VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 19.09.2014 - M 24 K 14.50343 - asyl.net: M22266
https://www.asyl.net/rsdb/M22266
Leitsatz:

Trotz der durch die bulgarischen Behörden unternommenen Fortschritte verbleiben Schwachstellen im bulgarischen Asylsystem, die systemische Mängel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO darstellen.

Schlagwörter: Bulgarien, systemische Mängel, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Obdachlosigkeit, Aufnahmebedingungen, UNHCR,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

2.5.2. Im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) sprechen die verfügbaren Erkenntnismittel nach summarischer Prüfung dafür, dass das bulgarische Asylsystem systemische Mängel i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO aufweist.

Grundlegend ist der Bericht des UNHCR "Bulgaria as a Country of Asylum - UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria April 2014" (UNHCR-Bericht 04/2014). Dieser Bericht ist nach Bekunden des UNHCR ein update zum vorausgegangenen Bericht des UNHCR vom Januar 2014 (UNHCR-Bericht 01/2014), in dem noch eine generelle Aussetzung aller Dublinüberstellungen an Bulgarien empfohlen wurde. Der UNHCR-Bericht 04/2014 hält unter anderem fest, dass in Bulgarien seit Jahresbeginn 2014 zahlreiche Verbesserungen hinsichtlich der Aufnahmebedingungen und hinsichtlich des Asylverfahrensablaufes festzustellen sind. Deshalb schlussfolgert der UNHCR-Berlcht 04/2014, dass eine generelle Aussetzung aller Dublinüberstellungen an Bulgarien nicht länger gerechtfertigt sei (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 17 dritter Absatz). Gleichzeitig betont der UNHCR aber auch, dass trotz der durch die bulgarischen Behörden unternommenen Fortschritte fortdauernde Schwachstellen im bulgarischen Asylsystem verbleiben, die auch angesprochen werden, namentlich unangemessene Aufnahmebedingungen in zwei von sieben Aufnahmeeinrichtungen, mangelnde Vorkehrungen, um Personen mit speziellen Bedürfnissen - insbesondere bei Kindern - zu erkennen und deren Bedürfnisse vor Ort geltend zu machen, sowie qualitative Defizite im Asylverfahren selbst (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 17 zweiter Absatz; vgl. auch S. 7 viertletzter Absatz). Für bestimmte Gruppen oder Einzelpersonen empfiehlt der UNHCR nach wie vor, von einer Überstellung an Bulgarien abzusehen (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 1 dritter Absatz und S. 17 zweiter Absatz). Dabei zeigt sich der UNHCR besorgt hinsichtlich der Frage der Nachhaltigkeit der Anstrengungen auf mittlere und lange Sicht (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 1 vierter Absatz und S. 16 erster Absatz); er betont, dass es "essentiell" sei, dass die Verbesserungen konsolidiert und nachhaltig angewandt werden (vgl. UNHCR-Bericht 04/2014, S. 17 erster Absatz). Auch stellt der UNHCR fest, dass ein Teil der Verbesserungen in Bulgarien auf ad-hoc-Maßnahmen beruht, die hauptsächlich von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) oder seitens der bulgarischen Zivilgesellschaft erfolgten, bei denen jedoch keineswegs sichergestellt ist, dass sie von der staatlichen bulgarischen Flüchtlingsagentur (State Agency for Refugees - SAR) übernommen und fortgeführt werden (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 16 zweiter Absatz). Der UNHCR stellt dabei einen Zusammenhang her zwischen den festgestellten Verbesserungen einerseits und der seit November 2013 vom bulgarischen Staat vorgenommenen Zurückschiebungspraxis an der bulgarischen Grenze zur Türkei andererseits, die zu einem "drastischen Rückgang" der Ankünfte von Asylbewerbern geführt habe: Dieser Rückgang der Asylbewerberzahlen habe die staatlichen Behörden in die Lage versetzt, sich auf Aufnahmeengpässe und auf das Asylsystem zu konzentrieren (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 16 vierter Absatz). Der UNHCR bemerkt deshalb, dass die bulgarischen Behörden zusätzliche Herausforderungen zu meistern hätten, wenn in Zukunft die Zahl der Asylbewerber steigen sollte, sei es durch höhere Neuankünfte oder auch durch Überstellungen innerhalb des Dublin-Systems (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 16 fünfter Absatz). Der UNHCR will deshalb zeitnah die Entwicklungen in Bulgarien beobachten (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 17 fünfter Absatz).

Der UNHCR führt aus (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 14 dritter Absatz), dass am 31. März 2014 eine Zahl von 1.433 Überstellungsanfragen an Bulgarien (614 hinsichtlich Rücküberstellung; 819 hinsichtlich Übernahme) anhängig gewesen sei, die sich nach Auffassung des UNHCR in den kommenden Monaten noch erhöhen könnte. Nach Ansicht des UNHCR würde nur eine effektive Ausweitung der SAR-Aufnahmekapazitäten auf 6.000 Personen bis Ende April 2014 eine erneute Überforderung des bulgarischen Aufnahmesystems verhindern, wenn die angefragten Rücküberstellungen tatsächlich ausgeführt würden (UNHCR-Bericht 04/2014, S. 14 dritter Absatz).

Die im Internet veröffentlichten Aussagen von NGO fallen hinsichtlich des bulgarischen Asylsystems nicht günstiger aus als die Einschätzung des UNHCR. Amnesty International kommt in seinem Bericht "Suspension of Returns of Asyl-Seekers to Bulgaria must Continue" vom März 2014 trotz festgestellter Verbesserungen zu dem Schluss, dass weiterhin eine allgemeine Aussetzung der Überstellung an Bulgarien angezeigt sei. In den Internet-Auftritten von bordermonitoring.eu/category/bulgaria vom 23. April 2014 und proasyl.de/de/news/detail/news/bulgarien vom 25. April 2014 wurde über die Push-Back-Operationen Bulgariens berichtet. Der European Council an Refugees and Exiles (ecre.org/component/content/article/70-weekly-bulletin-articles/...) berichtete am 4. April 2014, dass die EU-Kommission gegenüber Bulgarien ein Vertragsverletzungsverfahren wegen möglicher Zurückweisungen syrischer Flüchtlinge an der Grenze eingeleitet und Bulgarien förmlich zur Stellungnahme hierzu aufgefordert habe. Am 19. Mai 2014 berichtete auch Human Rights Watch, dass die EU-Kommission erste aktive Schritte gegen Bulgarien wegen der Push-backs von Syrern unternommen habe (hrw.org/news/2014/05/19/bulgaria-s-ugly-containing-refugee-crisis ...). Auch die von Bordermonitoring.eu herausgegebene Veröffentlichung: Trapped in Europe's Quagmire: The situation of asylum seekers and refugees in Bulgaria (Stand: Juli 2014; verfasst von: Tsvetelina Hristova, Raia Apostolova, Neda Deneva, Mathias Fiedler, abrufbar unter: bulgaria.bordermonitoring.eu/2014/07/07/trapped-in-europes-quagmire/) kritisiert das bulgarische Asylsystem und empfiehlt - unter anderem im Hinblick auf überfüllte Lager und Obdachlosigkeit (a.a.O., S. 14 ff.) und Angriffe auf Flüchtlinge (a.a.O., S. 27 ff.) sowie angesichts inadäquater medizinischer Hilfe und des Risikos willkürlicher Haft (a.a.O., S. 40) - einen Stopp von Rückführungen nach Bulgarien (a.a.O., S. 40).

2.5.3. In der Zusammenschau der Erkenntnisse ergibt sich, dass der gegenwärtige Zustand des bulgarischen Asylsystems derart fragil ist, dass gerade auch hinzutretende Rücküberstellungsmaßnahmen im Rahmen des Dublin-Systems, zu denen auch die vorliegend streitgegenständliche Abschiebungsanordnung gehört, mit dazu beitragen würden, bestehende innersystemische Schwachstellen des bulgarischen Asylsystems - etwa hinsichtlich der Verfahrenslänge oder der Aufnahmebedingungen - zu verstärken. Dabei ist insbesondere zu sehen, dass nach dem UNHCR-Bericht 04/2014 letztlich gerade auch die gesteuerte Asylzugangsabschottung Bulgariens mittelbar maßgeblichen Einfluss darauf hatte, dass der UNHCR-Bericht 04/2014 von der früheren Empfehlung im Januar-Bericht des UNHCR, generell keine Überstellungen an Bulgarien durchzuführen, Abstand genommen hat. Eben diese Verfahrensweise ist nach veröffentlichten NGO-Berichten aber ihrerseits Gegenstand eines von der EU-Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens geworden. Dabei ist zu sehen, dass seit Erscheinen des UNHCR-Berichts 04/2014 rund weitere fünf Monate vergangen sind, ohne dass hinreichend gesicherte Hinweise ersichtlich wären, dass Bulgarien seither die vom UNHCR beschriebenen erforderlichen weiteren Anstrengungen erfolgreich abgeschlossen und nachhaltig implementiert hätte.

2.5.4. Vor dem Hintergrund der dargestellten Erkenntnismittellage lässt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) mit hinreichender Sicherheit prognostizieren, dass systemische Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 i.V.m. Art. 4 GRCh vorliegen (im Ergebnis ebenso bereits VG München U.v. 30.7.2014 - M 24 K 14.50321; VG München U.v. 30.7.2014 - M 24 K 14.50335). Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass sich in der Zeit seit der Veröffentlichung der genannten Erkenntnismittel bis zur vorliegenden Entscheidung die erforderliche Stabilisierung im bulgarischen Asylsystem ergeben hätte. Die genannten fachkundigen Institutionen haben ihre nach wie vor kritischen Aussagen nicht relativiert, insbesondere hat der UNHCR keinen allgemeinen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorginge, dass er nunmehr von einer hinreichenden Stabilisierung des bulgarischen Asylsystems ausgehe. Der streitgegenständliche Bescheid setzt sich weder mit der aktuellen Rechtslage noch mit den tatsächlichen Verhältnissen in Bulgarien, wie sie in den genannten aktuellen Erkenntnismitteln dargestellt werden, substantiiert auseinander. Auch hat die Beklagtenseite im gerichtlichen Verfahren nicht ansatzweise vorgetragen, dass sich insoweit Verbesserungen ergeben hätten. Das Gericht sieht deshalb im Hinblick auf die seit nunmehr rund fünf Monaten unveränderte neuere Erkenntnismittellage gegenüber dem bulgarischen Asylsystem (s.o.) sowie im Hinblick darauf, dass die Beklagtenseite hiergegen auch auf das gerichtliche Anhörungsschreiben vom 16. Juli 2014 hin nicht substantiiert zur Frage zwischenzeitlicher Veränderungen im ungarischen Asylsystem vorgetragen hat, keinen Anlass für ergänzende Anfragen bei den genannten Stellen dahin, ob von deren kritischer Haltung abgerückt wird. [...]