VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 24.04.2014 - M 4 K 13.30114 - asyl.net: M22196
https://www.asyl.net/rsdb/M22196
Leitsatz:

Homosexuelle Personen werden im Irak durch staatliche und nichtstaatliche Akteure verfolgt.

Schlagwörter: Irak, homosexuell, sexuelle Orientierung, soziale Gruppe,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die drohende Verfolgung Homosexueller im Irak ergibt sich aus dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln (vgl. umfassend dazu auch VG Sigmaringen U.v. 26.4.2010 - A 1 K 1911/09 - m.w.N.).

So führt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Oktober 2013 zu dieser Problematik folgendes aus (S. 15/16):

"Homosexualität (wird) weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur betrachtet. Homosexuelle leben ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sehen sich sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt. Es besteht ein hohes Risiko von sozialer Ächtung bis hin zu Verfolgung, Folter und Mord.

In dem seit 2003 gültigen irakischen Strafgesetzbuch stellen im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführte sexuelle Handlungen erwachsener Personen keinen Straftatbestand mehr dar. Die Vorschriften des Strafgesetzbuches lassen Staatsanwaltschaft, Polizei- und Sicherheitskräften jedoch Raum für diskriminierende Strafverfolgungsmaßnahmen, die regelmäßig zu einer Verurteilung von Homosexuellen führen. Darüber hinaus kam es immer wieder zu Angriffen auf Homosexuelle, insbesondere in Bagdad und dem schiitisch geprägten Süden des Landes. Im Frühjahr 2012 forderte eine Welle von Angriffen auf junge Iraker mehrere Todesopfer, denen als "Emos" Homosexualität und Teufelsanbetung unterstellt worden war. Für die Angriffe waren zwar allem Anschein nach nichtstaatliche Akteure verantwortlich. Den irakischen Polizei- und Sicherheitskräften wird aber vorgeworfen, wenig zur Aufklärung beizutragen."

Im Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe "Irak: Gefährdung von Homosexuellen/Sexuelle Übergriffe" vom 9. November 2009 heißt es auszugsweise (S. 1f.):

"Seit 2003 wurden Lesben, Homosexuelle, Bisexuelle und Transgender immer wieder diskriminiert, gefoltert und getötet. Gemäß den UNHCR Guidelines vom April 2009 gehören Homosexuelle zu den besonders gefährdeten Gruppen im Irak. (...) Schutz durch die irakischen Behörden gibt es nicht. Die irakische Regierung sieht die Tötung von Homosexuellen als nicht prioritäres Thema und das Justizministerium beurteilt die Gewalt gegen Homosexuelle als sehr selten. Toleranz gegenüber Homosexuellen ist nicht vorhanden und viele hochrangige Beamte negieren sogar die Existenz von Homosexuellen im Irak. Auch im Nordirak wird Homosexualität tabuisiert und als Widerspruch zu den religiösen und sozialen Normen gesehen. Das Ausleben offener homosexueller Beziehungen ist nicht möglich. Auch die Behörden im Nordirak gewähren keinen Schutz (...)."

Dem Bericht zufolge habe es seit 2003 480 bis 680 getöteten Homosexuellen gegeben; seit Anfang 2009 sei es zu einer regelrechten Terrorwelle gegen Homosexuelle gekommen (mehr als 130 Tote). Von der Polizei und den Behörden seien die Morde ignoriert worden, die Regierung gewähre den Tätern Immunität. Auch gehe die Polizei teilweise selbst mittels Verhaftungen, Folter und Ermordungen gezielt gegen Homosexuelle vor. Darüber hinaus fänden regelmäßig Ehrenmorde durch die Familie selbst statt, wenn diese vermute, dass ein Familienmitglied homosexuell sei. Dies sei eine allgemein akzeptierte Praxis in der irakischen Gesellschaft und führe für den Mörder allenfalls zu einer kurzen Gefängnisstrafe.

Auch der "Amnesty Report 2010, Irak" von Amnesty International führt aus, dass in den ersten Monaten des Jahres in Bagdad mindestens 25 Männer getötet worden seien, die homosexuell gewesen seien bzw. dafür gehalten worden seien, nachdem religiöse Führer dazu aufgerufen hätten, die Homosexualität auszurotten. Viele der Getöteten seien zuvor entführt und gefoltert worden, einige Leichen seien verstümmelt gewesen.

Aufgrund dieser Quellen lässt sich eine Verfolgung homosexueller Personen durch staatliche sowie durch nichtstaatliche Akteure im Irak feststellen; Homosexuellen können vor dieser Verfolgung im Heimatland auch keinen Schutz finden (vgl. auch VG Sigmaringen U.v. 26.4.2010 - A 1 K 1911/09). Die irakischen Behörden sind nicht gewillt, die derzeitige Diskriminierung, Verfolgung und Tötung von Homosexuellen zu unterbinden; die Verfolgung geht teilweise von den Polizisten selbst aus. Die Zahl der Getöteten zeigt dabei, dass es sich nicht nur um Einzelfälle handelt. Auch ist die Gefahr nicht regional begrenzt. Zwar geht aus den Erkenntnismitteln hervor, dass es besonders im Zentral- und Südirak zu Angriffen auf Homosexuelle gekommen ist, doch es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es auch im Nordirak zu Übergriffen kommt. Dies zeigt auch der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.10.2013, der anders als zum Beispiel für religiöse Minderheiten (vgl. S. 12, Situation der Christen) die Region Kurdistan-Irak hinsichtlich der Verfolgung von Homosexuellen nicht ausnimmt.

Auch das Bundesamt geht (wohl) davon aus, dass Homosexuelle im Irak verfolgt werden, da in der vom Gericht angeforderten Stellungnahme nur die sexuelle Orientierung des Klägers bezweifelt wird, nicht aber die Verfolgungsgefahr an sich.

2. Es kann vom Kläger auch nicht auch verlangt werden, dass er seine Homosexualität bei einer Rückkehr in sein Heimatland wieder geheim hält, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. dazu EuGH U. v. 7.11.2013 - C-119/12 bis 201/12, C-199/12, C-200/12, C-201/12 - juris). Denn auch wenn der Asylbewerber aus Furcht vor Verfolgung seine sexuelle Orientierung im Heimatland vor seiner Ausreise verheimlicht hat, kann dies von ihm nicht wieder erwartet werden. Von einem Homosexuellen kann insoweit auch nicht mehr Zurückhaltung als von einem Heterosexuellen erwartet werden (vgl. EuGH U.v. 7.11.2013 a.a.O.).

3. Das Gericht ist nach der Würdigung aller Umstände, insbesondere des persönlichen Eindrucks des Klägers in der mündlichen Verhandlung, sowie der Zeugenaussage der Überzeugung, dass der Kläger homosexuell ist.

Der Kläger schildert in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und detailreich,wie er das erste Mal mit 13 Jahren erkannt habe, "dass er Männer lieber habe als Frauen", wie er seinen jetzigen Partner in Deutschland kennengelernt habe und wie der gemeinsame Beziehungsalltag mit seinem Partner aussehe. Auch beschreibt er eindringlich den innerlichen Konflikt, den er all die Jahre wegen seiner Homosexualität gehabt habe und mit welchen Problemen er deswegen auch in der Familie konfrontiert gewesen sei. In diesem Zusammenhang erklärt er auch seine kurzzeitige Verlobung mit einer Frau in Deutschland absolut plausibel als Ausweg von den ständigen Heiratsvermittlungsversuchen seiner Schwester. Aufgrund dieser ausführlichen und detaillierten Angaben des Klägers zu seiner Homosexualität sowie zu seiner festen homosexuellen Beziehung mit dem Zeugen hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass der Kläger tatsächlich homosexuell ist.

Bestätigt wird dies zusätzlich durch die Angaben des Zeugen. Diese decken sich hinsichtlich des Kennenlernens und der Gestaltung der Beziehung vollumfänglich mit den Angaben des Klägers. Auch der Zeuge schildert das Kennenlernen und die homosexuelle Beziehung mit dem Kläger umfassend, detailliert und absolut glaubwürdig. Nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang auch, dass er die eidesstattliche Versicherung von Hand geschrieben hat, weil er diese persönlichen Umstände nicht seiner Sekretärin diktieren wollte. Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen und des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung sieht das Gericht keine Anhaltspunkte, an den Angaben des Zeugen zu zweifeln.

4. Als Homosexueller droht dem Kläger daher als Zugehöriger einer bestimmten sozialen Gruppe die Verfolgung in seinem Heimatland Irak, vgl. §§ 3 ff. AsylVfG. Es besteht - wie oben ausgeführt - weder die Möglichkeit internen Schutzes nach § 3e AsylVfG, da die Verfolgung landesweit droht, noch bietet der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, wirksamen Schutz vor der drohenden Verfolgung, vgl. § 3d AsylVfG.

Zwar ist der Kläger nicht vorverfolgt ausgereist, so dass ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG (QualifRL) nicht zu Gute kommt. Das Gericht sieht es hier aber auch ohne Vorverfolgung als hinreichend erwiesen an, dass dem Kläger bei der Rückkehr in sein Heimatland eine Verfolgung wegen seiner sexuellen Orientierung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. zu den Grundsätzen BVerwG U.v. 29.11.1977 - 1 C 33.71 - juris). Dass der Kläger im Irak wegen seiner Homosexualität bislang nicht verfolgt worden, erklärt sich damit, dass er diese sexuelle Neigung in seinem Heimatland geheim gehalten hat. Dies kann jedoch - wie oben bereits ausgeführt - nicht (mehr) von ihm verlangt werden, so dass nun bei einer Rückkehr in den Irak die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wegen seiner Homosexualität besteht. Es ist dem Kläger nicht zuzumuten, unter diesen Umständen in den Irak zurückzukehren.

Damit ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylVfG zuzuerkennen. [...]