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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 15.05.2002 - 2 BvR 2292/00 - asyl.net: M2222
https://www.asyl.net/rsdb/M2222
Leitsatz:

Aus Art. 104 Abs. 2 GG folgt für den Staat die Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters - jedenfalls zur Tageszeit - zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen.

Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG setzt dem Festhalten einer Person ohne richterliche Entscheidung mit dem Ende des auf das Ergreifen folgenden Tages eine äußerste Grenze, befreit aber nicht von der Verpflichtung, eine solche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Ausweisung, Abschiebung, Festnahme, Polizei, Gewahrsam, Freiheitsentziehung, Richterliche Anordnung, Haftrichter, Richtervorbehalt
Normen: GG Art. 104 Abs. 2; GG Art. 104 Abs. 2 S. 3; AuslG § 42 Abs. 7; FEVG § 13
Auszüge:

 

Für den schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerwGE 10, 302 <323>). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. zu Art. 13 Abs. 2 GG BVerwGE 103, 142 <151 ff.>). Für den Staat folgt daraus die verfassungsrechtliche Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters - jedenfalls zur Tageszeit (vgl. etwa § 188 Abs. 1 ZPO, § 104 Abs. 3 StPO) - zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen (vgl. BVerfG, a. a. O., S. 156). Gemäß Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG hat über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung nur der Richter zu entscheiden. Die Freiheitsentziehung setzt danach grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung voraus (vgl. nur BVerwGE 10, 302 <321>; 22, 311 <317>; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Art. 104 Rn. 23; Grabitz, Freiheit der Person, in: HStR VI, § 130 Rn. 25). Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 GG voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. BVerwGE 22, 311 <317>; Rüping, in: Bonner Kommentar (BK), Art. 104 Rn. 63; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 104 Rn. 41; Grablitz, a. a. O.). Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG fordert dann, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen (vgl. BVerwGE 10, 302 <321> Grabitz a. a. O.). "Unverzüglich" ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (vgl. BVerwGe 45, 51 <63>; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 38; Rüping, in: BK, Art. 104 Rn.65; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 104 Rn. 42; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Strack, GG, 4. Aufl., Art. 104 Rn. 47; Grabitz, a. a. O.). Nicht vermeidbar sind z. B. die Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind (vgl. Dürig, a. a. O.). Die fehlende Möglichkeit einen Richter zu erreichen, kann angesichts der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates, der Bedeutung des Richtervorbehalts durch geeignete organisatorische Maßnahmen Rechnung zu tragen, nicht ohne Weiteres als unvermeidbares Hindernis für die unverzügliche Nachholung der richterlichen Entscheidung gelten (vgl. BVerwGE 103, 142 <151ff., 156>). Die Nachholung der richterlichen Entscheidung ist auch dann nicht entbehrlich, wenn der Freiheitsentzug vor Ablauf der Frist des Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG endet. Diese Vorschrift setzt dem Festhalten einer Person ohne richterliche Entscheidung mit dem Ende des auf das Ergreifen folgenden Tages eine äußertste Grenze (vgl. BVerwGE 83, 24 <33>), befreit aber nicht von der Verpflichtung, eine solche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen (vgl. KG, Beschluss vom 11. April 1968, DVBI 1968, S. 470; Podlech, in: AK-GG, 2001, Art. 104 Rn. 36 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Art. 104 Rn. 42; Rüping, in: BK, art. 104 Rn. 66; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 4. Aufl., Art. 104 Rn. 58; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 39).

Mit der Abschiebung des Beschwerdeführers ging hier eine Freiheitsentziehung einher. Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG forderte, die vor der Inhaftnahme des Beschwerdeführers nicht eingeholte richterliche Anordnung unverzüglich nachzuholen. Dass diesem Verfassungsgebot hier genügt worden ist, wird durch die getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht belegt. Amtsgericht und Landgericht haben nicht hinreichend geklärt und geprüft, warum hier wegen der gegen den Beschwerdeführer ergriffenen Maßnahme der Freiheitsentziehung auch nachträglich keine richterliche Entscheidung ergangen ist. Weder wurde ermittelt, welche Anstrengungen unternommen worden sind, einen Richter zu erreichen, noch wurde aufgeklärt, welche Vorkehrungen für die Erreichbarkeit eines Richters getroffen worden waren. Der bloße Hinweis auf den "Dienstschluss" des zuständigen Amtsgerichts reicht nicht aus, weil es allgemein festgelegte Dienstzeiten für Richter nicht gibt.