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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 10.09.2014 - C-383/13, M.G. u. N.R. gegen Niederlande - asyl.net: M22308
https://www.asyl.net/rsdb/M22308
Leitsatz:

Das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer in einem Verwaltungsverfahren unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossenen Verlängerung einer Haftmaßnahme betraut ist, die Haftmaßnahme nur dann aufheben darf, wenn es aufgrund aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles der Ansicht ist, dass dieser Verstoß demjenigen, der sich darauf beruft, tatsächlich die Möglichkeit genommen hat, sich in solchem Maße besser zu verteidigen, dass dieses Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, rechtliches Gehör, Akteneinsicht, Rückführungsrichtlinie, Abschiebungshaft, Freiheitsentziehung, Verlängerung, Haftbeschluss, Rechtswidrigkeit, Anhörung, Sicherungshaft,
Normen: AEUV Art. 267, RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 2, RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 6,
Auszüge:

[...]

Zum Vorabentscheidungsersuchen

Zum Eilverfahren

22 Der Raad van State hat nach Art. 267 Abs. 4 AEUV und Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

23 Das vorlegende Gericht hat diesen Antrag damit begründet, dass die Kläger in den von ihm zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten inhaftierte Drittstaatsangehörige seien und dass ihre Situation in den Geltungsbereich der Bestimmungen von Titel V des AEU-Vertrags über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts falle. Sollte die erste Frage bejaht werden, sei die Haft unverzüglich aufzuheben. Sollte die erste Frage verneint werden, bedeute dies, dass Spielraum für eine Interessenabwägung bestehe und der Raad van State diese dann konkret durchzuführen und zügig zu entscheiden habe, ob sie zur Aufhebung der Haft führen müsse.

24 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Richtlinie 2008/115 betrifft, die unter Titel V im dritten Teil des AEU-Vertrags fällt. Es ist daher geeignet, dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 der Verfahrensordnung unterworfen zu werden.

25 Zweitens ist den Klägern des Ausgangsverfahrens, wie das vorlegende Gericht hervorhebt, derzeit die Freiheit entzogen, und die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten kann bewirken, dass dieser Freiheitsentzug unverzüglich beendet wird.

26 Aus diesen Gründen hat die Zweite Kammer des Gerichtshofs am 11. Juli 2013 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

Zu den Vorlagefragen

27 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115, dahin auszulegen ist, dass die Haft unverzüglich zu beenden ist, wenn in einem Verwaltungsverfahren die Verlängerung einer Haftmaßnahme unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossen wurde, oder ob das mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Verlängerungsentscheidung betraute Gericht die Haft aufrechterhalten kann, wenn es nach Abwägung der betroffenen Belange der Ansicht ist, dass sie gerechtfertigt bleibt.

28 Das vorlegende Gericht sieht es als erwiesen an, dass unter den Gegebenheiten der bei ihm anhängi - gen Rechtsstreitigkeiten die Entscheidungen, mit denen die Haft verlängert wurde, unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ergangen sind. Der Gerichtshof hat sich daher im Rahmen des vorliegenden Eilvorabentscheidungsverfahren nicht zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen für einen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu äußern, sondern dem vorlegenden Gericht nur mitzuteilen, welche Folgen das Unionsrecht an einen solchen Verstoß knüpft.

29 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Richtlinie 2008/115 in Kapitel III ("Verfahrensgarantien") die Formerfordernisse für Abschiebungsentscheidungen festlegt – die u. a. schriftlich ergehen und eine Begründung enthalten müssen – und die Mitgliedstaaten verpflichtet, wirksame Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen einzuführen. In Kapitel IV, das die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung betrifft, sieht die Richtlinie u. a. in Art. 15 Abs. 2 vor, dass die Inhaftnahme von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde schriftlich und unter Angabe der der Haftentscheidung zugrunde liegenden sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet wird, und regelt die Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung solcher Entscheidungen, sofern sie von der Verwaltungsbehörde erlassen werden. Außerdem bestimmt Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freizulassen sind, wenn die Inhaftnahme nicht rechtmäßig ist.

30 Weiter ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 die Mitgliedstaaten zwar ermächtigt, die Haftdauer für die Zwecke der Abschiebung bei Vorliegen bestimmter materieller Voraussetzungen im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate zu verlängern, doch enthält diese Bestimmung keinerlei Verfahrensvorschrift.

31 Daher ist festzustellen, dass die Verfasser der Richtlinie 2008/115 zwar die Garantien, die den betroffenen Drittstaatsangehörigen sowohl hinsichtlich der Abschiebungsentscheidung als auch hinsichtlich der Haftentscheidung gewährt werden, detailliert regeln wollten, doch haben sie weder festgelegt, ob und unter welchen Bedingungen der Anspruch der Drittstaatsangehörigen auf rechtliches Gehör zu wahren ist, noch, welche Konsequenzen aus einer Missachtung dieses Anspruchs zu ziehen sind, sieht man von dem allgemeinen Erfordernis der Freilassung bei Rechtswidrigkeit der Haft ab.

32 Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Verteidigungsrechte, die den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht umfassen, zu den Grundrechten, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung und in der Charta verankert sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u.a./Kadi, C-584/10 P, C-593/10 P und C-595/10 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 98 und 99 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Rechte sind auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung solche Verfahrensrechte nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2012, M., C-277/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33 Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass Grundrechte wie das Recht auf Beachtung der Verteidigungsrechte nicht schrankenlos gewährleistet sind, sondern Beschränkungen unterworfen werden können, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 15. Juni 2006, Dokter u. a., C-28/05, Slg. 2006, I-5431, Randnr. 75).

34 Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist zudem anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2011, Solvay/Kommission, C-110/10 P, Slg. 2011, I-10439, Randnr. 63), insbesondere anhand des Inhalts des betreffenden Rechtsakts, des Kontexts seines Erlasses sowie der Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil Kommission u. a./Kadi, Randnr. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35 Die Pflicht zur Wahrung der Verteidigungsrechte der Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, ist somit grundsätzlich den Verwaltungen der Mitgliedstaaten auferlegt, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen. Sind wie im vorliegenden Fall weder die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu gewährleisten ist, noch die Folgen der Missachtung dieser Rechte unionsrechtlich festgelegt, richten sich diese Bedingungen und Folgen nach nationalem Recht, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Randnr. 38, und vom 19. Mai 2011, Iaia u. a., C-452/09, Slg. 2011, I-4043, Randnr. 16).

36 Deswegen steht es den Mitgliedstaaten zwar frei, die Ausübung der Verteidigungsrechte von Drittstaatsangehörigen nach denselben Modalitäten zu erlauben, wie sie für innerstaatliche Sachverhalte festgelegt sind, doch müssen diese Modalitäten im Einklang mit dem Unionsrecht stehen und dürfen insbesondere die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115 nicht in Frage stellen.

37 Die Mitgliedstaaten müssen demnach den Gesamtzusammenhang der Rechtsprechung zur Wahrung der Verteidigungsrechte und des Systems der Richtlinie 2008/115 beachten, wenn sie im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie die Bedingungen festlegen, unter denen die Wahrung des Anspruchs illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger auf rechtliches Gehör zu gewährleisten ist, und die Konsequenzen aus einer Missachtung dieses Anspruchs ziehen.

38 Angesichts der Fragen des vorlegenden Gerichts ist hervorzuheben, dass nach dem Unionsrecht eine Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, nur dann zur Nichtigerklärung der Entscheidung führt, die am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassen wird, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile vom 14. Februar 1990, Frankreich/Kommission, C-301/87, Slg. 1990, I-307, Randnr. 31, vom 5. Oktober 2000, Deutschland/Kommission, C-288/96, Slg. 2000, I-8237, Randnr. 101, vom 1. Oktober 2009, Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware/Rat, C-141/08 P, Slg. 2009, I-9147, Randnr. 94, und vom 6. September 2012, Storck/HABM, C-96/11 P, Randnr. 80).

39 Somit kann nicht jede Regelwidrigkeit bei der Ausübung der Verteidigungsrechte während eines Verwaltungsverfahrens, das die Verlängerung der Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke seiner Abschiebung betrifft, eine Verletzung dieser Rechte darstellen. Folglich führt auch nicht jeder Verstoß insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör systematisch zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 der Richtlinie 2008/115, die automatisch die Freilassung des betroffenen Drittstaatsangehörigen erforderlich macht.

40 Um eine solche Rechtswidrigkeit festzustellen, obliegt es nämlich dem nationalen Gericht, falls seines Erachtens eine den Anspruch auf rechtliches Gehör beeinträchtigende Regelwidrigkeit vorliegt, zu prüfen, ob das fragliche Verwaltungsverfahren unter den speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umständen des konkreten Falles zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, weil die betroffenen Drittstaatsangehörigen Gesichtspunkte hätten geltend machen können, die geeignet gewesen wären, die Beendigung ihrer Haft zu rechtfertigen.

41 Würde dem nationalen Gericht kein solcher Beurteilungsspielraum zuerkannt und vorgeschrieben, dass jede Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör automatisch zur Aufhebung der Haftverlängerungsentscheidung und zur Beendigung der Haft führt, obwohl sich eine solche Regelwidrigkeit in der Praxis möglicherweise nicht auf die Verlängerungsentscheidung auswirkt und die Haft die materiell-rechtlichen Voraussetzungen von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 erfüllen würde, könnte die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigt werden.

42 Zum einen ist nämlich zu beachten, dass mit der Richtlinie 2008/115 nach ihrem zweiten Erwägungsgrund eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung ihrer Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. Ebenso soll nach dem 13. Erwägungsgrund der Richtlinie der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich nicht nur dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern auch dem der Wirksamkeit unterliegen.

43 Zum anderen hat die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach dem System der Richtlinie 2008/115 Priorität für die Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 38).

44 Die Kontrolle durch das nationale Gericht in Bezug auf eine gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör während eines Verwaltungsverfahrens zum Erlass einer Haftverlängerungsentscheidung im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 hat daher darin zu bestehen, dass anhand der speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles geprüft wird, ob die Verfahrensfehler denjenigen, die sich auf sie berufen, tatsächlich die Möglichkeit genommen haben, sich in solchem Maße besser zu verteidigen, dass dieses Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

45 Nach alledem ist auf die Fragen zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115, dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer in einem Verwaltungsverfahren unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossenen Verlängerung einer Haftmaßnahme betraut ist, die Haftmaßnahme nur dann aufheben darf, wenn es aufgrund aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles der Ansicht ist, dass dieser Verstoß demjenigen, der sich darauf beruft, tatsächlich die Möglichkeit genommen hat, sich in solchem Maße besser zu verteidigen, dass dieses Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. [...]