OLG Celle

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Zitieren als:
OLG Celle, Beschluss vom 13.05.2014 - 1 Ws 216/14 (ASYLMAGAZIN 11/2014, S. 403 f.) - asyl.net: M22205
https://www.asyl.net/rsdb/M22205
Leitsatz:

Verfügt ein Ausländer über einen rechtmäßig erworbenen nationalen Aufenthaltstitel eines Schengen-Mitgliedstaates, das ihn zur Einreise als Tourist nach Deutschland berechtigt, liegt eine unerlaubte Einreise im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG auch dann nicht vor, wenn diese zum Zweck der illegalen Arbeitsaufnahme erfolgt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, Schengen-Staat, Schengen-Mitgliedstaat, Schengener Übereinkommen, unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, illegale Arbeitsaufnahme, Schwarzarbeit, Arbeit, Einschleusen von Ausländern, Straftat, Ausländerstrafrecht, Schengener Durchführungsübereinkommen, Schengener Grenzkodex,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 96 Abs. 1 Nr. 1 b, SDÜ Art. 21, VO 562/2006 Art. 5, SDÜ Art. 5 Abs. 1 c,
Auszüge:

[...] Hinsichtlich der Taten zu Ziffern 6. bis 12. liegt auf der Grundlage der sich derzeit aus den Akten ergebenden Erkenntnisse hingegen dringender Tatverdacht wegen Einschleusens von Ausländern nicht vor. Denn konkrete Indizien für eine wiederholte Hilfeleistung zu unerlaubten Einreisen mehrerer Ausländer (§ 96 Abs. 1 Nr. 1b i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) sind bislang nicht gegeben.

Der dringende Tatverdacht für ein Einschleusen von Ausländern läge demnach nur vor, wenn die Beschuldigte als Teilnehmerin einer Straftat vietnamesischer Staatsangehöriger nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG beteiligt gewesen ist, was aufgrund der wiederholten Handlung der Beschuldigten eine Täterschaft nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 b begründen könnte. Eine unerlaubte Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG liegt jedoch nur vor, wenn die vietnamesischen Staatsangehörigen entgegen § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AufenthG, also ohne im Besitz eines Passes oder eines Aufenthaltstitels gewesen zu sein, in das Bundesgebiet eingereist wären.

In den Fällen 6 bis 12 haben alle dort betroffenen vietnamesischen Staatsangehörigen über einen Aufenthaltstitel der tschechischen Behörden verfügt. Gemäß Art. 21 Abs. 1 SDÜ war es ihnen mithin gestattet, sich ohne weiteren Titel innerhalb des Schengen-Raums frei zu bewegen. Insoweit käme eine unerlaubte Einreise nur in Betracht, wenn die tschechischen Aufenthaltstitel selbst auf unlautere Weise erlangt worden wären (§ 95 Abs. 6 AufenthG; vgl. BGH NStZ, 2012, 644) oder die Motivation der Ausländer, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen, Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Einreise entfaltete. Zu ersterem verhält sich der dem Senat vorliegende Akteninhalt jedoch nicht. Teilweise sind die tschechischen Aufenthaltsgenehmigungen bereits deutlich älteren Datums als der Tag der Einreise nach Deutschland, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die vietnamesischen Staatsangehörigen den Entschluss, in Deutschland illegal zu arbeiten, erst zu einem Zeitpunkt gefasst haben könnten, an dem sie sich bereits mit einer gültigen Aufenthaltserlaubnis in Tschechien befunden haben. Hierfür spricht auch die Annahme, die Beschuldigte habe die Ausländer zur Reise nach Deutschland animiert, weil diese hier mehr als in Tschechien verdienen könnten. Inwieweit etwa die Aussage des V. Ti. V. (Ziffer 6.), unmittelbar nach Ankunft in Tschechien von der Beschuldigten nach Deutschland geholt worden zu sein, eine abweichende Beurteilung zulässt, müssen die weiteren Ermittlungen ergeben. Hierauf wird es auch für die Annahme des Schleusungstatbestandes entscheidend ankommen, da zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Einreise die Motivation, in Deutschland einer Beschäftigung nachzugehen, ansonsten außen vor bleiben muss. Zwar ist die Einreise nach Art. 21 SDÜ nur erlaubt, wenn der Ausländer die in Art. 5 Abs. 1 lit. a, c und e SDÜ (entspricht Art. 5 der EG-Verordnung Nr. 562/2006 - Schengener Grenzkodex -) genannten Voraussetzungen erfüllt. Danach darf der Ausländer u.a. keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen, worunter die Aufnahme einer illegalen Beschäftigung fallen könnte (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 4. Juni 2012, 22 L 613/12 - juris). Stellte man aber alleine darauf für eine Strafbarkeit des Ausländers nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ab, könnte von einem erforderlichen eindeutigen Auslegungsmaßstab im Sinne des verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheitsgrundsatzes von Strafbestimmungen nach Art. 103 Abs. 2 GG nicht gesprochen werden. Nicht nur lässt der Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung schon per se Interpretationsspielraum, er wird durch die Regelung des Art. 5 Abs. 1 lit. c SDÜ auch zusätzlich in der Erkennbarkeit seiner Bedeutung verwässert, weil darin ausdrücklich zugelassen wird, dass die Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts im Aufnahmemitgliedstaat rechtmäßig, gegebenenfalls also auch durch eine legale Erwerbstätigkeit erworben werden (vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 14. Dezember 2010, 7 K 851/10.F - juris). Dies hat zur Folge, dass für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Einreise es allein auf objektive Kriterien ankommen kann (vgl. so auch die Gesetzesbegründung in BR-Drs. 22/03, S. 164). Es ist daher allein darauf abzustellen, dass die betroffenen Ausländer über eine wirksame Einreisegenehmigung verfügt haben (vgl. BGH NJW 2005, 2095; Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 53). Dass der Gesetzgeber durch die Einführung von § 95 Abs. 6 AufenthG die Fälle der unlauteren Erlangung von Aufenthaltsgenehmigungen dem Fehlen einer solchen gleichgestellt hat, ist hier unerheblich. Der Gesetzgeber wollte dadurch sämtliche Fälle erfassen, in denen die strafbefreiende Genehmigung auf unlautere Weise erlangt worden ist (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 199). Daraus lässt sich folgern, dass außerhalb des Anwendungsbereichs des § 95 Abs. 6 AufenthG die Rechtsprechung des BGH (a.a.O.) fortwirkt und es bei einer erteilten Aufenthaltsgenehmigung in welcher Form auch immer auf die Motivation des Antragstellers bei seiner Einreise für die Frage eines strafbaren Verhaltens nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG nicht ankommt.

Liegt demnach ein dringender Tatverdacht hinsichtlich der Ziffern 6. bis 12. wegen Einschleusens von Ausländern in der Form des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG gegenwärtig nicht vor, schließt dies nicht aus, dass der Beschuldigten andere Taten vorgeworfen werden könnten. So kommt neben den Urkundsdelikten in Ziffer 6 und 7 (§§ 267, 276, 276a StGB) auch das Einschleusen von Ausländern in der Form des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in Betracht, da die Ermittlungen ergeben haben, dass die Beschuldigte den Ausländern die Beschaffung deutscher Papiere in Aussicht gestellt hat. Hierzu bedarf es indessen weiterer Ermittlungen. Dass die Beschuldigte die vietnamesischen Staatsangehörigen illegal beschäftigt hat, unterfällt dem Einschleusungstatbestand hingegen selbst dann nicht, wenn die Ermittlungen ergeben würden, dass die Beschuldigte für ihre Hilfeleistung Vorteile erhalten oder sich versprechen lassen hat (§ 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Denn die illegale Tätigkeit der Ausländer erfüllt lediglich einen Bußgeldtatbestand, nicht aber die Strafnorm des § 95 Abs. 1a AufenthG, der den Besitz eines Schengen-Visums erfordert. [...]