OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 17.06.2014 - 4 PA 84/14 - asyl.net: M22219
https://www.asyl.net/rsdb/M22219
Leitsatz:

Eine ausnahmsweise zu beachtende aufenthaltsrechtliche Wirkung des Art. 64 Abs. 1 des Europa Mittelmeer Abkommens mit Tunesien dürfte unter Geltung des Zuwanderungsgesetzes nicht in Betracht kommen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Europa-Mittelmeer-Abkommen, Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommen, Tunesien, Aufenthaltsrecht, nachträgliche Befristung, Diskriminierungsverbot, EuGH, Gatoussi, Verkürzung der Geltungsdauer, Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft, Trennung, Ehebestandszeit,
Normen: EMA Art. 64 Abs. 1, EMA/Tunesien Art. 64 Abs. 1, AuenthG § 7 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des Klägers nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG dürfte auch nicht gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits vom 17. Juli 1995 (ABl. EG 1998 Nr. L 97, S. 2) verstoßen. Nach Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien gewährt jeder Mitgliedstaat den Arbeitnehmern tunesischer Staatsangehörigkeit, die in seinem Hoheitsgebiet beschäftigt sind, eine Behandlung, die hinsichtlich der Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen bewirkt. Bereits aus dem Wortlaut ergibt sich, dass diese Vorschrift nicht der Regelung des Aufenthaltsrechts tunesischer Staatsangehöriger dient. Daher ist es einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht untersagt, Maßnahmen in Bezug auf das Aufenthaltsrecht eines tunesischen Staatsangehörigen zu ergreifen, der zunächst die Erlaubnis zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat und zur Aufnahme einer Berufstätigkeit dort erhalten hat. Dass ein solches Vorgehen den Betroffenen zwingt, sein Arbeitsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat vor dem mit dem Arbeitgeber vertraglich vereinbarten Termin zu beenden, ändert daran grundsätzlich nichts (EuGH, Urt. v. 14.12.2006 - Rs. C-97/05, Gattoussi -, zitiert nach juris, Rn 35 bis 37). Allerdings kommt Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien nach der vorgenannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Ausnahmefällen eine aufenthaltsrechtliche Wirkung zu, da nicht angenommen werden könne, dass die Mitgliedstaaten über das Diskriminierungsverbot des Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien verfügen, indem sie dessen praktische Wirksamkeit durch Bestimmungen des nationalen Rechts beschränken. Daher ist Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien dahin auszulegen, dass er Wirkungen auf das Recht eines tunesischen Staatsangehörigen entfaltet, sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten, wenn dieser Staatsangehörige von diesem Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben (EuGH, a.a.O., Rn 39 und 43). Da der Kläger allein aufgrund der ihm nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt gewesen ist (vgl. § 27 Abs. 5 AufenthG) und damit nicht über eine zeitlich über die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis hinausgehende Arbeitsgenehmigung verfügt hat, dürfte unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen der nachträglichen Verkürzung der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis daher keine aufenthaltsrechtliche Wirkung des Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien zu beachten gewesen sein. Nach der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Prüfung besteht daher die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht insoweit nicht.

Der fehlenden hinreichenden Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung steht auch nicht der von dem Kläger in Bezug genommene Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Juni 2011 - 11 S 1305/11 - entgegen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in dieser Entscheidung des vorläufigen Rechtsschutzes offene Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs gegen die nachträgliche Befristung einer Aufenthaltserlaubnis in der Hauptsache zwar mit der Begründung angenommen, es spreche einiges dafür, dass dem Eingriff in ein bestehendes Aufenthaltsrecht das Diskriminierungsverbot des Art. 67 Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Algerien vom 22. April 2002 (ABl. EU 2005 Nr. L 265, S. 2), der insoweit inhaltsgleich mit Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien ist, entgegenstehe, und die Frage, ob und ggf. welche Schutzwirkung das Diskriminierungsverbot hinsichtlich der nachträglichen Verkürzung eines bereits erlaubten Aufenthalts entfalte, auch durch das Urteil des Bundesverwaltungsgericht vom 8. Dezember 2009 - 1 C 14.08 - nicht hinreichend geklärt sei, da es dort um den Problemkreis der Verlängerung bzw. Neuerteilung einer abgelaufenen Aufenthaltserlaubnis gegangen sei. Es ist mit der Beschwerde indes nicht vorgebracht worden und für den beschließenden Senat auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen bezüglich der aufenthaltsrechtlichen Wirkung des hier maßgeblichen Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien zwischen den Konstellationen der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, für die das Bundesverwaltungsgericht eine aufenthaltsrechtliche Wirkung des Diskriminierungsverbots ausdrücklich abgelehnt hat (Urt. v. 8.12.2009 - 1 C 14.08 -, BVerwGE 135, 325), und der Konstellation der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis zu unterscheiden sein soll. Den Gründen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sind keine Anhaltspunkte zu entnehmen, dass insoweit eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Fallkonstellationen geboten sein könnte. Dies folgt im Übrigen auch nicht aus der vorgenannten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 14. Dezember 2006. Die dortigen Ausführungen des Gerichtshofs gelten vielmehr ausdrücklich auch für den Fall, dass der Aufnahmestaat die Aufenthaltserlaubnis eines tunesischen Staatsangehörigen nachträglich befristet (EuGH, a.a.O., Rn 41). Auch bei einer Beschränkung des Aufenthaltsrechts in Form der nachträglichen Befristung einer Aufenthaltserlaubnis dürfte eine aufenthaltsrechtliche Wirkung des Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien daher nur dann zu berücksichtigen sein, wenn dem Ausländer in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen worden sind. Da mit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 Ausländer nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Erwerbstätigkeit nur ausüben dürfen, wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigt, und mit dem Wegfall der Aufenthaltserlaubnis ohne weiteres das gesetzliche Beschäftigungsrecht erlischt, so dass kein unbefristetes, von der Aufenthaltserlaubnis unabhängiges Beschäftigungsrecht des Ausländers besteht, dürfte eine ausnahmsweise zu beachtende aufenthaltsrechtliche Wirkung des Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien unter Geltung des Zuwanderungsgesetzes daher generell nicht (mehr) in Betracht kommen (ebenso Epe, in: GK-AufenthG, IX-2 FreizügG/EU, § 1 Rn 62; a. A. Dienelt, in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 7 Rn 36 ff.). [...]