VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 02.10.2014 - 10a L 1415/14.A - asyl.net: M22263
https://www.asyl.net/rsdb/M22263
Leitsatz:

Nach Erkenntnissen des UNHCR spricht Einiges dafür, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Ungarn grundsätzlich ohne Angaben von Gründen und ohne eine Prüfung ihrer individuellen Umstände inhaftiert werden, sonstige Asylbewerber grundsätzlich jedenfalls dem Risiko einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt sind und beide Gruppen mangels wirksamer Rechtsschutzmöglichkeiten die Anordnung der Haft bzw. die Haftfortdauer nicht mit Aussicht auf Erfolg überprüfen lassen können.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Selbsteintritt, Ungarn, systemische Mängel, Inhaftierung, Dublin-Rückkehrer, Aufnahmebedingungen, Asylsystem, Asylhaft,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Eine Verdichtung des Selbsteintrittsrechts eines Mitgliedsstaates zu einer entsprechenden Pflicht kommt daher nur in Betracht, wenn ein vom "Konzept der normativen Vergewisserung" bzw. dem "Prinzip des gegenseitigen Vertrauens" nicht aufgefangener Sonderfall offensichtlich vorliegt.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung, vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG, lässt sich die Frage, ob bei dem ungarischen Asylsystem systemische Schwachstellen im vorgenannten Sinne bestehen und ob die Klage gegen die Abschiebungsanordnung deshalb Erfolg haben könnte, nicht mit hinreichender Sicherheit prognostizieren, vielmehr erscheint diese Frage offen. Die von der Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid vom 3. September 2014 in diesem Zusammenhang angeführte Rechtsprechung hat aktuelle Erkenntnismittel noch nicht berücksichtigt: Das Schreiben des UNHCR vom 9. Mai 2014 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf, der Bericht des Hungarian Helsinki Committee zur Asylhaft und zu den Dublin-Verfahren in Ungarn (Stand Mai 2014) sowie der Ungarn-Länder-Bericht des Asylum Information Database - AIDA -, Stand 30. April 2014. Diesen Erkenntnismitteln lassen sich insbesondere zur Inhaftierungspraxis Ungarns im Zusammenhang mit Asylfällen - gerade auch bei Dublin-Rückkehrern - diverse schwerwiegende Kritikpunkte entnehmen. Das Gericht schließt sich diesbezüglich den in den Beschlüssen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 28. Mai 2014 - 13 L 172/14.A - und vom 16. Juni 2014 - 13 L 141/14.A -, jeweils juris, zur derzeitigen Asyl- und lnhaftierungspraxis Ungarns ausführlich getroffenen Feststellungen, auf die Bezug genommen wird, an.

Nach diesen aktuellen Erkenntnismitteln, denen hohes Gewicht beizumessen ist, spricht Einiges dafür, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Ungarn grundsätzlich ohne Angabe von Gründen und ohne eine Prüfung ihrer individuellen Umstände inhaftiert werden, sonstige Asylbewerber grundsätzlich jedenfalls dem Risiko einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt sind und beide Gruppen mangels wirksamer Rechtsschutzmöglichkeiten die Anordnung der Haft bzw. die Haftfortdauer nicht mit Aussicht auf Erfolg überprüfen lassen können (vgl. ebenso: VG München, Beschluss vom 26. Juni 2014 - M 24 S 14.50325 -, juris.

Da die Frage, ob das Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn derzeit mit systemischen Mängeln behaftet ist, jedenfalls als offen und in einem Hauptsacheverfahren als klärungsbedürftig angesehen werden muss, ist dem Antragsteller zunächst vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren. Denn die angesichts der offenen Erfolgsaussichten der Hauptsache gebotene eigene gerichtliche Interessenabwägung fällt zugunsten des Suspensivinteresses des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung hat gegenüber dem Anspruch des Antragstellers auf einen Schutz entsprechend den im Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbarten Mindeststandards zurückzutreten (vgl. auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 23. September 2014 - 13a L 1414/14.A -; VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 27. August 2014 - 14 L 1786/14.A -, vom 16. Juni 2014 - 13 L141/14.A - und vom 28. Mai2014 - 13 L 172/14.A -; VG München, Beschlüsse vom 26. Juni 2014 - M 24 S 14.50325 -, vom 22. April 2014 - M 24 S 13.31311 - und vom 15. April 2014 - M 16 S 14.50049 -; VG Stuttgart, Beschluss vom 26. Juni 2014 - A 11 K 387/14 -; VG Oldenburg, Beschluss vom 18. Juni 2014 - 12 B 1238/14 -; (sämtlich abrufbar in juris); VG Sigmaringen, Beschluss vom 14. Juli 2014 - A 1 K 254/14 -; VG Karlsruhe Beschluss vom 25. Juli 2014 - A 9 K 3480/13 -. [...]