BAMF

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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 27.05.2014 - 5549332-423 - asyl.net: M22128
https://www.asyl.net/rsdb/M22128
Leitsatz:

Rückkehrern ohne familiäres Netzwerk, welches in der Übergangszeit nach der Rückkehr behilflich sein könnte, wieder Fuß zu fassen und auch vorübergehend bei der Erwirtschaftung des Existenzminimums unterstützen könnte, droht Verelendung in Afghanistan, wenn es nicht gelingt alsbald eine Erwerbsarbeit zu finden.

Schlagwörter: Afghanistan, Kabul, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Wohnraum, familiäres Netzwerk, familiärer Rückhalt, Existenzminimum, erhebliche individuelle Gefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Islamischen Republik Afghanistan führen zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegt.

Die Gesamtschau der vorliegenden Informationen gibt hinsichtlich der Versorgungslage ein differenziertes Bild. Einerseits profitiert gerade Kabul vom Wiederaufbau und den Versorgungsleistungen durch die internationale Gemeinschaft, andererseits steht die Stadt durch die enorm hohe Anzahl von Rückkehrern vor dem Problem der adäquaten Versorgung. Während ein Teil der Rückkehrer die Möglichkeit hat, etwa im aufstrebenden Bausektor oder durch selbstständige Arbeit ein Auskommen zu finden, sind andere auf ein Leben ohne gesicherte Einkommensquelle am Rande des Existenzminimums in behelfsmäßigen Flüchtlingslagern oder informellen Siedlungen angewiesen.

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sei die Grundversorgung für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Das World Food Programme reagiere das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 04.06.2013, Stand März 2013, Gz.: 508-516.80/3 AFG). Die Versorgung mit Nahrungsmitteln dürfte für das Jahr 2014 grundsätzlich gesichert sein (vgl. Famine Early Warning Systems Network: Afghanistan Food Security Outlook January 2014 to June 2014, www.fews.net). In den Städten ist der Zugang zu Nahrungsmitteln generell kein Problem. In Kabul sind sie auch für den Großteil der Einwohner bezahlbar. Zusätzlich wird hier von Moscheen Gratisnahrung für Bedürftige verteilt. Daneben existieren verschiedene Hilfsprogramme, auch Rückkehrer bekommen Nahrungsmittelrationen (vgl. Bundesasylamt: Bericht zur Fact Finding Mission, Wien, Dezember 2010, S. 54 ff.). Die meisten der unfreiwilligen Rückkehrer melden sich jedoch nicht bei den Hilfsorganisationen (Dr. Danesch, Mostafa (03.09.2013): Gutachten an den VGH Kassel, Az.: 8 A 119/12.A). Fälle, in denen Rückkehrer aus Europa infolge Hunger oder Mangelernährung verstorben seien, sind nicht bekannt (vgl. Dr. Danesch, Mostafa a.a.O.; Auswärtiges Amt (13.08.2013): Auskunft an den VGH Kassel, Gz.: 508-9516.80/47764).

Die medizinische Versorgung ist trotz erkennbarer Verbesserungen aufgrund ungenügender Verfügbarkeit von Medikamenten, Geräten, Ärzten und mangels ausgebildeten Hilfspersonals landesweit immer noch unzureichend. In Kabul besteht jedoch für afghanische Staatsangehörige mit guten Kontakten zum ausländischen Militär oder Botschaften, die Möglichkeit, sich in Militärkrankenhäusern der ausländischen Truppen behandeln lassen. Die Militärkrankenhäuser können Zivilisten allerdings nur in beschränktem Maße aufnehmen. Weiterhin können im "French Medical Institute" und dem Deutschen Diagnostischen Zentrum Patienten einschließlich Kinder auch mit komplizierteren Krankheiten behandelt werden (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.03.2014, Stand Februar 2014, Gz.: 508-516.80/3 AFG). Es existiert daneben eine gewisse medizinische Grundversorgung und die Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern ist grundsätzlich kostenfrei. Medikamente müssen im Bedarfsfall allerdings gekauft werden, sofern sie verfügbar sind. Sie sind trotz hoher Preise für die Mehrzahl der Bevölkerung erschwinglich. Ein Großteil der Medikamente kommt jedoch aus Pakistan und ist meist von schlechter Qualität. Letztendlich ist die medizinische Versorgung eine Frage des Geldes (vgl. Bundesasylamt: Bericht zur Fact Finding Mission, Wien, Dezember 2010, S. 49 ff.).

Die Versorgung mit Wohnraum ist ungenügend. Obwohl das Auswärtige Amt seit dem Lagebericht vom 04.06.2013 hierzu keine Ausführungen mehr macht, ist weiterhin davon auszugehen, dass das Angebot an Wohnraum knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich ist (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 10.01.2012, Stand Januar 2012, Gz.: 508-516.80/3 AFG). Nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen leben über 30.000 Menschen in 45 informellen Siedlungen in und um Kabul (vgl. UN General Assembly, The Situation in Afghanistan and its implications for international peace and security: Report of the Secretary-General vom 01.03.2012, Az.: A/66/728-S/2012/133). Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes komme es im Winter gelegentlich vor, dass Personen, die keine winterfeste Bleibe hätten oder in informellen Siedlungen für Binnenvertriebene unterkämen, erfrieren oder verhungern. Hierbei handele es sich zumeist um Säuglinge und Kleinkinder. Dass Personen in der Hauptstadt Kabul außerhalb der informellen Siedlungen verhungerten oder verdursteten, erscheine unwahrscheinlich (vgl. Auswärtiges Amt (13.08.2013): Auskunft an den VGH Kassel, Gz.: 508-9516.80/47764).

Obwohl durchaus positive Tendenzen festzustellen sind, ist die Wirtschaftslage weiterhin schwierig und Afghanistan bleibt eines der ärmsten Länder der Welt. Die Arbeitslosenrate bzw. die Zahl der Unterbeschäftigten oder derjenigen, die lediglich im Familienbetrieb aushelfen, ist weiterhin sehr hoch. Insbesondere in den Provinzen sind Arbeitsmöglichkeiten sehr begrenzt. Andererseits mangelt es in allen Sparten an ausgebildeten Facharbeitern und Akademikern. Die Möglichkeit, eine legale und nachhaltige Erwerbsmöglichkeit zu finden, ist für Personen, die weder über besondere Qualifikationen noch über Beziehungen verfügen, gering. Diese Personen sind darauf angewiesen, durch Gelegenheitsarbeiten, etwa im Bausektor, ein geringes Einkommen zu erwirtschaften. Eine Unterstützung durch Hilfsorganisationen ist nicht gesichert und i.d.R. nur zeitlich befristet. Hinzu kommt, dass nach Berechnungen der International Labour Organisation (ILO) aufgrund der afghanischen Bevölkerungsstruktur in Zukunft pro Jahr 400.000 Afghanen auf den Arbeitsmarkt kommen werden. Es fehlt an einer politischen Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen (vgl. Dr. Bernt Glatzer, Gutachten vom 31.01.2008 für OVG Koblenz; Peter Rieck, Gutachten vom 15.01.2008 für OVG Koblenz, Dr. Lutze, Gutachten vom 08.06.2011 an OVG Koblenz; Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan 31.03.2014, Stand Februar 2014, Gz.: 508-516.80/3 AFG).

Aus den vorliegenden Erkenntnissen folgt, dass es Bevölkerungsteile gibt, die Schwierigkeiten bei der Versorgung haben. Es gibt zwar einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung, insbesondere in Kabul, an dem aber nicht alle Bewohner gleichermaßen teilhaben. Insbesondere mittellose Rückkehrer müssen häufig ein Leben am Rande des Existenzminimums führen. Anzeichen dafür, dass die humanitären Bedingungen bei einer Rückkehr nach Afghanistan für den Antragsteller als derart schlecht zu bewerten wären, dass diese den Schweregrad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK aufweisen, gibt es aber nicht.

Aufgrund der individuellen Umstände des Antragstellers ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedoch davon auszugehen, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöht und deswegen ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

Dem Antragsteller kann gegenwärtig nicht überzeugend widerlegt werden, dass er in seinem Heimatland Afghanistan nicht mehr über nennenswerte Verwandtschaft verfügt. Ein familiäres Netzwerk, welches ihm in der Übergangszeit nach einer Rückkehr in sein Heimatland behilflich sein könnte, wieder Fuß zu fassen und ihn auch vorübergehend bei der Erwirtschaftung seines Existenzminimums unterstützen könnte, ist somit nicht vorhanden. Es ist damit beachtlich wahrscheinlich, dass der Antragsteller, der sich bereits seit Ende 2011 außerhalb seines Heimatlandes befindet, alsbald nach seiner Einreise in sein Heimatland der Verelendung preisgegeben wäre, da er außer Stande sein würde, eine Erwerbsarbeit zu finden, welche ihm die Deckung seines Wohnbedarfs an Nahrungsmittel und Wohnraum ermöglichen würde. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG war damit zu zu erkennen. [...]