VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.01.2002 - 10 S 777/01 - asyl.net: M2216
https://www.asyl.net/rsdb/M2216
Leitsatz:

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.v. § 48 Abs. 1 AuslG (i.V.m. § 48 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AuslG) können auch dann vorliegen, wenn ein Ausländer eine Vielzahl von Straftaten begangen hat, die zwar nicht einzeln, aber in ihrer Gesamtheit, insbesondere unter Berücksichtigung von Häufigkeit und Kontinuität, die gesteigerten Anforderungen an Ausweisungsanlass und Wiederholungsgefahr im Rahmen dieser Bestimmung erfüllen.

 

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Asylbewerber, Folgeantrag, Ausweisung, Straftäter, Regelausweisung, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Gemeinschaftlicher Diebstahl, Urkundenfälschung, Zuwiderhandlung gegen räumliche Aufenthaltsbeschränkung, Besonderer Ausweisungsschutz, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, Wiederholungsgefahr
Normen: AuslG § 47 Abs. 2; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1; AuslG § 48 Abs. 1 S. 2; AuslG § 48 Abs. 3 S. 1; AuslG § 48 Abs. 3 S. 2 Nr. 1
Auszüge:

Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.v. § 48 Abs. 1 AuslG (i.V.m. § 48 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AuslG) können auch dann vorliegen, wenn ein Ausländer eine Vielzahl von Straftaten begangen hat, die zwar nicht einzeln, aber in ihrer Gesamtheit, insbesondere unter Berücksichtigung von Häufigkeit und Kontinuität, die gesteigerten Anforderungen an Ausweisungsanlass und Wiederholungsgefahr im Rahmen dieser Bestimmung erfüllen.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts konnte die Ausweisung des Klägers ohne die in § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG genannte Bedingung ausgesprochen werden, da die Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AuslG erfüllt sind. Denn die Straftaten des Klägers stellen einen Sachverhalt dar, der nach § 48 Abs. 1 AuslG eine Ausweisung wegen Vorliegens schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtfertigt.

Hierbei ist zunächst festzustellen, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auch dann vorliegen können, wenn ein Ist- Ausweisungstatbestand nach § 47 Abs. 1 AuslG (i. V. m. § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG) - wie vorliegend - nicht erfüllt ist. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 48 Abs. 1 S. 2 AuslG durch Änderungsgesetz 1997, wonach schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 AuslG vorliegen, die Bewertung anderer Umstände als schwerwiegende Gründe im Sinne des § 48 Abs. 1 AuslG ausschließen wollte. Vielmehr hat der Gesetzgeber damit zum Ausdruck gebracht, dass allein das Erfüllen der Tatbestände von § 47 Abs. 1 AuslG grundsätzlich bereits für die Annahme schwerwiegender Gründe ausreichend ist und damit auch die Ausweisung von Ausländern, denen besonderer Ausweisungsschutz zukommt, gerechtfertigt ist. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG - ein Regelfall nach § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG scheidet vorliegend aus - sind dann anzunehmen, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat (BVerwG, Beschl. v. 19.08.1993, InfAuslR 1994, 98; Beschl. v. 10.01.1995, InfAuslR 1995, 194).

Die Annahme schwerwiegender Gründe im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG setzt bei einer - wie hier - spezialpräventiv motivierten Ausweisung zweierlei voraus (vgl. zum Folgenden insbesondere BVerwG, Beschl. v. 10.01.1995, a.a.O.; Urt. v. 11.06.1996, BVerwGE 101, 247 = NVwZ 1997, 297 = DVBI. 1997, 170 = InfAuslR 1997, 8; Urt. v. 16.11.1999, a.a.O.): Zum einen muss dem Ausweisungsanlass besonderes Gewicht zukommen, das sich aus den konkreten Umständen der jeweils in Frage stehenden Verhaltensweisen des Betroffenen - bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit - ergibt. Danach können die Fälle mittlerer und schwerer Kriminalität, insbesondere schwere Gewalttaten, einen schwerwiegenden Ausweisungsanlass darstellen, nicht jedoch die mehr lästigen als gefährlichen oder schädlichen Unkorrektheiten des Alltags, Ordnungswidrigkeiten, Bagatellkriminalität und ganz allgemein die minder bedeutsamen Verstöße gegen Strafgesetze.

Zum anderen sind gesteigerte Anforderungen an die Einschätzung der von dem Ausländer in Zukunft ausgehenden Gefahren zu stellen. Es müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und somit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Die hiernach gebotene, gesteigerten Anforderungen Rechnung tragende Wahrscheinlichkeitsprognose ist auch dann nicht von vorneherein oder in der Regel entbehrlich, wenn der Ausländer - wie vorliegend - einen Regelausweisungstatbestand nach § 47 Abs. 2 AuslG erfüllt. Die Beurteilung der Wiederholungsgefahr bestimmt sich u.a. nach der Schwere der Delikte, der Art und Höhe der Strafen, dem Unrechtsgehalt der Straftaten sowie dem sonstigen Verhalten des Ausländers unter Würdigung seiner Gesamtpersönlichkeit (BVerwG, Beschl. v. 10.02.1995, a.a.O.).

In Anwendung dieser Grundsätze bejaht der Senat - anders als das Verwaltungsgericht - das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Person des Klägers. Er hat seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland kontinuierlich und beharrlich eine Vielzahl von Straftaten begangen. Insgesamt wurde der Kläger bislang 12 mal strafrechtlich verurteilt. Die jeweiligen Vorverurteilungen haben ihn offensichtlich völlig unbeeindruckt gelassen. Der Senat hat festgestellt, dass sich die vom Kläger begangenen strafrechtlichen Verfehlungen nicht in den in der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung aufgeführten Verurteilungen erschöpfen. Die von ihm eingeholte Auskunft aus dem Bundeszentralregister führt eine weitere Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht Offenburg vom 14.09.1994 wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Verstoß gegen das Asylverfahrensgesetz auf, die mit einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen zu je 10 DM geahndet wurde.

Des Weiteren hat sich die Vermutung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigt, dass sich der Kläger aufgrund der verbüßten Haftstrafe nun an Recht und Ordnung halten werde. Wie dem Auszug aus dem Bundeszentralregister weiter zu entnehmen ist, wurde der Kläger zwischenzeitlich erneut straffällig. Durch Urteil des Amtsgerichts Waiblingen vom 06.11.2000 wurde er wegen fahrlässigen Gebrauchs eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 Tagessätzen zu je 10 DM verurteilt.

Die Annahme des Vorliegens schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gründet sich jedoch nicht allein auf die beharrliche Missachtung der Strafrechtsordnung in einer Vielzahl von Fällen. Vielmehr trifft diese Beurteilung - bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung - auch für die einzelnen Straftaten selbst zu. Insoweit hebt das Verwaltungsgericht zu Recht hervor, dass es sich bei der Straftat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, wegen der der Kläger insgesamt viermal verurteilt wurde, keinesfalls um ein Bagatelldelikt handelt.

Der Kläger hat gegen diese Strafrechtsnorm mehrfach verstoßen und damit wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass er sich über Vorschriften zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer bedenkenlos hinwegsetzt. Auch die bislang letzte Straftat des Klägers, der Verstoß gegen § 6 PflVG wegen Gebrauchs eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag, stellt keine bloß lästige Unkorrektheit des Alltags dar, wie sich aus dem Strafrahmen ergibt, der auch die Freiheitsstrafe mit einschließt, sowie daraus, dass die Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung das oftmals existenzbedrohende finanzielle Risiko anderer Verkehrsteilnehmer bei Verkehrsunfällen abdecken will. Ebenso wenig zu den Bagatelldelikten sind die Straftaten des gemeinschaftlichen Diebstahls und der Urkundenfälschung zu zählen, wegen derer der Kläger jeweils wiederholt verurteilt wurde. Auch diese Straftaten zeigen die beachtliche kriminelle Energie des Klägers hinreichend deutlich auf. Diese kommt schließlich auch in der bisher fünfmaligen Verurteilung des Klägers wegen wiederholter Zuwiderhandlung gegen eine räumliche Aufenthaltsbeschränkung der Aufenthaltsgestattung zum Ausdruck. Zwar mag der einmalige Verstoß gegen § 85 Nr. 2 AsylVfG von eher geringerem Gewicht sein. Aber auch hier zeigt die Häufigkeit, dass der Kläger zu einer der Rechtsordnung entsprechenden Verhaltensänderung offenbar nicht gewillt ist.

Liegen sonach in Würdigung der gesamten Umstände schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Person des Klägers vor (48 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AuslG), konnte bei der Ausweisung des Klägers trotz seines Asyl(Folge)-Antrags von der in § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG genannten Bedingung abgesehen werden.