seit sie ihre Wohnung in B... hätten beziehen dürfen, also seit nunmehr einem guten Jahr, lebe ihr Sohn bei ihnen. Dies bedeute, dass er seine Zeit mit ihnen verbringe, bei ihnen esse und schlafe. Außerdem gestalteten sie auch ihre freie Zeit gemeinsam, guckten zusammen fern, grillten, gingen schwimmen oder in den Park, manchmal auch, um dort Fußball zu spielen. Die Geschwister hätten ein gutes Verhältnis zueinander. Der Zeuge ... gehe mit seinem Bruder zum Taekwondo und ins Fitness-Studio, im Übrigen helfe er seinen Geschwistern bei den Schularbeiten. Über den Ausbildungsstand des Zeugen ... zeigten sich der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) wohlinformiert. Auf seine weitere Zukunft wollten sie erzieherisch Einfluss nehmen, nachdem sie dies aufgrund der räumlichen Trennung jahrelang anderen Personen hätten überlassen müssen.

Die Auskünfte des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) waren auch glaubhaft. Ihre Angaben waren bei gleichbleibendem Informationsfluss detailreich und in sich widerspruchsfrei. Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) vermochten dem Gericht anschaulich vom gemeinsamen Familienleben und ihren erzieherischen Vorstellungen zu berichten. Dabei wirkten sie auch – wie es bei der vorliegenden Thematik zu erwarten war – in angemessener Weise emotional berührt. Insbesondere die Klägerin zu 2) hat nachvollziehbar geschildert, dass sie die jahrelange Trennung von ihrem ältesten Sohn als sehr hart empfunden habe und dass die ganze Familie sehr froh sei, nunmehr wieder vereint mit ihm zusammenleben zu können. Die Schilderung der Klägerin zu 2) war in diesem Zusammenhang insbesondere deshalb besonders glaubhaft, weil sie auch die Schwierigkeiten nicht unerwähnt gelassen hat, die das familiäre Zusammenleben nach etwa elf Jahren Trennung zwangsläufig mit sich bringen muss, wenn man bedenkt, dass der Zeuge ... seine Eltern, den Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2), zuletzt als Kleinkind gesehen hatte und in der Zwischenzeit von seiner Großmutter und seiner Tante aufgezogen worden war.

Die Angaben des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) hat der Zeuge ... bestätigt und nachvollziehbar ergänzt. Auch der Zeuge hat erklärt, seit nunmehr einem guten Jahr bei seinen Eltern und Geschwistern in der gemeinsamen Wohnung in B... zu wohnen. Weiter hat der Zeuge bestätigt, dass seine Familie regelmäßig etwas zusammen unternehme, z. B. gemeinsame Ausflüge mache, schwimmen gehe, er mit seinem Bruder Sport treibe und insbesondere einer seiner Schwestern bei den Hausaufgaben helfe. Außerdem hat der Zeuge bekundet, nach Abschluss der Schule die Entscheidung über seine weitere Ausbildung nicht allein gefällt, sondern dies mit seinen Eltern besprochen zu haben. Dazu befragt, wie er sich seine weitere persönliche Zukunft vorstelle, hat der Zeuge angegeben, dass er wie zuletzt weiter mit seiner Familie zusammenleben wolle.

Auch die Angaben des Zeugen ... waren glaubhaft. Der Zeuge hat die Fragen des Gerichts frei von Brüchen im Aussageverhalten nachvollziehbar beantwortet. Dabei waren seine Angaben detailreich, in sich widerspruchsfrei und plausibel. Inhaltlich stimmten sie weitgehend mit den Angaben des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) überein. Das Gericht schenkt den Aussagen des Zeugen vor allen Dingen auch deshalb Glauben, weil er nicht nur einseitig die positiven Seiten des familiären Zusammenlebens geschildert, sondern auch die Schwierigkeiten nicht verschwiegen hat, die es zu Anfang gegeben habe, weil er seine Eltern und Geschwister praktisch gar nicht mehr gekannt habe.

Angesichts der engen familiären Bindung, die zwischen den Klägern und dem Zeugen ... seit ihrer Einreise ins Bundesgebiet (wieder) besteht, ist es insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls jedenfalls bis zum Eintritt des Zeugen ... in die Volljährigkeit – was noch über neun Monate dauern wird – nicht zumutbar, dass die Familieneinheit getrennt wird. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dem Inhalt der gesamten mündlichen Verhandlung steht fest, dass zwischen dem Zeugen und den Klägern eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung der Zeuge zu seinem Wohl angewiesen ist. Angesichts des Umstands, dass die Familie nach einer fluchtbedingt jahrelang andauernden Trennung nunmehr endlich wieder zueinander gefunden hat, würde sich nach dem Dafürhalten des Gerichts derzeit schon eine vorübergehende Trennung negativ auf die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl des Zeugen ... auswirken. Dass die tatsächlich erbrachte Lebenshilfe u. U. auch von der im Bundesgebiet lebenden Großmutter oder der Tante des Zeugen erbracht werden könnte, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle (vgl. BVerfG, Beschl. v. 5.6.2013, 2 BvR 586/13, a.a.O.).

Zu einer Trennung der Familieneinheit käme es indes, wenn die Kläger auf Grundlage des angefochtenen Bescheides nach Ungarn abgeschoben würden. Die Wahrung der Familieneinheit im Zielland der Abschiebung – hier Ungarn – wäre im vorliegenden Falle – anders als möglicherweise im Falle einer Abschiebung in das gemeinsame Herkunftsland – nicht möglich. Denn dem Zeugen ... ist es nicht zumutbar, seinen Eltern und Geschwistern zu diesem Zwecke nach Ungarn nachzufolgen. Der 17-jährige Zeuge lebt seit 13 Jahren im Bundesgebiet, ist also maßgeblich hier aufgewachsen und sozialisiert, ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, hat die Schule mit dem Hauptschulabschluss abgeschlossen und wird im Sommer eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann beginnen. Mit dem ungarischen Staat verbindet den Zeugen rein gar nichts. Zudem ist äußerst fraglich, ob der Zeuge überhaupt berechtigt wäre, sich für eine längere Dauer in Ungarn aufzuhalten. Seine Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG dürfte ihn nur zu einem 90-tägigen Aufenthalt je Zeitraum von 180 Tagen in Ungarn berechtigen, vgl. Art. 21 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ). Für einen längeren Aufenthalt dürfte der Zeuge ein nationales ungarisches Visum benötigen (vgl. Art. 18 SDÜ), von dem völlig unklar ist, ob es ihm – selbst wenn er es beantragen würde – von den ungarischen Behörden erteilt würde. [...]