VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 23.05.2014 - W 7 K 14.30072 - asyl.net: M22206
https://www.asyl.net/rsdb/M22206
Leitsatz:

Stellt das Bundesamt erst ein Jahr nach der Asylantragstellung ein Übernahmeersuchen, ohne dass für diese Verfahrensverzögerung aus den Akten ein Grund ersichtlich ist, ist eine Ermessensreduzierung auf Null bezüglich der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO vorzunehmen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Verfahrensdauer, unangemessen lange Verfahrensdauer, lange Bearbeitungszeit, Selbsteintritt, Ermessensreduzierung auf Null, EuGH, Puid, Übernahmeersuchen,
Normen: VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 20,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO und Durchführung des Asylverfahrens. Der Bescheid des Bundesamtes vom 20. Januar 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Das Gericht hat bereits in seinem Beschluss vom 3. Februar 2014 (Az. W 7 S 14.30073) ausführlich dargelegt, dass im Fall des Klägers eine unangemessen lange Verfahrensdauer vorliegt. Die Beklagte hat weder im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes noch im streitgegenständlichen Verfahren Ausführungen zur Ursache der langen Bearbeitungszeit gemacht, noch Ermessensausübungen dahingehend nachgeschoben, warum sie trotz der langen Verfahrensdauer davon absieht, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen.

Das Gericht hält daher an seiner im Sofortverfahren getroffenen Beurteilung fest, wo es ausführt:

"Art. 20 Dublin II-VO benennt keine (...) Frist für das Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 16 Abs. 1. Buchst. c - e Dublin II-VO. Das bedeutet jedoch nicht, dass es im Belieben des Bundesamtes steht bzw. stand (vgl. Art. 49 Dublin III-VO), wann ein solches Wiederaufnahmegesuch an den für zuständig erachteten Mitgliedsstaat zu richten ist bzw. war (vgl. Art. 49 Dublin III-VO). Dies folgt bereits aus dem vierten und 15. Erwägungsgrund der Verordnung. Der vierte Erwägungsgrund nennt als Ziel insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Nach dem 15. Erwägungsgrund steht die Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden und zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten. (...)

Die insoweit bis 31. Dezember 2013 anwendbare Dublin II-VO (vgl. hierzu Art. 49 UA 2 Dublin III-VO) bezweckt(e) danach nicht nur, Asylsuchende daran zu hindern, gleichzeitig oder nacheinander Asylanträge in verschiedenen Ländern der EU zu, stellen, sondern beinhaltet auch die Begründung von Vertrauensschutz für die Asylsuchenden im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens zur Prüfung der Zuständigkeit des für die Bearbeitung zuständigen Mitgliedsstaates (vgl. VG Göttingen, U.v. 25.7.2013 - 2 A 652/12 - juris; VG Würzburg, B.v. 11.12.2013 - W 7 S 13.30494). Die seit 1. Januar 2014 geltende Dublin III-VO konkretisiert diesen Zweck und sieht in Art. 23 Abs. 2 für Wiederaufnahmegesuche eine Frist von nur zwei Monaten (falls kein EURODAC-Treffer vorliegt, eine Dreimonatsfrist) vor.

Vorliegend ist der Antragsteller bereits Anfang Oktober 2012 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat am 29. November 2012 einen Asylantrag gestellt (vgl. Blatt 3 der Bundesamtsakte). Bereits seit dem 14. Januar 2013, zum Zeitpunkt, als die Akten an das Referat in Dortmund übersandt wurden (vgl. Blatt 31 der Bundesamtsakte), war der Antragsgegnerin bekannt, dass mehrere Eurodac-Treffer, darunter auch einer für Österreich, für den Antragsteller vorlagen. Es ist unerfindlich, weshalb das Bundesamt erst am 21. November 2013, also fast ein Jahr nach der Asylantragstellung im Bundesgebiet, ein Übernahmeersuchen an Österreich gerichtet hat. Aus der dem Gericht vorliegenden Bundesamtsakte sind keine Hinweise für solche Gründe erkennbar."

Das Gericht geht davon aus, dass im vorliegenden Fall eine Ermessensreduzierung auf Null bezüglich der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO besteht, sich das Ermessen also zu einer Verpflichtung auf Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland verdichtet hat. Es liegt eine erhebliche Verfahrensverzögerung von fast einem Jahr vor, für die aus den Akten kein Grund ersichtlich ist (für die Annahme einer unangemessenen Verfahrensverzögerung erst ab einem Untätigbleiben von deutlich über einem Jahr VG Stuttgart, U.v. 28.2.2014 - A 12 K 383/14 - juris Rn. 23). Eine erneute Prüfung der Zuständigkeitsfrage durch die Beklagte würde, die grundrechtliche Problematik (vgl. Art. 41 GR-Charta) durch einen nicht absehbaren weiteren Zeitaufwand verstärken (vgl. EuGH, U.v. 14.11.2013 - Puid, C-4/11 -- NVwZ 2014, 129/130 Rn. 35). Hinzu kommt, dass die Beklagte auch im gerichtlichen Verfahren keinerlei Gründe für die Verfahrensverzögerung geltend gemacht und auch von der Möglichkeit, Ermessenserwägungen nachzuschieben, die aus § 77 Abs. 1 AsylVfG folgt, keinen Gebrauch gemacht hat. [...]