EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 17.07.2014 - C?481/13, Qurbani gegen Deutschland - asyl.net: M22110
https://www.asyl.net/rsdb/M22110
Leitsatz:

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Oberlandesgericht Bamberg in der Rechtssache C-481/13 mit Entscheidung vom 29. August 2013 zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig.

Schlagwörter: unerlaubte Einreise, Schleuser, Fluchthelfer, gefälschte Ausweisdokumente, gefälschte Ausweispapiere, Urkundenfälschung, Strafbefreiung, Strafbarkeit, Zuständigkeit, Genfer Flüchtlingskonvention,
Normen: GFK Art. 31, AEUV Art. 78, GR-Charta Art. 18, RL 2004/83/EG Art. 14 Abs. 6,
Auszüge:

[...]

Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention dahin auszulegen ist, dass eine Person einerseits in dem Mitgliedstaat, in dem sie Asyl beantragt, für Vergehen im Zusammenhang mit ihrer unerlaubten Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wie insbesondere die unerlaubte Einreise mit Hilfe von Schleusern und die Verwendung eines gefälschten Ausweisdokuments nicht strafrechtlich belangt werden kann und dass sie sich andererseits nicht auf die in diesem Artikel vorgesehene Strafbefreiung berufen kann, soweit sie in das Hoheitsgebiet des besagten Mitgliedstaats über einen anderen Mitgliedstaat der Union gelangt ist.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen wirft zuallererst die Frage nach der Zuständigkeit des Gerichtshofs auf.

Die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission machen insoweit geltend, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der Vorlagefragen, die darauf abzielten, dass der Gerichtshof unmittelbar Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention auslege, so wie sie gestellt seien, nicht zuständig.

Der Gerichtshof kann angesichts der Tatsache, dass die Genfer Flüchtlingskonvention keine Klausel enthält, die ihm eine Zuständigkeit zuweist, eine Auslegung der Bestimmungen – hier Art. 31 – dieser Konvention, um die er ersucht wird, nur vornehmen, wenn eine solche Wahrnehmung seiner Aufgaben von Art. 267 AEUV gedeckt ist (Urteil TNT Express Nederland, C-533/08, EU:C:2010:243, Rn. 58).

Nach ständiger Rechtsprechung erstreckt sich aber die Befugnis zu Auslegungen im Wege der Vorabentscheidung, wie sie sich aus der letztgenannten Vorschrift ergibt, nur auf die Rechtsvorschriften, die zum Unionsrecht gehören (Urteil TNT Express Nederland, EU:C:2010:243, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

In Bezug auf internationale Übereinkünfte steht fest, dass diejenigen, die von der Europäischen Union geschlossen worden sind, integrierender Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und daher Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein können. Dagegen ist der Gerichtshof grundsätzlich nicht dafür zuständig, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens internationale Übereinkünfte auszulegen, die zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten geschlossen worden sind (Urteil TNT Express Nederland, EU:C:2010:243, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

Nur wenn und soweit die Union die Zuständigkeiten übernommen hat, die zuvor von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich einer nicht von der Union geschlossenen internationalen Übereinkunft ausgeübt wurden, und die Bestimmungen dieser Übereinkunft damit für die Union bindend geworden sind, ist der Gerichtshof für die Auslegung einer solchen Übereinkunft zuständig (Urteil TNT Express Nederland, EU:C:2010:243, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im Rahmen der Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wurden zwar mehrere Rechtstexte der Union im Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention angenommen, doch steht im vorliegenden Fall fest, dass bestimmte Zuständigkeiten in diesem Bereich bei den Mitgliedstaaten verblieben sind, insbesondere, was den von Art. 31 dieser Konvention abgedeckten Bereich betrifft. Der Gerichtshof kann daher für eine unmittelbare Auslegung des Art. 31 oder irgendeines anderen Artikels der Genfer Flüchtlingskonvention nicht zuständig sein.

Der Umstand, dass Art. 78 AEUV klarstellt, dass die gemeinsame Politik im Bereich Asyl mit der Genfer Flüchtlingskonvention im Einklang stehen muss, und dass Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union betont, dass das Recht auf Asyl nach Maßgabe dieser Konvention und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge gewährleistet wird, kann die in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung der Unzuständigkeit des Gerichtshofs nicht in Frage stellen.

Auch wenn außerdem, wie bereits in Rn. 71 des Urteils B und D (C-57/09 und C-101/09, EU:C:2010:661) entschieden, ein eindeutiges Unionsinteresse daran besteht, dass zur Vermeidung künftiger Auslegungsdivergenzen die Bestimmungen der internationalen Übereinkünfte, die in das nationale Recht und in das Unionsrecht übernommen worden sind, unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie herangezogen werden, einheitlich ausgelegt werden, ist festzustellen, dass Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Text des Unionsrechts übernommen wurde, obschon mehrere unionsrechtliche Bestimmungen auf ihn Bezug nehmen.

Die Kommission weist insoweit in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2004/83 auf Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention verweise.

Der Gerichtshof hat zwar in den Urteilen Bolbol (C-31/09, EU:C:2010:351) und Abed El Karem El Kott u. a. (C-364/11, EU:C:2012:826) seine Zuständigkeit für die Auslegung derjenigen Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention bejaht, auf die in den Bestimmungen des Unionsrechts verwiesen wird, doch ist festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen keine Vorschrift des Unionsrechts nennt, in der auf Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention verwiesen würde, und insbesondere Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2004/83 nicht erwähnt. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das Vorabentscheidungsersuchen nichts enthält, was die Annahme zuließe, dass die letztgenannte Bestimmung im Rahmen des Ausgangsverfahrens erheblich wäre.

Nach alledem ist die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung von Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention in der vorliegenden Rechtssache nicht gegeben.

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vom Oberlandesgericht Bamberg zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig ist. [...]