VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Beschluss vom 16.10.2014 - 3 B 915/14 As - asyl.net: M22310
https://www.asyl.net/rsdb/M22310
Leitsatz:

1. Nach Auffassung der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Schwerin ist bei summarischer Wertung in der Republik Italien trotz erheblicher Steigerung der Anzahl der Unterbringungsplätze aufgrund der bis September 2014 in Italien angekommenen hohen Zahl an Flüchtlingen nach wie vor von erheblichen Defiziten im Bereich der Unterbringung von Asylbewerbern – einschließlich von sog. Dublin-Rückkehrern - auszugehen.

2. Der Frage einer rechtlichen oder faktischen Residenzpflicht eines Flüchtlings im Aufnahmeland kann bei der Prüfung systemischer Mängel Bedeutung zukommen, da dann nicht mehr auf die Flüchtlingssituation im gesamten Land abgestellt werden kann.

3. Können systemische Mängel in einem überschaubaren Zeitraum beseitigt werden, ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Abschiebung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt erfüllt sind.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufnahmebedingungen, Unterbringung, Italien, systemische Mängel, Residenzpflicht, Wohnsitzauflage, Dublinverfahren,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

bb) Bei summarischer Wertung ist die Feststellung der Unzulässigkeit des Antrags durch das Bundesamt rechtswidrig. Nach wie vor hat das Gericht durchgreifende Bedenken, ob Asylbewerber nach Italien abgeschoben werden können. Der Einzelrichter der 3. Kammer (früher 8. Kammer) des Verwaltungsgerichts Schwerin hat nach anfänglichem Zögern (vgl. VG Schwerin, Beschluss vom 27. September 2012 – 8 B 434/12 As –, juris Rn. 13 ff.) in der Vergangenheit mehrfach Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz stattgegeben, weil seinerzeit erhebliche Anhaltspunkte bestanden haben, dass insbesondere die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien unter systemischen Mängeln leidet (vgl. etwa VG Schwerin, Beschlüsse vom 15. März 2013 – 3 B 111/13 As –, juris Rn. 16 ff.; vom 13. November 2013 – 3 B 315/13 As –, juris Rn. 14 ff; und vom 15. Mai 2014 – 3 B 418/14 As –, juris Rn. 16 ff.; zuletzt Beschlüsse vom 25. September 2014 – 3 B 746/14 As und 3 B 749/14 As sowie vom 26. September 2014 – 3 B 881/14 As – (n. v.)).

Daran hält die Kammer nach neuerlicher Überprüfung anhand aktueller Zahlen fest.

cc) Dies ergibt sich aus folgenden Gründen:

(1) Mit Blick auf das Grundrecht auf Asyl nach Art. 16a Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten hinsichtlich der Einreise von Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten ausgeführt, dass der Ausländer, der in einen sicheren Drittstaat zurückgewiesen oder zurückverbracht werden soll, grundsätzlich nicht den Schutz der Bundesrepublik Deutschland vor einer politischen Verfolgung oder sonstigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen in seinem Herkunftsstaat mit der Begründung einfordern kann, für ihn bestehe in dem betreffenden Drittstaat keine Sicherheit, weil dort in seinem Einzelfall - trotz normativer Vergewisserung - die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht erfüllt würden. Demgemäß kommen für ihn entsprechend dem mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten Konzept der normativen Vergewisserung über die Sicherheit im Drittstaat auch die materiellen Rechtspositionen, auf die ein Ausländer sich sonst gegen seine Abschiebung stützen kann (insbesondere nach heutigem Recht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylVfG, subsidiärer Schutz nach § 4 AsylVfG und nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes [AufenthG]), nicht in Betracht.

Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An diese Darlegung sind strenge Anforderungen zu stellen. So kann sich im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EMRK, wonach die Todesstrafe nicht konventionswidrig ist, ein Ausländer gegenüber einer Zurückweisung oder Rückverbringung in den Drittstaat auf das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 3 AufenthG berufen, wenn ihm dort die Todesstrafe drohen sollte. Weiterhin kann er einer Abschiebung in den Drittstaat § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG etwa dann entgegenhalten, wenn er eine erhebliche konkrete Gefahr dafür aufzeigt, dass er in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zurückweisung oder Rückverbringung in den Drittstaat dort Opfer eines Verbrechens werde, welches zu verhindern nicht in der Macht des Drittstaates steht. Ferner kommt der Fall in Betracht, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht. Nicht umfasst vom Konzept normativer Vergewisserung über einen Schutz für Flüchtlinge durch den Drittstaat sind auch Ausnahmesituationen, in denen der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird. Schließlich kann sich - im seltenen Ausnahmefall - aus allgemein bekannten oder im Einzelfall offen zutage tretenden Umständen ergeben, dass der Drittstaat sich - etwa aus Gründen besonderer politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat - von seinen mit dem Beitritt zu den beiden Konventionen eingegangenen und von ihm generell auch eingehaltenen Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird. Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor, wenn die ihn begründenden Umstände sich schon im Kontakt zwischen deutschen Behörden und Behörden des Drittstaates ausräumen lassen (näher BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49-114, juris Rn. 181 ff, 189).

(2) Aus dem gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (dazu BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, u. a., BVerfGE 123, 267-437, juris Rn. 335 ff; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, 13. Aufl. 2011, Art. 23 Rn. 33, 33a mwN.) vorrangig anzuwendenden Unionsrecht folgt nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO, dass ein Asylantragsteller nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen. Diese Formulierung geht zurück auf Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Der EuGH hat in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 in der Sache N. S. gegen Secretary of State for the Home Department u.a. entschieden:

"Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den 'zuständigen Mitgliedstaat' im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden." (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10, C-411/10, C-493/10 –).

Den Begriff des EuGH des "systemischen Mangels" (systemic flaws) hat nachfolgend der EGMR mit den Begriff des "systemischen Versagens" (systemic failure) umschrieben (vgl. EGMR, Urt. v. 2. April 2013 – Nr. 27725/10 – (Hussein), ZAR 2013, 336 (337 Nr. 78); dazu Thym, ZAR 2013, 331 (332 Fn. 12). - Zur Entwicklung des Begriffs in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR auch Lübbe, ZAR 2014, 105 f. Die Begriffe sind indes von beiden Gerichten nicht näher definiert worden. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat dazu ausgeführt, es sei von einem systemischen Mangel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in einem Mitgliedsstaat auszugehen, wenn diese "regelhaft so defizitär" sind, dass "zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.“ (BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 –, juris LS und Rn. 6 ff.).

Es ist nach dem Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) vorrangig Aufgabe des Tatrichters zu beurteilen, ob der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Feststellung systemischer Mängel ist dabei Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite. Sie sind im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt oder prägen dessen Vollzugspraxis strukturell. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der beschriebenen Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dort drohten auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014 Anm. 3).

Systemische Mängel sind jedenfalls anzunehmen, wenn sie das im Urteil des EGMR, M.S.S. ./. Belgien und Griechenland vom 21. Januar 2011 (auszugsweise abgedruckt etwa in EuGRZ 2011, 243 ff.) beschriebene Ausmaß der Beeinträchtigungen der Grundrechte (siehe insbesondere Rz. 162 ff.; 233 f., 263 f. 358, 360 und 367) erreichen (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung 2014, Art. 3 K16).

Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob systemische Mängel erst bei "griechischen Verhältnissen" festgestellt werden können (so auch Lübbe, ZAR 2014, 105 (110 f.)).

dd) Bei Beachtung dieser Vorgaben bestehen bei summarischer Wertung nach Auffassung der Kammer in der Republik Italien entgegen den Bestimmungen der derzeit noch zu beachtenden unionsrechtlichen Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003) nach wie vor erhebliche strukturelle Defizite bei der Unterbringung von Asylbewerbern – einschließlich sog. Dublin-Rückkehrern.

Nach den bisherigen Feststellungen erfolgt in Italien eine Unterbringung erst, wenn der Asylbewerber nicht nur einen Asylantrag gestellt, sondern der Asylbewerber bei der nachfolgenden verbalizzazione auch registriert worden ist. Zwischen den Terminen für Antragstellung und Begründung lagen bislang zum Teil erhebliche Zeiträume von mehreren Wochen oder gar Monaten (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen vom 13. Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Darmstadt vom 3. Dezember 2013, S. 8; UNHCR, Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien (Juli 2013), S. 6 f.; siehe auch die Darstellung bei VG Freiburg, Urteil vom 10. April 2014 - A 4 K 2202/11 - (abrufbar bei www.asyl.net), Umdruck, S. 21 ff. (unter 2.2.2.2); so bereits VG Schwerin, Beschluss vom 15. Mai 2014 – 3 B 418/14 As –, juris Rn. 16 ff. sowie nunmehr VG Leipzig, Beschlüsse vom 01. Juli 2014 – A 5 L 169/14 –, juris Rn. 20 ff. und vom 31. Juli 2014 – A 5 L 258/14 – (abrufbar unter www.asyl.net), Umdruck S. 6 ff.).

Danach könnte dem Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen, da die Asylbewerber in dem Zeitraum auf sich allein gestellt und häufig obdachlos sind (vgl. etwa Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen vom 13. Oktober 2013, S. 12).

Zwar gibt es nach Angaben der Schweizer Flüchtlingshilfe und UNHCR eine Weisung des italienischen Innenministeriums, die genannten Antragstermine zusammenzuführen. Ob diese und weitere Maßnahme tatsächlich zu Verbesserungen führen, bleibe abzuwarten (so Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen vom 13. Oktober 2013, S. 12).

Auch UNHCR spricht von Verbesserungen, aber nicht davon, dass dieser Mangel mittlerweile (weitgehend) abgestellt worden ist (vgl. UNHCR, Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Darmstadt, S. 8; Empfehlungen, S. 6 f.; vgl. auch Asylum Information Database (künftig zit. als aida-Bericht), National Country Report Italy (April 2014), S. 15 mwN.).

In der zeitlichen Lücke zwischen Antragstellung und Registrierung des Asylbewerbers sieht die Kammer bei summarischer Wertung einen systemischen Mangel der Aufnahmebedingungen im obigen Sinne. Diese Lücke führt regelmäßig dazu, dass Asylbewerber nicht untergebracht werden, so dass dem Antragsteller im vorliegenden Fall insoweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. (Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13 –, juris Rn. 47, sieht darin ebenfalls einen systemischen Mangel, hält aber die getroffenen Maßnahmen der italienischen Regierung für ausreichend; wie hier: VG Leipzig, Beschluss vom 01. Juli 2014 – A 5 L 169/14 –, juris Rn. 20 ff. und Beschluss vom 31. Juli 2014, aaO, S. 6 ff.).

Ob die angeordneten Maßnahmen der italienischen Regierung zur Beseitigung der genannten Defizite ausreichend sind, ist nach den vorhandenen Quellen mit der erforderlichen Sicherheit bislang nicht feststellbar. Die Liasonbeamtin des Bundesamtes bei der deutschen Botschaft in Rom führt in ihrer undatierten Stellungnahme zu dem oben zitierten Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe (Stand: 21. November 2013, S. 1, [allerdings zu S. 60 (Nr. 7.3) des Berichts] aus: "Die Flüchtlinge bekommen alle eine Unterkunft, teilweise jedoch mit Verzögerung." Damit hat sie eingeräumt, dass es zu Verzögerungen bei der Unterbringung kommt, allerdings ohne dies in zeitlicher Hinsicht näher darzustellen.

ee) Des Weiteren liegen dem Gericht immer noch keine hinreichend verlässlichen Zahlen bezüglich der gegenwärtigen Aufnahmekapazitäten in den verschiedenen Unterbringungszentren und weiteren Einrichtungen vor. Insbesondere fehlen genauere Zahlenangaben aus dem karitativen und dem kommunalen Bereich. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die künftige Entwicklung der Asylbewerberzahlen in Italien. Es liegen belastbare Angaben dazu vor, dass in Italien derzeit bei den Unterbringungsmöglichkeiten Kapazitätsengpässe bestehen (so auch BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14 -, (abrufbar bei www.asyl.net), Umdruck, S. 7 sowie Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 939/14, Umdruck, S. 8).

(1) Nach Angaben der Tagesschau sind bis Mitte des Jahres 2014 rund 54.000 Menschen nach Italien geflüchtet (vgl. Bericht der ARD vom 15. Juni 2014: Verzweifelter Rettungseinsatz www.tagesschau.de/ausland/mittelmeer-100.html).

In der ersten Jahreshälfte 2014 sind mit ca. 24.500 Asylbewerbern fast ebenso viel Personen um Asyl nachgesucht wie das gesamt Jahr zuvor (ca. 25.700). Bis September 2014 sind nach einem Bericht von UNHCR 130.000 Personen über das Mittelmeer geflohen, davon 118.000 Personen nach Italien. UNHCR, Asylum Trends, First Half 2014, S. 11; ders., "Boatpeople": UNHCR warnt vor Eskalation im Mittelmeer (http://www.unhcr.de/no_cache/detail/artikel/artikel//boatpeople-unhcr-warntvor-eskalation-im-mittelmeer.html?L=0).

Bezüglich der Unterbringungsplätze in den Aufnahmeeinrichtungen geht das Gericht nunmehr von anderen Zahlen als in den o. g. Beschlüssen vom 25. und 26. September 2014 aus.

(2) Es gibt verschiedene Einrichtungen zur Unterbringung von Asylbewerbern: CARA-Erstaufnahmeeinrichtungen (centro di accoglienza per richiedenti asilo) sind nur für den vorübergehenden (maximal 35 Tage) Aufenthalt von Asylbewerbern mit ungeklärter Identität in erster Linie zum Zwecke der Identitätsklärung vorgesehen. Ähnliche Funktionen erfüllen die CIE (Centro die identificazione ed espulsione). Daneben gibt es CDAs (Centro di accoglienza per Richiedenti Asilo), die ebenfalls Erstaufnahmeeinrichtungen sind und dem kurzfristigen Aufenthalt u.a. auf dem Staatsterritorium aufgegriffenen Migranten dienen. CSPA (Centro di Soccorso e Prima Accoglienza) dienen nur der Aufnahme von Bootsflüchtlingen. Für den längerfristigen (normalerweise bis zu 6-monatigen) Aufenthalt von Asylbewerbern vorgesehen sind die Unterkunftsplätze in SPRAR (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati), einem Netzwerk von durch Kommunen, Kirchen, kirchliche Einrichtungen sowie sonstige Hilfsorganisationen betriebenen Unterkünften, das seine Grundlage in einer Zusammenarbeit zwischen dem Innenministerium, den Kommunen und den beteiligten nichtstaatlichen Organisationen hat (vgl. die Beschreibung des VG Freiburg, Urteil vom 10. April 2014 – A 4 K 2202/11, aaO, S. 16 mwN.).

Nach den im Länderbericht von aida (Stand: April 2014; S. 49 f.) wiedergegebenen Angaben des italienischen Innenministeriums vom 19. März 2014 ergibt sich folgendes Bild (vgl. auch die Darstellung bei Bundesverwaltungsgericht [Österreich], Entscheid vom 12. September 2014 – W212 2011703-1 - [abrufbar bei www.ris.at ], Umdruck, S. 7 ff.): [...]

Im aida-Bericht wird darauf hingewiesen, dass die CPSA in Lampedusa wegen Renovierungsarbeiten derzeit geschlossen sei. Hinsichtlich der CARA wird darauf hingewiesen, dass dort tatsächlich derzeit 9.600 Asylsuchende beherbergt würden. Insbesondere in Süditalien seien die CARA überbelegt. Bezüglich der SPRAR-Projekte sei am 17. September 2013 beschlossen worden, die Anzahl der Plätze zwischen 2014 und 2016 auf 16.000 Plätze zu erhöhen. Berücksichtigt man diese Angaben, könnte im Jahre 2016 von insgesamt 24.516 Plätzen ausgegangen werden. Belastbare Zahlen sind dem Gericht aus dem kommunalen und karikativen Bereich nicht bekannt.

(3) Trotz der anerkennenswerten Steigerung der Unterbringungsplätze um nahezu das Dreifache wird nach Einschätzung des Gerichts der italienische Staat angesichts der oben referierten Flüchtlingszahlen in absehbarer Zeit die Flüchtlinge nicht in ausreichendem Maß unterbringen können. Italien wäre nicht in der Lage, die bis zum Jahresende geflüchteten Personen unterzubringen. Dies dürfte selbst dann gelten, wenn die Plätze im Jahr mehrfach belegt werden könnten, was u. a. von der Dauer der Asylverfahren abhängen dürfte. Nach Angaben im aida-Bericht werden die Unterkünfte zwischen 6 Monaten und einem Jahr in Anspruch genommen. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes (- vgl. Auswärtiges Amt, Grundsatzauskunft an das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, S. 4. -) würden die Asylverfahren - entgegen den gesetzlichen Vorgaben - durchschnittlich vier bis sechs Monate dauern, Danach könnte die Anzahl der Unterbringungsplätze mit ca. 43.000 bis 64.600 im Jahr angesetzt werden. Dabei ist festzuhalten, dass auch nach dem Bericht der Liasonbeamtin des Bundesamtes bei der Deutschen Botschaft in Rom Mitte November 2013 die Lager bereits überbelegt gewesen sind, da sie auf 10.856 tatsächlich anwesende Personen hingewiesen hat (vgl. auch VG Leipzig, Beschluss vom 01. Juli 2014 – A 5 L 169/14 –, juris Rn. 29 ff.; Beschluss vom 31. Juli 2014, aaO, S. 9 ff.).

Dem Vortrag der Antragsgegnerin zufolge gebe es zwar bei der Unterbringung regionale Unterschiede, im Ergebnis könne aber davon ausgegangen werden, dass in Italien landesweit ausreichende staatliche bzw. öffentliche Unterkunftsmöglichkeiten (bei teilweiser Überbelegung) zur Verfügung stünden. Insbesondere seien in Norditalien die Kapazitäten nicht ausgeschöpft. Diese Aussage begegnete nach den vorstehenden Erkenntnissen des Gerichts durchgreifenden Bedenken.

(4) Gegenwärtig sind im Laufe des Jahres 2014 mehr Flüchtlinge in Italien angekommen als bis zum Jahresende 2013 (laut aida-Bericht, S. 5: 27.930 Antragsteller; laut UNHCR, Asylum Trend, S. 11: 25.700), wobei anzunehmen ist, dass - wie in den vergangenen Jahren (vgl. UNHCR, aaO, S. 7) - in der zweiten Jahreshälfte eher noch mehr Asylbewerber Italien erreichen werden, als in der ersten Jahreshälfte des Jahres 2014. Von unzureichenden Unterbringungskapazitäten wäre angesichts der genannten Zahlen auch auszugehen, wenn nicht alle Flüchtlinge einen Asylantrag in Italien stellen sollten. Sollte den Angaben des Italienischen Flüchtlingsrates (CIR) zu folgen sein, wonach 2014 bislang lediglich 38.000 Personen (auf das Jahr hochgerechnet also etwa 57.000 Personen) einen Asylantrag in Italien gestellt haben (zit. nach Informationspapier (aktualisiert September 2014): Mittelmeer-Flüchtlinge: Woher kommen sie? Wo wollen sie hin?, des Mediendienstes Integration – mediendienstintegraton.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_Mittelmeer_Fluechtlinge.pdf) wäre deren Unterbringung nach vorläufiger Wertung ersichtlich nicht gesichert. Dabei müsste allerdings auch erörtert werden, aus welchen Gründen die Flüchtlinge keinen Antrag stellen. Sollte dies darauf zurückzuführen sein, dass sie angesichts fehlender Unterbringungs- und Unterstützungsmöglichkeiten (mit oder ohne Hilfe oder Duldung italienischer Behörden) in einen anderen EU-Staat weiterreisen, könnte dies auf systemische Mängel bei den Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten in Italien hinweisen.

c) Soweit die Antragsgegnerin auf die Entscheidung des EGMR vom 2. April 2013 – Nr. 27725/10 - (Samsam Mohammed Hossein u. a.) (ZAR 2013, 336) verweist, macht die Kammer darauf aufmerksam, dass die Richterin am EGMR Angelika Nußberger in ihrem Referat auf dem 17. Verwaltungsgerichtstag Münster 2013 zur Frage der Rückführungen nach der Dublin-II-Verordnung ausgeführt hat, es sei fraglich, inwieweit dieses Urteil, das die sehr spezielle Situation einer Asylbewerberin aus Somalia in den Blick nehme, verallgemeinerungsfähig sei. Ähnlich gelagerte Fälle seien noch anhängig, wobei die Autorin ausdrücklich auf den Fall Tarakhel u. a. v. Schweiz (Nr. 29217/12) hingewiesen hat (vgl. Nußberger, Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht, Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag e. V. (Hrsg.), 17. Deutscher Verwaltungsgerichtstag, S. 343 (351) = NVwZ 2013, 1305 (1309) mit Fn. 47).

Insofern spricht viel dafür, dass eine grundlegende Klärung der aufgeworfenen Fragen durch den EGMR – Große Kammer - noch erfolgen wird (vgl. dazu Sattler, Strassburg hinterfragt Abschiebungen nach Italien, Neue Züricher Zeitung vom 11. Februar 2014).

Wegen der noch ausstehenden Entscheidung des EGMR hat das Verwaltungsgericht Hannover im Beschluss vom 24. Juli 2014 - 4 B 9719/14 – (abrufbar bei www.asyl.net) den Ausgang eines diesbezüglichen Hauptsacheverfahrens als offen bezeichnet (Umdruck, S. 6 ff.), zumal die Rechtsfrage innerhalb der Sektionen des EGMR unterschiedlich beurteilt zu werden scheinen (Umdruck, S. 7 f. mwN). Holger Hoffmann hat in einer Stellungnahme "Europäische Entwicklungen im Asyl- und Flüchtlingsrecht Mai - November 2013" dazu die These vertreten:

"Die Rechtsprechung des EGMR bezüglich Italiens kann […] weder in die eine noch in die andere Richtung als gefestigt gelten."

und zur Begründung ausgeführt:

"Bei der ERA-Konferenz in Trier Ende Oktober 2013 soll der niederländische EGMR-Richter Silvis zur Überstellung nach Italien erklärt haben: Der Fall Mohammed Hussein [Nr. 27725/10] sei zunächst als 'leading case' geplant und deswegen von der 3. Sektion des Gerichtshofs ausführlich begründet worden. Die 5. Sektion des Gerichtshofs habe aber im Fall Tarakhel beschlossen, eine gegenteilige Auffassung zu vertreten. Entsprechend der Gepflogenheiten des Gerichts habe dies automatisch eine Weitergabe des Verfahrens an die Große Kammer zur Folge." (http://www.rechtsberaterkonferenz.de/mediapool/121/1215437/data/Europa eische_Entwicklungen_Mai_-_November_2013.pdf).

d) Des Weiteren ist im Hauptsacheverfahren der Frage nachzugehen, ob und inwieweit Asylbewerber in Italien einer (rechtlichen oder faktischen) Residenzpflicht unterliegen. Darauf deuten eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts der Schweiz und ein neuer Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe hin (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts der schweizer Eidgenossenschaft vom 14. November 2013, D-4751/2013: www.bvger.ch/publiws/download? decisionId=b65014a8-d99d-4d88-b438-d26309fb97d9 ; SFH, Bewegungsfreiheit in Italien für mittellose Personen mit Schutzstatus (Muriel Trummer) vom 4. August 2014).

Da sich die Asylbewerber in Italien nach Erkenntnissen des Gerichts auf Weisung des zuständigen Präfekten bis zum Abschluss des Asylverfahrens an einem bestimmten Ort aufhalten müssen (vgl. Auswärtiges Amt, Grundsatzauskunft an das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, S. 2. -) spricht einiges dafür, dass es bei der Feststellung von systemischen Mängeln nicht unbedingt auf die Situation in ganz Italien, sondern möglicherweise auf die örtlichen Gegebenheiten abzustellen ist, da rechtstreue Asylbewerber Unzulänglichkeiten an einem Ort nicht ausweichen können.

e) Nach allem vermag die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Schwerin sich der Auffassung insbesondere der Obergerichte derzeit nicht anzuschließen, dass es sich bei Italien um einen sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG bzw. der Dublin III-VO handelt (so etwa Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 07. März 2014 – 1 A 21/12.A –, juris, LS 2 und Rn. 40 ff. – bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 06. Juni 2014 – 10 B 35/14 –, juris -; NdsOVG, Beschluss vom 27. Mai 2014 – 2 LA 308/13 –, juris Rn. 4 ff.; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 – A 11 S 1721/13 –, juris, LS 2, Rn. 43 ff. je mwN.).

Diese Entscheidungen beruhen auf überholten Erkenntnissen, die im Wesentlichen aus dem Jahr 2013 stammen (ebenso VG Leipzig, Beschluss vom 1. Juli 2014, juris Rn. 25 ff. bzw. vom 31. Juli 2014, aaO Umdruck, S. 8 ff.).

f) Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, dass mit der Überforderung des Asylsystems eines Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundene transnationale Probleme vornehmlich auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen sind (- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 17. September 2014, aaO, S. 4 bzw. S. 5; unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2011 – 2 BvR 2015/09 –, BVerfGE 128, 224-226, juris Rn. 2. -) führt nach Auffassung des Gerichts bei Vorliegen systemischer Mängel regelmäßig nicht dazu, dass ein Asylbewerber sich nicht gegen eine Überstellung in einen solchen Staat wehren kann. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits zu Art. 16a GG ausgeführt hat, könne sich - im seltenen Ausnahmefall - aus allgemein bekannten oder im Einzelfall offen zutage tretenden Umständen ergeben, dass der Drittstaat sich - etwa aus Gründen besonderer politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat - von seinen mit dem Beitritt zu der EMRK und GFK eingegangenen und von ihm generell auch eingehaltenen Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigt. Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor, wenn die ihn begründenden Umstände sich schon im Kontakt zwischen deutschen Behörden und Behörden des Drittstaates ausräumen lassen (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49-114 juris Rn. 189).

Damit wird ein Asylbewerber nicht rechtsschutzlos gestellt. Im vorliegenden Fall spricht Überwiegendes dafür, dass in Italien systemische Mängel bei den Aufnahmebedingungen vorliegen. Daher hält es das Gericht für angezeigt, dass die Antragsgegnerin mit den zuständigen Behörden der Republik Italien Kontakt aufnimmt, um auf die Beseitigung der aufgezeigten Probleme hinzuwirken.

g) Sollte sich im Hauptsacheverfahren herausstellen, dass die Mängel des italienischen Asylverfahrens vorübergehender Natur sind, also in einem überschaubaren Zeitraum behoben werden könnten, wäre mit Blick auf das Vergewisserungskonzept des Bundesverfassungsgericht zu prüfen, ob zum Entscheidungszeitpunkt im Sinne des § 34a Abs. 1 AsylVfG feststeht, dass alle Abschiebungsvoraussetzungen vorliegen und ob die Antragsgegnerin sich bemüht, die Voraussetzungen zu schaffen (dazu BVerfG, Beschlüsse vom 17. September 2014, aaO, S. 6 bzw. 8). [...]