EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 17.07.2014 - C-473/13; C-514/13: Bero u.a. gegen Deutschland (= ASYLMAGAZIN 9/2014, S. 314 f.) - asyl.net: M22086
https://www.asyl.net/rsdb/M22086
Leitsatz:

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat auch dann verpflichtet ist, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebungshaft zu nehmen, wenn er föderal strukturiert ist und die nach nationalem Recht für die Anordnung und Vollziehung einer solchen Haft zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, spezielle Hafteinrichtung, Trennungsgebot, Rückführungsrichtlinie, Inhaftierung, Freiheitsentziehung, illegaler Aufenthalt, Abschiebung, Drittstaatsangehörige,
Normen: AufenthG § 62a Abs. 1, RL2008/115/EG Art. 16 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Mit ihren Fragen möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat auch dann verpflichtet ist, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebungshaft zu nehmen, wenn er föderal strukturiert ist und die nach nationalem Recht für die Anordnung und Vollziehung einer solchen Haft zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 den Grundsatz aufstellt, dass die Inhaftierung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, die als solche eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Kamberaj, C-571/10, EU:C:2012:233, Rn. 86).

Wie die deutsche Regierung ausgeführt hat, ist Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 nicht in allen Sprachfassungen gleich formuliert. In der deutschen Fassung lautet diese Bestimmung: "Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht." In den anderen Sprachfassungen nimmt diese Bestimmung keinen Bezug darauf, dass keine speziellen Hafteinrichtungen vorhanden sind, sondern darauf, dass ein Mitgliedstaat die Drittstaatsangehörigen "nicht" in solchen Hafteinrichtungen unterbringen "kann".

Nach Auffassung der deutschen Regierung lassen diese anderen Sprachfassungen des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 den nationalen Behörden größere Spielräume als die deutsche Fassung, so dass die Unmöglichkeit, die betreffenden Drittstaatsangehörigen in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen, auch darauf zurückzuführen sein könne, dass in der föderalen Untergliederung eines Mitgliedstaats, die nach innerstaatlichem Recht für die Vollziehung der Haft zuständig sei, keine spezielle Hafteinrichtung vorhanden sei.

Hierzu ist festzustellen, dass die in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Verpflichtung, die Haft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen, den Mitgliedstaaten als solche obliegt, und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Verwaltungs- oder Verfassungsstruktur.

Die nationalen Behörden, die die zur Umsetzung von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften anzuwenden haben, müssen daher in der Lage sein, die Haft in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen.

Ist die Anwendung der zur Umsetzung von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften in einem Mitgliedstaat den Behörden einer föderalen Untergliederung übertragen, kann es somit keine hinreichende Umsetzung der Richtlinie 2008/115 durch diesen Mitgliedstaat darstellen, wenn die zuständigen Behörden in bestimmten föderalen Untergliederungen über die Möglichkeit verfügen, solche Unterbringungen vorzunehmen, in anderen dagegen nicht.

Diese Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bedeutet aber nicht, dass ein Mitgliedstaat, der wie die Bundesrepublik Deutschland föderal strukturiert ist, verpflichtet wäre, in jeder föderalen Untergliederung spezielle Hafteinrichtungen zu errichten. Es muss jedoch insbesondere durch Vereinbarungen über die Verwaltungszusammenarbeit sichergestellt werden, dass die zuständigen Behörden einer föderalen Untergliederung, die nicht über solche Hafteinrichtungen verfügt, die abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in speziellen Hafteinrichtungen in anderen föderalen Untergliederungen unterbringen können.

Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat auch dann verpflichtet ist, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebungshaft zu nehmen, wenn er föderal strukturiert ist und die nach nationalem Recht für die Anordnung und Vollziehung einer solchen Haft zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt. [...]