VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 07.08.2014 - M 15 K 12.30207 - asyl.net: M22176
https://www.asyl.net/rsdb/M22176
Leitsatz:

Die Verwertbarkeit einer anonymen Sprach- und Textanalyse ist fraglich. Chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit, die illegal aus China ausreist sind, einen Asylantrag gestellt haben und an Aktionen für die Freiheit Tibets in Deutschland teilgenommen haben, werden in China verfolgt.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, China, Tibeter, Tibet, Exilpolitik, Asylantrag, Sprachanalyse, Sachverständigengutachten, Sprache, unerlaubte Ausreise, illegale Ausreise,
Normen: AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Kläger chinesische Staatsangehörige sind. An ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit bestehen keine Zweifel. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger eine andere als die chinesische Staatsangehörigkeit haben, denn selbst die im Exil lebenden Tibeter besitzen in der Regel die chinesische Staatsangehörigkeit (vgl. hierzu auch das von den Klägerbevollmächtigten In Auszug vorgelegte Urteil der Asylrekurskommission der Schweiz vom 30.11.2004 - 2005/1-001, Leitsatz Nr. 2 und Nr. 4 der Entscheidungsgründe). Das Gericht ist aber nach den Gutachten von Frau Prof. Dr. Maurer vom jeweils 20. Mai 2014 auch davon überzeugt, dass die Kläger keine Exil-Tibeter sind, sondern tatsächlich - wie von ihnen angegeben -- aus der Provinz Nyelham (Nyalam) stammen, die zum Regierungsbezirk Shigatse (Xigaze) gehört, der wiederum in der autonomen Region Tibet in China (Zentraltibet) liegt (http://de.wikepedla.org/wiki/Xigaz%C3%AA).

Entgegen der Auffassung der Beklagten sind diese Gutachten auch als Entscheidungsgrundlage geeignet. Die hiergegen von der Beklagten vorgebrachten Einwände greifen nicht durch.

Dass die Gutachterin nicht explizit feststellt, dass die Kläger aus Zentraltibet/China kommen, sondern nur, dass die sprachliche Analyse sehr dafür spreche und eine Herkunft aus Nepal oder Indien eher auszuschließen sei, lässt nicht den Rückschluss zu, dass sich die Gutachterin unsicher ist. Eine solche vorsichtige Formulierung entspricht vielmehr der wissenschaftlichen Arbeitsweise, ein Ergebnis nicht als sicher zu bezeichnen, solange es nicht bewiesen ist. Ein Sprach- oder ethnologisches Gutachten kann wohl nie mit letzter Sicherheit die Herkunft von Personen aus einer bestimmten Region beweisen, sondern nur feststellen, dass die Analysen auf eine bestimmte Herkunftsregion hindeuten, wie dies hier geschehen ist. Da Frau Prof. Dr. Maurer eine Herkunft der Kläger aus dem Exil in Nepal oder Indien "eher" ausschließt, weil die Kläger keinerlei Lehnworte aus Hindi, Nepali oder dem Englischen verwenden würden und auch deren Sprechweise keine Auffälligkeiten eines ost- oder westtibetischen Dialekts aufweise, geht das Gericht davon aus, dass die Kläger - wie von ihnen angegeben - aus dem autonomen Gebiet Tibet der Volksrepublik China (Zentraltibet) stammen.

Die Gutachten von Frau Prof. Dr. Maurer sind in sich schlüssig und nachvollziehbar. Es besteht auch kein Grund, an der Qualifikation der Gutachterin und/oder an deren Unparteilichkeit zu zweifeln. Sie ist Professorin für Tibetologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit Forschungsschwerpunkt auf der modernen tlbetischen Sprache.

Die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholte Sprach- und Textanalyse eines namentlich nicht bekannten Urhebers, die vor dem Hintergrund der Anfrage "behauptetes Herkunftsland: China/Tibet, vermutete Herkunft Nepal, Butan etc." zu dem Ergebnis kommt, dass die Kläger mit Sicherheit sowohl aus Nepal als auch aus Indien stammen, während eine Herkunft aus Tibet/China unwahrscheinlich sei, ist damit widerlegt. Abgesehen davon ist das Ergebnis dieser Analyse auch in sich schon nicht schlüssig. Wie bereits im Beschluss des Gerichts vom 3. April 2012 (Az. M 15 S 12.30208) im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes unter Hinweis auf die hierzu ergangene Rechtsprechung ausgeführt wurde, ist darüber hinaus auch die Frage der Verwertbarkeit solcher anonymer Gutachten umstritten.

Die von Frau Prof. Dr. Maurer in ihren Gutachten angenommene Herkunft der Kläger aus Tibet/China wird auch nicht dadurch widerlegt, dass in der von der Beklagten eingeholten Sprach- und Textanalyse ausgeführt wird, die Kläger hätten zur ihrer Herkunftsregion nur lückenhafte Angaben gemacht, die auch aus allgemein zugänglichen Quellen stammen könnten. Da die Kläger von der Tonbandaufzeichnung für die Textanalyse erst ca. 2 Wochen vorher verständigt wurden und es auch zu der von ihnen angegebenen Herkunftsregion nicht viele allgemein zugängliche Quellen gibt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Kläger dieses Wissen vor der von der Beklagten eingeholten Text- und Sprachanalyse angeeignet hätten. Gleiches gilt für die Befragung der Kläger durch die vom Gericht beauftragte Gutachterin. Abgesehen davon wird in dem Gutachten von Frau Prof. Dr. Maurer auch ausgeführt, dass die Schreibkenntnisse des Klägers zu 1 denjenigen entsprechen würden, die ein Tibeter in Tibet mit drei Jahren Schulbildung (wie vom Kläger zu 1 angegeben) aufweist, und dass die Antworten beider Kläger zu ihrer Ernährungsweise der traditionellen Ernährungsweise der Tibeter entsprechen würden. Daher hat das Gericht keine Zweifel daran, dass die Kläger aus Tibet/China stammen.

Dem steht auch nicht entgegen, dass nach Einschätzung der Beklagten die Angaben der Kläger zum Reiseweg unglaubwürdig sind. Diese Einschätzung teilt das Gericht im Hinblick auf die im Internet veröffentlichten Klimatabellen zu Tibet und Nepal einerseits und die Ausführungen der Klägerbevollmächtigten zu den Fluchtrouten aus Tibet sowie den dortigen klimatischen Verhältnissen (Schreiben vom 9. November 2011 an die Beklagte) andererseits nicht.

Als chinesischen Staatsangehörigen mit tibetischer Volkszugehörigkeit, die illegal aus China ausgereist sind, Asylantrag gestellt haben und an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland teilgenommen haben, wie die vorgelegten Fotos der Mahnwache für Tibet am 1. April 2011 zeigen, droht den Klägern die beachtliche Gefahr einer politischen Verfolgung durch den chinesischen Staat (vgl. z.B. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China, Stand Mai 2013, Seiten 14 und 15; so auch VGH BW, U.v. 3.11.2011 - A 8 S 1116/11 - juris; VG Augsburg, U.v. 16.5.2013 - Au 2 K 13.30117 - juris; VG Stuttgart, U.v. 20.2.2012 - A 11 K 4225/11 - juris; im Ergebnis wohl auch BayVGH, B.v. 10.7.2008 - 2 ZB 08.30591). Die exilpolitischen Aktivitäten chinesischer Staatsangehöriger werden nachrichtendienstlich überwacht (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage In der Volksrepublik China, Stand Mai 2013, Seiten 9 und 10; VG Augsburg, a.a.O.). Aktivitäten, welche aus Sicht der chinesischen Regierung geeignet sind, die Einheit des Landes zu gefährden, werden den chinesischen Behörden zur Kenntnis gebracht. Es ist also davon auszugehen, dass den chinesischen Behörden bekannt ist, dass sich die Kläger für ein freies Tibet engagieren, was zur Folge hat, dass sie als Separatisten eingestuft werden. Gegen separatistische Kräfte oder auch nur mutmaßlich separatistische Kräfte gehen die chinesischen Behörden mit besonderer Härte vor (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage In der Volksrepublik China, Stand Mai 2013, Seiten 17).

Beispielsweise wurde nach einem Bericht der Staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua vom 20. November 2007 ein tibetischer Nomade zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er öffentlich die Rückkehr des Dalai Lama gefordert hatte; ein Mönch und ein Lehrer wurden für den Versuch, Bilder und Informationen über den Vorfall ins Ausland zu senden, zu 9 bzw. zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach den Olympischen Spielen im Jahr 2008 wurde die Praxis sogar noch verschärft (vgl. den Bericht der Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 28. Januar 2009: "China, Situation der ethnischen und religiösen Minderheiten").

Auch das heimliche Überschreiten der Grenze ist strafbar (§ 322 des chinesischen Strafgesetzbuchs). Gleiches gilt für die Stellung eines Asylantrags Im Ausland. Bei Tibetern besteht insoweit die Gefahr, dass dies härter geahndet wird als in anderen Landesteilen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. Juli 2011 an das VG Stuttgart). Auch ist eine willkürliche Verhängung härterer Strafen auf der Grundlage von Tatbeständen wie Terrorismus, Gefährdung der Staatssicherheit etc. nicht auszuschließen (Auskunft des Auswärtigen Amtes a.a.O.). [...]