VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 25.03.2014 - 6 B 72/14 - asyl.net: M22112
https://www.asyl.net/rsdb/M22112
Leitsatz:

Die finanzielle Ausstattung des Gesundheitssystems in Bosnien-Herzegowina ist unzureichend. Das partielle Versagen der staatlichen Institutionen insbesondere im Gesundheitssystem führt immer wieder zu Gefahren für das Leben und die Gesundheit kranker Menschen. Besondere Probleme bis hin zur Verweigerung der Gesundheitsfürsorge können für nicht arbeitsfähige Personen entstehen.

Schlagwörter: psychische Erkrankung, Bosnien-Herzegowina, medizinische Versorgung, Gesundheitswesen, erhebliche individuelle Gefahr, Gefahr für Leben und Gesundheit, Medikamente, Epilepsie, Krankenversicherung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn er dort einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt ist. Auch die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlechtert, kann einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift begründen. Dies setzt voraus, dass die dem Ausländer deswegen drohende Gefahr erheblich ist, sein Gesundheitszustand sich also wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde (vgl. BVerwG, U. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383, 387). Die Gefahr kann sich aus fehlenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Abschiebung ergeben, aber auch aus allen anderen zielstaatsbezogenen Umständen, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Ein Abschiebungsverbot kann daher auch dann entstehen, wenn der Ausländer aus persönlichen Gründen keinen Zugang zu einer im Zielstaat an sich möglichen medizinischen Versorgung erhalten wird, weil er diese beispielsweise nicht finanzieren kann (vgl. BVerwG, U. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33, 39). Unter Anwendung dieser Grundsätze begegnet es gegenwärtig ernstlichen Zweifeln, dass das Bundesamt ein Abschiebungsverbot abgelehnt hat (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG). Aus den vorliegenden ärztlichen Attesten ergeben sich in Verbindung mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnissen über gravierende Defizite der medizinischen Versorgung in Bosnien und Herzegowina erhebliche Gründe dafür, an der Richtigkeit der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung zu zweifeln.

Zur Behandlung psychisch Kranker fehlt es in Bosnien und Herzegowina weitgehend an ausreichend qualifiziertem Personal. Therapien beschränken sich überwiegend auf Medikamentengaben. Die bestehenden psychiatrischen Anstalten verfügen nicht über genügende Kapazitäten und die erforderliche Qualität der Behandlungen (s. zu allem Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 18.10.2013, S. 26; vgl. auch Deutsche Botschaft Sarajewo, Auskunft v. 02.07.2012 an das Bundesamt). Insgesamt ist die finanzielle Ausstattung des Gesundheitswesens unzureichend (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 25). Das partielle Versagen der staatlichen Institutionen, insbesondere im Bereich des Gesundheitssystems, führt immer wieder zu Gefahren für das Leben und die Gesundheit kranker Menschen. So sind zum Teil sogar Berufstätige oder auch regulär arbeitslos Gemeldete mit vorheriger Beschäftigung, die nach geltender Rechtslage eigentlich pflichtversichert wären, nicht bei der Sozialversicherung gemeldet, weil derzeitige oder ehemalige Arbeitgeber ihren Anmeldepflichten nicht nachgekommen sind. Dies hat zur Folge, dass die Betroffenen im Falle einer Erkrankung weder kostenlos noch mit angemessener Selbstbeteiligung behandelt werden (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 12). Nach Schätzungen des Helsinki-Komitees haben etwa 60 % der Bevölkerung, darunter auch Kinder, keinen Zugang zu einer regelmäßigen Gesundheitsvorsorge (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 24). Besondere Probleme bis hin zur Verweigerung der Gesundheitsfürsorge können für nicht arbeitsfähige Personen entstehen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.). Die jährlich zu aktualisierenden kantonalen Listen der Pflichtarzneimittel, also der Medikamente, die ständig verfügbar und für die Patienten weitgehend kostenlos zu beziehen sind, existieren in manchen Kantonen nicht. Daher müssen viele Patienten den vollen Preis für ihre Medikamente zahlen (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 26). Selbst wenn die Krankenversicherung grundsätzlich die Kosten übernimmt, kann eine finanzielle Selbstbeteiligung der Erkrankten erforderlich werden, die je nach Kanton, Behandlung und Krankheitsbild unterschiedlich hoch ist (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 24; zu allem bereits VG Braunschweig, B. v. 26.03.2012 - 6 B 61/12 -, www.rechtsprechung.niedersachsen.de = juris Rn. 10).

Unter Berücksichtigung dieser Sachlage kann gegenwärtig nicht mit der für die Ablehnung eines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlichen hohen Gewissheit angenommen werden, dass den Antragstellerinnen zu 3. und zu 1. kein Anspruch auf Abschiebungsschutz wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen zusteht (zum Prüfungsmaßstab s. Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 36 Rn. 167, 163 m.w.N.).

Nach mehreren im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen leidet die Antragstellerin zu 3. unter Epilepsie. Nach dem Attest der Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin ..., Gifhorn, vom 25. Februar 2014 muss sie aufgrund ihrer Erkrankung regelmäßig das Medikament Valpro Beta 300 einnehmen. Unter dem Medikament ist die Antragstellerin laut Bescheinigung der Fachärztin vom 11. März 2014 anfallfrei geblieben; die regelmäßige Einnahme des Medikaments sei "zur Sicherung einer regelrechten kognitiven Entwicklung erforderlich". Zur Überprüfung des Krankheitsverlaufs seien darüber hinaus regelmäßige Untersuchungen in Form von EEG und Blutspiegelkontrollen notwendig. Anhaltspunkte dafür, dass die Ausführungen der Fachärztin über den Behandlungsbedarf der Antragstellerin zu 3. fachlich nicht haltbar sind oder nicht den Tatsachen entsprechen, gibt es derzeit nicht. Nach dem vorliegenden Erkenntnismaterial kann aber angesichts des mangelhaften Gesundheitssystems in Bosnien und Herzegowina schon eine behandlungsbedürftige Erkrankung genügen, um den Erkrankten im Fall einer Rückkehr erheblichen und konkreten Gefahren für Leib oder Leben auszusetzen (ebenso bereits VG Braunschweig, a.a.O., Rn. 10 f.). Zwar ist nach den vorliegenden Attesten noch nicht vollständig geklärt, ob es alsbald zu einer wesentlichen oder lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes kommen würde, wenn die Antragstellerin das Medikament nicht mehr einnehmen könnte bzw. die Kontrolluntersuchungen nicht durchführbar wären. Außerdem ist nicht klar, ob die erforderliche Behandlung bzw. Medikation in Bosnien und Herzegowina für die Antragstellerin zu 3. verfügbar, insbesondere finanzierbar wäre. Jedenfalls gibt es nach dem vorliegenden Erkenntnismaterial und den fachärztlichen Bescheinigungen aber gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragstellerin bei Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina aufgrund unzureichender Behandlung ihrer Erkrankung erhebliche Gefahren drohen. Die eingehende Prüfung und gegebenenfalls weitere Ermittlungen, die voraussichtlich einen erheblichen Zeitrahmen in Anspruch nehmen werden, sind dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Diese Überlegungen gelten entsprechend für die Antragstellerin zu 1. Sie leidet nach den vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen unter einer Depression, die medikamentös behandelt wird und zu einer Überweisung in die Psychiatrie geführt hat (Überweisungsschein v. 03.03.2014). Außerdem liegen Bescheinigungen vor, die auf eine chronische Bronchitis und die Notwendigkeit einer Blutdrucktherapie hindeuten. Wird einem Ausländer eine Depression bescheinigt, so führt dies zwar grundsätzlich nicht zwingend zu einem Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG (vgl. VG Braunschweig, U. v. 28.03.2006 - 6 A 446/04 - und v. 28.11.2006 - 6 A 589/05 - m.w.N.). Hier ergeben sich nach gegenwärtigem Sachstand aber gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass ein Ausnahmefall vorliegt. Auf ein möglicherweise schwerwiegendes Krankheitsbild weist schon die Tatsache hin, dass die Antragstellerin in die Psychiatrie überwiesen wurde und wegen ihrer psychischen Erkrankung laut Überweisungsschein seit Jahren Medikamente einnimmt. Darüber hinaus liegt nahe, dass auch die weiteren Erkrankungen behandlungsbedürftig sind, zumindest aber die Einnahme von Medikamenten erfordern. Inwieweit sich daraus im Fall einer Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina konkrete Gefahren für Leib oder Leben der Antragstellerin zu 1. ergeben, ist durch weitere Ermittlungen im Hauptsacheverfahren aufzuklären.

Das Bundesamt kann sich demgegenüber auch nicht mit Erfolg darauf berufen, durch die vorgelegten ärztlichen Unterlagen aus dem Heimatland werde bestätigt, dass die Antragstellerinnen "ärztlich und medikamentös" behandelt worden seien; Anhaltspunkte dafür, dass die Behandlungen nicht ausgereicht hätten, gebe es nicht. Diese Überlegungen berücksichtigen nicht hinreichend, dass die Antragstellerin zu 1. schon im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt deutlich gemacht hat, sie habe die hohen Kosten für die Medikamente ihrer Tochter letztlich nicht mehr finanzieren können. Im Übrigen ist durch die vorliegenden Unterlagen aus dem Heimatland der Antragstellerinnen nicht belegt, dass künftig die zur Abwehr konkreter Gefahren erforderlichen Behandlungen und Medikationen auch finanziell sichergestellt sind. Zweifel ergeben sich insoweit auch aus dem zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterial. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich nur durch weitere Ermittlungen klären. [...]